Internet-Trend: Netz-Nomaden betreiben Tauschhandel
- Text: Jessica Braun; Illustration: Rahel Nicole Eisenring
Psychotherapie gegen Essen, Poesie gegen Flugticket: Netz-Nomaden tauschen übers Internet Arbeit gegen das, was sie zum Leben brauchen. Wie in der richtigen Marktwirtschaft, aber ohne Geld.
Shantanu Starick reist seit 16 Monaten um die Welt. Er ist in Marokko durch Suks gestreift, war auf einem Segeltörn in Maine, USA, und hat auf einem Weingut in Neuseeland die besten Weine probiert. Gezahlt hat er dafür nichts. Das könnte er auch gar nicht. Der 23-Jährige lebt seit dem Sommer 2012 ohne Geld. «Als Fotograf wird man oft gefragt, ob es nicht schwierig ist, mit der Arbeit den Lebensunterhalt zu bestreiten», sagt der in Australien aufgewachsene Sohn deutscher Eltern, «das brachte mich auf die Idee, auf Reisen zu gehen und unterwegs nur noch für das zu arbeiten, was ich zum Überleben brauche.» Er begann, seine Fotos zu tauschen: gegen Flugtickets, ein paar Nächte auf einer fremden Couch, eine Einladung zum Frühstück oder eine Tube Zahnpasta. Seine Tauschpartner sind junge Kreative, die Fotos für ihre Website brauchen, Hochzeitspaare und Restaurants, aber auch Internet-Unternehmen wie Vimeo oder Tumblr. Jeden Auftrag dokumentiert Starick auf seinem Blog. «The Pixeltrade» nennt er sein Projekt, das ihn auf vier Kontinente geführt hat. Es funktioniert, weil es genug Fremde gibt, die bereit sind, ihm für seine Bilder Kost, Logis und mehr anzubieten. Und nur, weil es das Internet gibt.
«In 25 Jahren wird uns der Besitz von Waren und Gebrauchsgütern völlig altmodisch vorkommen», schrieb der US-Soziologe Jeremy Rifkin in seinem Buch «The Age of Access». Das war 2001. Was damals wie die Hoffnung eines hoffnungslosen Altruisten klang, ist heute teilweise schon Realität. Im Internet tauschen Nutzer Haushaltgegenstände oder Kinderspielzeug, swappen Kleider oder eben Dienstleistungen. «Teilen ist sauber, frisch, urban, postmodern; Besitzen ist langweilig, selbstsüchtig, ängstlich, rückständig», schrieb der Autor Mark Levine im «New York Times Magazine». Beim Tauschen geht es nicht nur darum, Geld zu sparen oder mit vermindertem Konsum die Umwelt zu schonen. Es geht um ein Lebensgefühl, darum, etwas abzugeben und dafür am Leben anderer teilhaben zu dürfen.
Tausche Lebensweisseheiten gegen Schlafplatz
Wenn der Maler Sergey Balovin (29) ein Tauschangebot erhält, handelt er darum nicht nur mit seinen Bildern: «Meine Gastgeber wollen immer auch etwas über mein Leben wissen.» Wie Shantanu Starick reist der russische Maler ohne Geld. Sein Einsatz sind Porträts, die er in ein paar Minuten vom jeweiligen Tauschpartner zeichnet. Dreissig Länder hat er so schon gesehen. Die Stationen seiner Reise plant er gut drei Monate im Voraus. Wohl wissend, dass sein Plan nur aufgeht, wenn die Menschen, die ihn über seinen Blog «In Kind Exchange» kontaktieren, zuverlässig sind. «Es ist schon vorgekommen, dass ich in einer Stadt ankam, und der Tauschpartner war plötzlich nicht mehr zu erreichen.» Nach zwei Jahren ohne festen Wohnsitz und ohne Geld verunsichere ihn das aber nicht mehr. «Wenn ich ein Zugticket oder ein Bett brauche, schreibe ich das in meinem Blog. Irgendjemand meldet sich immer.»
Ungewissheit ist etwas, mit dem Starick und Balovin für die Dauer ihrer Projekte leben müssen, auch der britische Dichter Simon Armitage. «Sind meine Gedichte den Menschen so viel wert, dass sie mich für eine Nacht aufnehmen oder mir ein Sandwich geben?», hatte er sich einst gefragt. Inzwischen hat er sich diese Frage beantwortet. Schon zum zweiten Mal ist der in England prominente Poet für mehrere Wochen ohne Geld durch seine Heimat gewandert. Über die Menschen, die er auf seiner ersten Tour im Jahr 2010 kennen lernte, hat er ein Buch geschrieben: «Walking Home». Armitage vergleicht sich darin mit einem der fahrenden Sänger des Mittelalters. Denen halfen zwar weder Blogs noch Follower. Wenn sie in eine andere Stadt weiterziehen wollten, waren sie auf die Empfehlungen ihrer Mäzene angewiesen. Neben ihrer Kunst brachten sie Informationen von anderen Höfen mit. Genau wie die reisenden Künstler im Netzzeitalter.
«Wenn mich ein Gastgeber an seine Schwester in einer anderen Stadt weitervermittelt, will diese natürlich wissen, wie es bei ihrem Bruder war und wie es ihm geht», sagt denn auch Shantanu Starick. Solche privaten Nachrichten haben trotz E-Mail und Facebook nicht an Wert verloren.
