Leben
«Das innovative Potenzial von Frauen wird auf 12 Milliarden geschätzt»
- Interview: Alexandra Borchardt; Fotos: Stephanie Füssenich
Nilofer Merchant hat das Silicon Valley aufgemischt. Ihr Spezialgebiet: Innovationen. Ideen gibt es überall, sagt sie, und idealerweise machen sie die Welt ein wenig besser.
Die Koffer in Paris waren gepackt, die Tickets für den Rückflug an die US-Westküste gebucht. Zwei Jahre hatte Nilofer Merchant (49) in Paris gelebt, nun ging es zurück ins Silicon Valley, nach Los Gatos. Für das Interview, wenige Tage vor der Abreise, wünschte sie sich ein Treffen im «Deux Magots», einem Café, in dem Hemingway einst trank und speiste. Schliesslich ist Inspiration der Beginn jeder Innovation. Oder etwa nicht? Ach, manche bahnbrechenden Dinge beginnen viel profaner, sagt Nilofer Merchant.
annabelle: Nilofer Merchant, Sie nennen sich «Jane Bond of Innovation» – warum das?
Nilofer Merchant: Den Namen haben Freunde für mich erfunden, weil man meinen Beruf nicht richtig benennen kann. Ich habe 25 Jahre lang operative Geschäfte geführt, unter anderem grosse Abteilungen bei Apple und Autodesk geleitet, ein Start-up gegründet, berate Firmen, unterrichte an Unis, trete als Rednerin auf, schreibe. Meine Freunde sagten, du bist wie Bond, du kannst alles. Erst war das natürlich ein Scherz. Es sollte nur die Fähigkeit beschreiben, Dinge zu tun, von denen jeder meint, sie seien unmöglich zu erreichen. Eine Freundin sagte dann: «Nenn dich Jane Bond.» Das hat mir gefallen.
Jane Bond stürzt sich in Abenteuer, vor denen andere Angst haben?
Bei James Bond geht es nicht in erster Linie um Risiko. Innovation ist die Fähigkeit, Dinge erledigt zu bekommen. Es geht weniger um diese eine grossartige und brillante Idee, sondern darum, Menschen um sich zu scharen, mit denen man Ideen zum Durchbruch verhilft. Es gibt unzählige Ideen in der Welt, aber die Frage ist: Was braucht es, um sie unter die Leute zu bringen?
Also ist eine Innovation nicht gleichbedeutend mit einer Erfindung?
Richtig, es geht um den Nutzen.
Wann kamen Sie darauf, dass Sie gut darin sind, Innovationen voranzutreiben?
Eines Tages, ich war 22 oder 23 Jahre alt und bei Apple auf dem Weg in die Kantine, hielt mich ein Manager auf dem Gang an, der mindestens drei, vier Ebenen über mir angesiedelt war. Er fragte mich, ob ich für ihn ein Problem lösen könnte; ihm hätten schon viele einen Korb gegeben. Dann drückte er mir diese Tabelle in die Hand, die Zahlen zu einem Produkt, das profitabel war, aber wenig Umsatz brachte. Apple steckte damals in einer Krise, fast alles schrieb Verluste. Und er fragte mich, ob man dieses eine Segment wachsen lassen könnte. Ich habe auf dem Absatz kehrtgemacht und das meiner Chefin erzählt. Die sagte: «Der hat schon alle gefragt, jeder hat Nein gesagt. Warum glaubst ausgerechnet du, dass du das schaffst?»
Und warum?
Was hatte ich denn zu verlieren? Ich hatte eigentlich keine Ahnung vom Produkt. Also fing ich an, alle möglichen Leute anzurufen und mit ihnen darüber zu reden. Dabei fand ich einen Kunden, der mit dem Produkt sehr zufrieden war. Ich begriff, was daran besonders war. Wir haben dann ein Programm aufgesetzt und das Ding in kurzer Zeit von 2 Millionen Dollar auf 180 Millionen Dollar Umsatz gebracht. Es war also am Anfang keine grosse Sache, entwickelte sich aber zu einer.
Wenn ich Ihnen so zuhöre, würde ich Sie gern anwerben. Sie wissen ja, der Medienbranche geht es nicht so gut.
Es ist wichtig, immer wieder Leute mit einer frischen Perspektive zu holen. Es kann doch sein, dass sie etwas Vielversprechendes in ihrem Portfolio haben, aber glauben, dass es nicht funktioniert.
Braucht man immer besonders hartnäckige Einzelkämpfer, um ein Ding zu drehen?
Im Gegenteil. Man braucht immer ein Team. Das ist eine der grossen Täuschungen aus dem Silicon Valley, diese Heldengeschichten. Tatsächlich geht es fast immer so: Jemand findet eine Idee, und dann baut man ein Team, das die Idee verwirklicht.
