Interview mit Ethnologin Annegret Braun: Was macht uns wirklich glücklich?
- Interview: Helene Aecherli; Illustrationen: Leo Espinosa
Geld? Kinder? Religion? Die Ethnologin Annegret Braun hat 700 Frauen und Männer gefragt.
annabelle: Annegret Braun, wir reden über Glück. Aber was ist das eigentlich: Glück?
ANNEGRET BRAUN: Ach, das ist die Problematik der Glücksdebatten: Es wird meistens über Glück diskutiert, ohne zu definieren, was man genau darunter versteht.
Helfen Sie uns? Ich würde es in drei Kategorien fassen: Glück, Freude und Zufriedenheit.
Für Ihr Buch «Wie Frauen Glück erleben» haben Sie Hunderte von ganz unterschiedlichen Frauen und Männer gebeten, anhand eines Erlebnisses zu schildern, was Glück ist. Was ist dabei herausgekommen?
Die meisten Frauen haben zwischen Glücksmomenten und Lebensglück unterschieden. So hat eine Frau erzählt, wie sie von einem Glücksgefühl überrascht wurde, als sie an der Sonne sass und Ferienpläne schmiedete. Das sind wunderbare Momente, die plötzlich aufkommen, aber nicht lange anhalten, und für deren Entstehung man nicht viel tun kann. Lebensglück, also Zufriedenheit, ist dagegen eher eine kognitive Angelegenheit: Man wägt ab, was gut und was schlecht ist, und kann sich dann dafür entscheiden, das Positive zu sehen.
Fühlen wir Menschen in Sachen Glück ähnlich, oder ist das Glücksempfinden so individuell wie ein Fingerabdruck?
Es gibt tatsächlich Dinge, die für alle glücksfördernd sind: Eine sinnvolle Tätigkeit. Genuss – zum Beispiel einen schönen Duft riechen, Musik hören oder körperliche Berührungen. Und Zugehörigkeit – Familie, Partner, Freundinnen, Beziehungen zur Heimat, zu einem Fanclub.
Konsumieren zu können, ist eine der obersten Maximen unserer Gesellschaft. Ich shoppe, also bin ich glücklich. Trifft das zu?
Für ein paar Tage, so lange, bis wir uns an die neue Tasche oder das neue Auto gewöhnt haben. Dieses Glücksgefühl ist zwar unmittelbar, aber nicht nachhaltig. Generell überschätzen wir das Glück, das uns materielle Dinge bringen, und unterschätzen jene Glücksmomente, die uns Begegnungen mit Menschen bescheren.
Warum?
Wohl auch deshalb, weil uns von Medien und Werbe-Industrie vorgegaukelt wird: Wenn du das hast, wirst du glücklich. Dem können sich selbst kritische Konsumenten nicht entziehen.
Ist Glück eine der Ur-Maximen des Lebens?
Sicher. Schon Epikur und Seneca, die Philosophen der Antike, haben sich mit Glück beschäftigt. Und seit je denken Theologen über Glückseligkeit nach. Doch die Glücksforschung als sozialpsychologischer Forschungszweig ist ein neues Phänomen. Sie entstand in den Achtzigerjahren mit dem Aufkommen der positiven Psychologie. Damals fing man an, sich weniger auf das Krankmachende zu konzentrieren, sondern darauf, was einen Menschen gesunden lässt. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage: Was ist gelingendes Leben?
Angesichts der aktuellen Kriege und Konflikte könnte man nun aber sagen: Diese Glückssuche ist ein Luxusphänomen.
Das ist so. Natürlich streben alle Menschen nach Zufriedenheit und einem guten Leben. Aber die Fragen «Fühle ich mich glücklich?», «Was müsste ich tun, um noch glücklicher und zufriedener zu werden?» stellt man sich besonders in den westlichen Industrienationen, in Ländern, wo die Grundbedürfnisse der Bevölkerung erfüllt sind. Mehr noch: Man fragt dann sogar weniger nach dem Glück, sondern nach dem eigentlichen Sinn des Lebens.
Das heisst, hinter der boomenden Glückssuche steckt in Wahrheit die Sinnsuche?