Mit ihren Projekten knüpfen Blogger wie er an die Tradition der Walz an. Nach ihrer Gesellenzeit gingen (und gehen) Handwerker auf Wanderschaft, um sich auf die Meisterprüfung vorzubereiten. Für drei Jahre und einen Tag, so die alte Regel, suchen sie in wechselnden Städten nach Jobs in Handwerksbetrieben. Unterwegs knüpfen sie berufliche Kontakte und lernen neue Techniken. Auch für die Tauschreisenden bedeutet jeder Handel eine berufliche Erfahrung. Sie lernen, was in Accra oder Aarau gefragt ist und wie man sich motiviert, wenn Auftraggeber mal nerven. Wer mehrere Jahre lang in verschiedenen Ländern von seiner Kunst gelebt hat, wird an seinem Können nicht so schnell zweifeln.
1300 Mal Brot getauscht
«Ich habe in den vergangenen vier Jahren gelernt, welchen Wert meine Arbeit hat.» Malin Elmlid ist studierte Betriebswirtschafterin. Modeunternehmen zahlen für die Beratung der Schwedin gute Tagessätze. Noch gefragter sind jedoch die Brote, die sie backt. Weil ihr das Weissbrot in ihrer Wahlheimat Berlin nicht bekam, begann sie 2007 nach dem perfekten Rezept zu suchen. Sie backte Laib um Laib. Zu viele, um alle selbst zu essen. Zu viele selbst für die Freunde, die sie damit bedachte und die ihrerseits anfingen, die Brote weiterzugeben. «Eines Tags meldete sich ein Bekannter eines Bekannten bei mir. Er gab mir zwei Freibillette für die Philharmonie als Dank für mein Brot, das er geschenkt bekommen hatte.» Der Anstoss zu ihrem Projekt «The Bread Exchange», das sie 2009 erstmals in ihrem Blog vorstellte. Etwa 1300 Mal hat die 33-Jährige mittlerweile Brot getauscht. «Die Dinge, die ich dafür bekomme, sind sehr unterschiedlich: viel selbst gemachte Konfitüre, aber auch einen Reitkurs oder Kunstwerke. Ein Mann hat mir einen Gutschein gegeben: Wenn ich einmal sehr traurig sein sollte, darf ich ihn um 3 Uhr nachts anrufen.» Wenn Elmlid beruflich auf Reisen geht, bieten ihr Hotels manchmal ein Zimmer an. Dann steht sie um vier Uhr morgens auf und backt in der Hotelküche Brote aus dem Sauerteig, den sie 2007 angesetzt hat und seitdem mit auf Reisen nimmt. «Mittlerweile bin ich so geübt, dass ich überall backen kann – in der Wüste Afghanistans über offenem Feuer oder in der Küche eines Berghotels in Colorado.» Obwohl sie von den Erfahrungen schwärmt, die sie dank ihres Projekts gemacht hat, kann sie sich ein Leben ohne Geld nicht vorstellen. «Ich möchte mir meine Unabhängigkeit bewahren.»
Für Heidemarie Schwermer (71) bedeutet Unabhängigkeit nicht Geld, sondern Mittellosigkeit. 1996 verschenkte die ehemalige Lehrerin und Psychotherapeutin bis auf wenige Kleidungsstücke ihren ganzen Besitz und gab ihre Wohnung auf. Seitdem lebt die 1942 in Ostpreussen geborene Deutsche unter den Dächern von Freunden und Fremden. Ihren Lebensunterhalt ertauscht sie sich mit (therapeutischen) Gesprächen. «Gib und nimm» heisst ihr Blog, in dem sie in mehrwöchigen Abständen ihre Gedanken postet. Weil sie seit über einem Jahrzehnt ohne Geld lebt, bekommt die Nomadin viel Aufmerksamkeit. Ein norwegisches Team drehte einen Dokumentarfilm über sie. Sie tritt in Talkshows auf. Ihre Art zu leben wird dort auch kritisiert: Sie mache es sich zu leicht, sei ein Parasit. Ein Stück weit stimmt das. Die Tauschreisenden nutzen die Infrastruktur der Länder, in denen sie sich aufhalten – Strassen und Pärke, Telefonleitungen und Internet. Steuern zahlen sie nicht. Das tun nur die Menschen, bei denen sie Unterschlupf finden.
Wenn sich Schwermer bei Fremden einquartiert, dann jedoch nie ungefragt. Wer ihr seine Couch oder ein Abendessen anbietet, tut das freiwillig. Weil er etwas geben möchte. Oder weil er etwas sucht: eine Antwort auf die Frage, ob es Alternativen zum Kapitalismus gibt. Wie sich das anfühlt, sich freizumachen von Besitz – Schwermer sagt, sie sei damals durch die leere Wohnung getanzt –, und wie tragfähig das Netz ist, in das sich Menschen wie sie fallen lassen.
What’s Mine Is Yours
Rachel Botsman, globale Vordenkerin des modernen Tauschgeschäfts und Autorin des Buchs «What’s Mine Is Yours», glaubt daran, dass Tauschen und Teilen Anzeichen sind für eine «Wiederauferstehung der Gemeinschaft». Wer mit anderen tausche, ahme Bindungen nach, ähnlich denen, die wir aus unseren Familien kennen. Das funktioniert auch, glaubt Botsman, wenn es nie zu einem Treffen kommt und der Kontakt nur über das Internet stattfindet. Wer sich nach Abschluss seines Tauschgeschäfts im Blog eines der Netznomaden wiederfindet, wird das bestätigen. Starick und Balovin zum Beispiel bringen Menschen zusammen, die sich für Fotografien und Zeichnungen interessieren und bereit sind, sich dafür auf etwas Neues einzulassen. Jeder, der mit ihnen handelt, wird zum Teil ihrer Projekte. Er gibt etwas von sich und bekommt dafür das, was der Soziologe Jeremy Rifkin für den stärksten Anreiz hält, den wir Menschen kennen: das Gefühl, dazuzugehören.