Aber es wird zum Beispiel so dargestellt, als hätte Steve Jobs Apple gross gemacht, als Held gegen alle Widerstände.
Das ist Unsinn. Vor einiger Zeit gab es mal ein «Newsweek»-Cover mit sechs Männern drauf, Titel: «Die Väter des Silicon Valley». So etwas entspricht überhaupt nicht der Realität. So werden Mythen aufgebaut.
Sie kannten Steve Jobs. War er ein Innovator in Ihrem Sinn?
Natürlich! Aber nicht nur, weil er gute Ideen hatte. Er hat fähige Leute eingestellt, die eine Vision geteilt haben. Darüber wird nicht genug geredet. Wie findet man Leute, die – zum Beispiel in seinem Fall – von gutem Design besessen sind? Die nicht nur eine Leidenschaft dafür haben, wie die Dinge aussehen, sondern auch dafür, wie sie funktionieren.
Wie war es, mit ihm zusammenzuarbeiten?
Am Anfang war er ziemlich selbstverliebt. Aber später hat er Teams stärker schätzen gelernt. Wahrscheinlich ist das eine Altersfrage. Und er wurde selbstbewusster, sodass er auch starke Leute um sich herum akzeptieren konnte.
Was haben Sie von ihm gelernt?
Sehr viel zu verlangen, wenn es darum geht, eigene Ideen zu verwirklichen. Er hat niemanden im Zweifel darüber gelassen, was er für ein Unternehmen wollte. Er strebte nach Sinn und Vision. Meine Erfahrung ist, vielen Managern geht es nur um Geld. Steve ging es niemals in erster Linie um Geld.
Und das ist aussergewöhnlich?
Ich habe mit vielen Topmanagern zusammengearbeitet. Die reden andauernd über Visionen, aber wenn man genau hinhört, geht es ihnen um Shareholder Value, um Profit. Das sind aber Kategorien, die die Vergangenheit abbilden.
Wenn Sie Innovation sagen, meinen Sie grundsätzlich etwas, das die Welt verbessert?
Schliesslich kann man auch innovative Foltermethoden entwickeln. Natürlich gehören zu Innovationen Werte. Ich schreibe gerade ein Buch darüber, wie einzelne Menschen es geschafft haben, die Welt zum Guten zu verändern. Ich habe dazu Hunderte Fälle recherchiert.
Könnten Sie Ihre besten Beispiele nennen?
Heute zum Beispiel habe ich die Geschichte eines über 90-jährigen Mannes aufgeschrieben, eines Wieners, der im Krieg einem Gefangenentransport der französischen Bahn SNCF entkommen war. Die SNCF hatte nie Entschädigungen geleistet, und er hatte zwanzig Jahre lang ohne Erfolg dafür gekämpft. Dann setzte er eine Online-Petition auf, die 160 000 Unterstützer gewann. Die Folge: Die SNCF zahlte. Er hatte eine Vision und hatte endlich einen Weg gefunden, wie man Menschen um diese Vision herum versammeln konnte.
Aber eine Petition muss nicht immer etwas Gutes im Sinn haben.
Ja, aber die Frage ist doch, wie man genug Leute zusammenbekommt, die dem Guten dienen wollen. Das ist es, was mich an der Einstellung der Leute im Silicon Valley so unglaublich stört. Sie sagen dort immer, sie wollen die Welt verändern. Aber das meiste, an dem derzeit gearbeitet wird, hat damit überhaupt nichts mehr zu tun. Sie entwickeln Produkte für Privilegierte. Wenn ich mich nur noch darum sorge, wie ich meine Wäsche gemacht, mein Haus geputzt und Essen geliefert bekomme, habe ich etwas nicht verstanden. Da will man lediglich Dinge, die Mama einst für einen gemacht hat, von anderen erledigt bekommen. Das Silicon Valley hat aus dem Blick verloren, was die wirklichen Probleme sind.
Dort werden nur noch Konsumprobleme gelöst?
Genau. Die klügsten Köpfe aus Stanford basteln an der perfekten Lieferservice-App. Entschuldigung, aber man kann doch auch irgendwo hingehen und mit Menschen reden. Was wird das für eine Gesellschaft!
Also braucht Innovation Vielfalt?
Ja. Ich schreibe auch über die Initiative einer Frau, Mädchen zum Programmieren zu bringen. Und diese Kinder, neun oder zehn Jahre alt, die basteln an wirklich interessanten Dingen herum. Ein Mädchen zum Beispiel lebt in einem Viertel, in dem es wenig Obst und Gemüse zu kaufen gibt, seine Familie muss sich mit Essensmarken ernähren. Und so entwickelte es eine App, mit der man sich darüber informieren kann, wo Armenküchen frische Produkte auf Lager haben.