Zum Teil schon. Früher haben die Menschen die sinnvollen Zusammenhänge in ihrem Alltag klarer gesehen: Sie mussten säen, um zu ernten, Kühe melken, um Milch zu bekommen. Wichtig war auch der Glaube. Allein zu glauben, dass Gott die Menschen erschaffen hat, gab dem Leben Sinn. Augustinus, der Kirchenvater, drückte dies so aus: «Ich bin berufen, etwas zu tun oder zu sein, wofür kein anderer berufen ist. Ich habe einen Platz in Gottes Plan, auf Gottes Erde, den keiner sonst hat.»
Ein schönes, tröstendes Bild.
Das finde ich auch. Und ich bin überzeugt, dass der Sinn des Lebens allein schon darin besteht, dass es dieses einzelne, unverwechselbare Individuum gibt. Doch für uns moderne Menschen mit den vielen Optionen ist es eine der grössten Herausforderungen geworden, unseren Platz zu finden. Wir wissen oft nicht, welche Bedeutung unser Leben hat. Viele empfinden ihr Leben als sinnlos, fühlen sich ungeliebt, austauschbar.
Jeder ist ersetzbar, so lautet das Credo der heutigen Arbeitswelt.
Ein schreckliches Credo! Denn im Grunde ist niemand ersetzbar. Denken wir nur daran, welche Lücke und welchen Schmerz Menschen nach ihrem Tod hinterlassen. Und das nicht, weil sie einen supertollen Job gemacht haben, sondern schlicht, weil sie waren, wer sie waren.
Bedeutet das, dass wir nicht realisieren, welche Spuren wir im Leben hinterlassen?
Ja. Lehrer zum Beispiel haben oft das Gefühl, sie hätten nur lustlose Schüler vor sich, und empfinden ihre Arbeit deshalb als sinnlos. Nun gibt es aber viele Menschen, die von diesem einen Lehrer in ihrem Leben geprägt wurden, weil er etwas gesagt hat, das sie motiviert hat. Doch diese Ereignisse sehen wir oft nicht.
Wie kann man denn lernen, sie zu sehen?
Es gilt, achtsamer zu sein und den Sinn in bescheideneren Umständen zu sehen. Man muss nicht die Welt verändern wollen. Ich war einmal vor Weihnachten in einem Supermarkt. Alle waren gestresst und genervt, aber mitten drin stand diese eine Kassiererin, die jeden angeschaut und so freundlich gelächelt hat, dass alle in ihrer Reihe stehen wollten. Mit der einfachen Tätigkeit als Kassiererin hat diese Frau viele Menschen ein bisschen glücklicher gemacht. Das hat sie bestimmt auch gespürt, und es hat sie motiviert.
Schön und gut. Aber vergleichen wir uns mit den Errungenschaften anderer, stehen wir als Individuum meist schlechter da.
Sich mit anderen zu vergleichen, ist der sicherste Weg ins Unglück. Man muss nicht die Soll-, sondern die Habenseite sehen.
Waren Menschen früher glücklicher?
Ich denke, dass Frauen wie Männer früher weder glücklicher noch unglücklicher waren. Doch Glücklichsein hat einen anderen Stellenwert bekommen. Glücklichsein ist zu einem Leistungsnachweis geworden, Unglücklich sein zu einem gesellschaftlichen Makel.
Woran lässt sich dieser Wandel erkennen?
Allein schon anhand unserer gängigsten Glückssymbole, am Hufeisen und am Kleeblatt: Das Hufeisen hängen wir heute mit der Öffnung nach oben auf; das Glück soll aufgefangen werden. Früher hat man es umgekehrt aufgehängt, damit das Böse abgewehrt wird. Sprich: Man war schon zufrieden, wenn das Böse fernblieb, der Hagel die Ernte nicht zerstörte oder die Frau die Geburt überlebte. Und als man das vierblättrige Kleeblatt noch nicht züchten konnte, brauchte es Zufall oder eine ausdauernde Suche, um es zu finden. Und da seine Erscheinung an das Kreuz Christi erinnerte, hatte es zudem eine religiöse Komponente. Glück war also etwas Seltenes, dem Zufall und dem Schicksal gewidmet.
Untersuchungen zeigen, dass religiöse Menschen glücklicher sind. Stimmt das?
Gehen wir von einem positiven, befreienden Verständnis von Religion aus: Ja. Viele Glücksempfehlungen finden sich denn auch im religiösen Leben wieder: Menschen, die in einer Glaubensgemeinschaft leben, haben soziale Anbindung, versuchen Werte zu leben wie Nächstenliebe, bezeugen ihre Dankbarkeit in Gebeten und Meditationen, sind optimistischer. So haben Studien in Spitälern gezeigt, dass Menschen, die ihre Spiritualität leben, Krankheiten und Krisen besser ertragen können.
