Politik
Islam Alijaj: «Wir Menschen mit Behinderungen werden konstant bevormundet»
- Text: Anna Böhler
Der Handicap-Lobbyist Islam Alijaj wurde mit Cerebralparese geboren – eine Bewegungsstörung, die seine Geh- und Sprechfähigkeiten beeinträchtigt. Ein Gespräch über den schneereichen Winter, das Behindertenwesen in der Schweiz und Inklusion.
annabelle: Islam Alijaj, wie haben Sie den Schneesegen im Flachland aus der Perspektive einer Person mit einer körperlichen Behinderung erlebt?
Islam Alijaj: Eigentlich gar nicht – ich war ja eingesperrt. Für uns Menschen mit Behinderungen ist der Winter oft eine riesengrosse Herausforderung. Es wird bei den Schneeräumungen primär darauf geachtet, dass Autos und Fussgänger vom Fleck kommen. Dabei werden Menschen mit eingeschränkter Mobilität vergessen. Ich finde es eine Frechheit, dass man die Strassen räumt und die Trottoirs mit Schnee zuschaufelt. Um die Strasse zu überqueren, hätte ich mich zuerst mit dem Rollstuhl über riesige Schneeberge hieven müssen.
Wie sah die Zeit, in der so viel Schnee lag, demnach bei Ihnen aus?
Meine Kinder waren vom Schnee natürlich hellbegeistert und wollten schlitteln gehen. Für mich war es unmöglich, mit meinem Rollstuhl das Haus zu verlassen. Meine Frau ging dann mit den zwei Kleinen raus und ich musste zuhause bleiben – das frustriert sehr.
«In meiner Pubertät begann ich, mein Schicksal zu akzeptieren. Ich kann meinen Körper nicht ändern. »
Wie gehen Sie mit diesem Frust um?
Ich musste irgendwann lernen, positiv zu denken. Negative Gedanken sind ein Teufelskreis – ist man einmal drin, kommt man kaum wieder davon los. In meiner Pubertät begann ich, mein Schicksal zu akzeptieren. Ich kann meinen Körper nicht ändern. Was ich aber ändern kann, ist, wie die Allgemeinheit von mir denkt. Dass wir bei der Schneeräumung nicht berücksichtigt werden, ist nur ein Symptom eines viel grösseren Problems.
Worauf spielen Sie an?
Auf die Ignoranz, mit der unsere Gesellschaft Menschen mit Behinderungen begegnet.
Können Sie das ausführen?
Wir werden konstant bevormundet. Man hat das weitverbreitete Bild von einer behinderten Person, die ohne Hilfe zu nichts imstande ist. Auch wenn Spenden gesammelt werden, wirbt man zum Beispiel mit Bildern von sabbernden Kindern – man will Mitleid im Betrachter auslösen. Das untermauert das gesellschaftliche Bild des hilflosen Behinderten. Das macht mich wütend. Das Kernproblem ist, dass das Behindertenwesen ausschliesslich von Menschen geführt wird, die nicht mit einer Behinderung leben. Es wäre doch auch absurd, würde der Frauenstreik von einem Mann angeführt, oder? Aber bei einer Behindertenorganisation ist es absolut legitim, weil man einer behinderten Person nicht zutraut, die eigenen Interessen zu vertreten.
«Es sollen die Selbstbetroffenen selbst sein, die ihre Ideen vorantreiben.»
Wie könnte ein Lösungsweg aussehen?
Vor zwei Jahren habe ich den Verein Tatkraft gegründet. Ich habe zusammen mit der Uni Zürich eine Studie lanciert, mit der wir erforschen, welche Hürden und Barrieren eine behinderte Person in der Politik, in den Parteien überwinden muss. Wir wollen Massnahmen für die Parteien erarbeiten. Wir müssen unsere eigenen Interessen vertreten können. Wie will jemand ohne Behinderung für uns sprechen?
Welche Hürden gibt es in der Politik?
Die Parteien argumentieren genau gleich, wie man früher gegen das Frauenstimmrecht argumentierte. Es sei zu aufwendig und zu teuer. Menschen mit Behinderungen wären ausserdem zu wenig informiert und nicht intelligent genug, um ein politisches Amt zu besetzen. Wir sehen heute, was für ein enormer Mehrwert Frauen in der Politik sind. Trotz dieser Erkenntnis gibt es immer noch Menschen, die Vorbehalte gegenüber der Inklusion in der Politik haben. Welche weiteren Ansätze verfolgen Sie zurzeit? Ich baue gerade einen sogenannten Inkubator namens Ability-Center auf. Das ist eine Organisation, die Start-ups mit Workshops, Coachings, Vernetzungen und Kapital unterstützt und fördert. Dieses bekannte und funktionierende Konzept möchte ich auch für Menschen mit Behinderungen anbieten.
Mit welchem Ziel?
Mit dem Ability Center wollen wir das Potenzial von Menschen mit Behinderungen systematisch entfalten. Mit der gezielten Unterstützung in Projektmanagement und Fundraising beschleunigen wir den Ideenreichtum und schlussendlich auch die Inklusion in der Gesellschaft. Auch möchte ich damit aufzeigen, wie eine Behindertenorganisation im 21. Jahrhundert zu funktionieren hat. Es sollen die Selbstbetroffenen selbst sein, die ihre Ideen vorantreiben.
Wie ist der aktuelle Stand des Projekts?
Ich konnte letztes Jahr trotz Corona die Finanzierung für dieses Projekt sichern. Der Bund und die Stadt Zürich unterstützen das Vorhaben. Auch konnte ich die UBS und weitere Geldgeber vom Ability Center überzeugen. Das Pilotprojekt geht bis Ende 2022: Bis dann möchten wir sechs bis zehn Projekte von Menschen mit Behinderungen unterstützen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Mein einziger Wunsch ist, dass meine Kinder nicht in einer Gesellschaft aufwachsen, in der der eigene Vater als minderwertiges Geschöpf angesehen wird.