Viele sagen, ohne Krisen gibt es kein Glück. Ein Klischee?
Keineswegs. Ist man rundum zufrieden, wird man schnell träge, da reicht der gute Wille allein dann kaum aus, um etwas zu verändern. Aber eine Krise ist so unangenehm, dass sie einen zwingt, etwas in Gang zu setzen. Glück ist auch mit Schmerzen verbunden.
Erleben Frauen Glück anders als Männer?
Frauen suchen ihr Glück vor allem in Beziehungen, zum Partner, ihren Kindern und vor allem auch zu Freunden. Männer sichern ihr Glück eher in Macht und Status. Auffällig ist auch, dass Männer als Quelle ihrer Lebenszufriedenheit zwar sehr wohl auch Ehepartner und Kinder angeben, Freunde hingegen kaum erwähnen. Frauen geben darüber hinaus an, mehr Glücksmomente, gleichzeitig aber auch mehr Tiefpunkte zu haben. Bei Männern zeigen sich diese Ausschläge nicht in dieser Deutlichkeit.Frauen scheinen tatsächlich unzufriedener als Männer: Unter Müttern steigt die Burn-out-Rate, zudem erkranken Frauen zwei- bis dreimal häufiger an Depressionen als Männer. Woran liegt das?
Frauen sind öfter depressiv als Männer. Das ist richtig. Doch bei Männern äussert sich das Unglücklichsein anders. Männer werden eher gewalttätig oder flüchten sich in den Alkohol. Die häufige Unzufriedenheit von Frauen liegt wohl daran, dass sie extrem hohe Ansprüche an sich haben. In unserer Leistungsgesellschaft sind, wie gesagt, Glück und Erfolg eng miteinander verbunden. Glücklich ist, wer sein Leben toll managt, und das heisst für viele Frauen, Beruf, Kinder und Partnerschaft unter einen Hut zu bringen. Wer das nicht schafft, ist erfolglos – und somit unglücklich.
Kein Wunder, boomt die einschlägige Ratgeberliteratur!
Genau. Wir werden derart mit Glücksversprechen zugemüllt, dass wir nur versagen können.
Wie kann man sich dem entziehen?
Indem man weiss, dass Traurigsein, Misserfolg und Unzufriedenheit zum Leben gehören und dass man nicht allen Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden muss. Wenn eine Frau nach der Geburt ihres Kindes zum Beispiel nicht sofort wieder in ihren Beruf einsteigen, sondern die ersten Jahre zuhause bei ihrem Kind sein will, soll sie das tun. Sie folgt damit zwar nicht dem Trend der Gesellschaft, hört aber darauf, was ihr gut tut, und ist damit näher bei sich. Es braucht Mut und Selbstbewusstsein zu sagen: Ich mach das jetzt so. Aber sich von gesellschaftlichen Strömungen zu lösen, könnte zu einer neuen Form der Emanzipation werden.
Aber Hand aufs Herz: Machen Kinder wirklich glücklich?
Es gibt eine Studie aus Texas, die 909 berufstätige Frauen bat, ihren Tagesablauf aufzuschreiben und zu sagen, was sie glücklich macht. Das Resultat: Die meisten Frauen gingen lieber Kaffee trinken, als ihre Kinder zu betreuen. Die Kinder rangierten neben Putzen und Hausarbeit ganz unten. Daraus wurde gefolgert, dass Kinder unzufrieden machen. Doch fragt man Mütter und auch Väter, was sie glücklich macht, sagen die meisten: «Meine Kinder.»
Eine Gefälligkeitslüge?
Nein. Natürlich ist es nicht euphorisierend, jahrelang Windeln zu wechseln. Aber Kinder zu haben, ist sinnstiftend, Kinder geben einem auch vieles zurück. Gerade wegen der Mühen und Sorgen, die Kinder verursachen, erleben Eltern mit ihren Sprösslingen immer wieder innige Glücksmomente. Glück entsteht aus diesen Kontrasterlebnissen.
Mitunter aus diesem Grund fühlen sich Frauen und Paare, die keine Kinder bekommen können, oft zum Unglück verdammt.
Man muss nicht unbedingt eigene Kinder haben, um diese Glücksmomente zu erleben. Ich habe in meinen Buch über eine Frau geschrieben, die sagt, mit ihrer Nichte zusammen zu sein, sei wie Brause im Blut: prickelnd und aufregend. Das Glück von Kindern abhängig zu machen, ist gefährlich. Denn was, wenn das Kind die Glückserwartung seiner Eltern nicht erfüllt? Wenn es krank ist? Man muss akzeptieren, dass nicht alles im Leben planbar ist. Es sind denn auch nicht die unerfüllten Wünsche, die einen unglücklich machen, sondern die Fixierung darauf.Heute ist aber vieles machbar. Das lässt das Leben planbar erscheinen.
Ein Mythos, der uns alle unter Druck setzt. Diese Idee, dass alles in unseren Händen liegt, wir für alles selbst verantwortlich sind, macht auch rasch unbarmherzig. Ist jemand arbeitslos geworden, heisst es schnell: Der hat sich nicht genügend angestrengt. Dabei vergessen wir oft, dass zum Glück auch der Zufall gehört, dass es auch Schicksal sein kann, ob man seine grosse Liebe findet, ob man schwanger wird oder die lang ersehnte Stelle ergattert.
Gibt es denn nicht ein Recht auf Glück?
Nein. Das würde ja bedeuten, dass es jemand geben muss, der einem das Glück gewährleistet. Glück ist ein Geschenk, und auf Geschenke hat man kein Recht. Die US-Verfassung bringt es auf den Punkt: Verankert ist «the right of the pursuit of happiness», das Recht, nach Glück zu streben. Aber nicht, es auch zu haben.
Gerade das Streben nach Glück soll aber unglücklich machen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der «hedonistischen Tretmühle».
Glück und Zufriedenheit sind nie das Ziel per se, sie lassen sich nicht erzwingen, sondern sind vielmehr Nebenprodukte unseres Tuns. Ich höre oft: Wenn ich den nächsten Karriereschritt schaffe, bin ich glücklich. Klar, ist man zunächst glücklich, wenn man es geschafft hat. Aber dann muss man vielleicht mehr Überstunden machen, mehr reisen, ist weniger bei der Familie, ist ein Gejagter; ist also weniger glücklich, als man es sich vorher ausgemalt hat. Oder man gewöhnt sich an den Erfolg und will mehr – womit Unzufriedenheit bereits wieder programmiert ist.
Mit anderen Worten, auch nach Erfolg zu streben, macht unglücklich?
Nicht zwingend. Aber wir tun mehr für unsere Zufriedenheit, wenn wir auf kleine Erfolgserlebnisse achten statt nur auf die grossen Würfe. Zum Beispiel wertzuschätzen, wenn ich eine Sitzung besonders gut geleitet habe oder mir eine Einladung gut gelungen ist.
Was halten Sie davon, dass Pessimisten den Alltag besser meistern als Optimisten, einfach weil sie weniger erwarten vom Leben?
Es ist schon so, dass Pessimisten vorsichtiger sind, Risiken abwägen, eher was hinterfragen und dadurch ganz andere Erkenntnisse erzielen und eine Tiefe erreichen, die anderen fehlt. Gerade Menschen, die etwas bewegen wollen, Wissenschafter, Umweltschützer oder Menschenrechtsaktivisten, dürfen sich nicht scheuen, das Negative zu sehen. Grundsätzlich ist es doch toll, dass nicht alle rosa sehen, das wäre schrecklich. Wenn es mir nicht gut geht, möchte ich nicht dauernd glücksstrotzende Menschen um mich haben. Und: Man stelle sich vor, unsere Literatur, Kunst und Musik wäre nur von glücklichen Menschen geschaffen worden …
Ist Glücklichsein etwas Oberflächliches?
Nein. Aber unsere Gefühlspalette ist so vielschichtig; würden wir uns nur darauf reduzieren, glücklich zu sein, würden wir viele Nuancen übersehen, die unser Leben bereichern.
Ist jeder seines Glückes Schmied?
Nun, aus der Zwillingsforschung weiss man: Glück und Zufriedenheit sind zu etwa fünfzig Prozent genetisch und zu zehn Prozent durch die Umstände bedingt. Vierzig Prozent hat man selber in der Hand. Das ist ja schon viel, oder?