Essen scheint ein wirklich wichtiges Thema zu sein …
Es gibt auch andere Beispiele: Ich denke an ein Produkt namens Hello Flow. Da geht es um die erste Regelblutung und alle Fragen, die Mädchen dazu haben. Jede Mutter von Töchtern steht irgendwann vor dieser Situation. Da hat eine Frau also dieses Starterkit entwickelt mit einem Erklärvideo und allerhand Zubehör, das Müttern und Mädchen dabei hilft, auf das Ereignis unverkrampft zu reagieren. Die Gründerin hat das Geld für die Entwicklung über Crowdfunding bekommen. Millionen Mütter haben das Video gesehen und sofort den Sinn begriffen. Ein traditioneller Risikokapitalgeber – weiss, männlich, in seinen Vierzigern – hätte das gar nicht verstanden.
Kann jeder Innovationen entwickeln, oder muss man dazu eine bestimmte Persönlichkeit haben?
Ich nenne das Onlyness. Jeder verfügt über einen ganz bestimmten Mix aus Erfahrungen, Voraussetzungen, lebt an einem bestimmten Ort, von dem aus er die Welt und ihre Aufgaben sieht. Erst einmal muss man also von dieser einzigartigen Position aus überlegen, was man beitragen könnte. Das Zweite ist dann, die richtigen Leute zu finden, um eine Idee oder Vision zu realisieren.
Ich nehme an, man braucht auch eine gewisse Hartnäckigkeit.
Es kommt auf zwei Dinge an: Man muss sich selbst erlauben, eine Sache als wichtig zu betrachten. Und dann muss man natürlich etwas tun. Wir sitzen viel zu oft da und warten auf ein grünes Licht. Dass jemand kommt und sagt: Tolle Idee! Dabei starten die meisten Innovationen klein, mit etwas, das nur eine Person gesehen hat. Andere haben sich vielleicht darüber lustig gemacht. Bis jemand einfach mal etwas getan hat.
Häufig werden ja auch Firmen, die bestimmte Produkte entwickelt haben, nicht damit assoziiert, sondern diejenigen, die sie erfolgreich vermarktet haben.
Ein gutes Beispiel dafür sind Post-its. Die hat ein Musiker eines Kirchenchors erfunden, weil er damit seine Noten markieren wollte. Der hatte nie im Sinn, dass man mit den Dingern seinen Alltag organisieren kann.
Auf welche Innovation sind Sie ganz besonders stolz?
Ich habe die Softwarefirma Go Live mitgegründet. Wir haben da von Grund auf alles selbst entwickelt, Hunderte kleine Entscheidungen waren nötig. Genau so sieht doch das Leben aus. Man trifft andauernd winzige Entscheidungen, und daraus ergibt sich das grosse Ganze. Wie kann man in grossen Konzernen Strukturen schaffen, in denen Menschen innovativ sind? Häufig werden Ideen danach bewertet, wer sie äussert. Wenn ich in Firmen Workshops leite, bitte ich die Leute immer, Ideen anonym aufzuschreiben. Dann werden die Ideen unabhängig von der Person sortiert. Denn man neigt dazu, eine Idee von jemandem, den man nicht mag oder den der Chef für eine Pfeife hält, abzuwerten und die Idee überzubewerten, die von einem der Stars kommt.
Ich kenne das …
In Firmen mit traditionellen Machtstrukturen wird deshalb immer das Gleiche vorgeschlagen und perpetuiert sich so. Wenn jemand, dem immer zugehört wird, wirklich eine Idee hätte, mit der man eine bestimmte Aufgabe lösen kann, wäre die Aufgabe längst gelöst! Sie brauchen neue Stimmen, um neue Ideen zu hören und existierende Ideen infrage zu stellen.
Nun, die Begeisterung kann ich mir vorstellen, wenn Sie in Firmen gehen und denen sagen: Ihr müsst nur eure Machtstrukturen abschaffen, dann geht das schon.
Es muss immer einen Erfolg geben. Wenn wir Berater den Prozess in die Hand nehmen und eine tolle Idee von einem schrägen Typen kam, dem man sonst nie zugehört hat, werden sie diesem schrägen Typen künftig mehr Beachtung schenken und vielleicht auch anderen, denen sie es nicht zugetraut haben.
Sind Frauen ebenso gute Innovatoren wie Männer?
Frauen sind am innovativsten! McKinsey hat das schlummernde Innovationspotenzial von Frauen weltweit auf zwölf Billionen Dollar geschätzt. Tatsächlich erlauben sich Frauen oft selbst nicht, ihre Ideen zu äussern und auch zu verfolgen.
Was soll ich also meiner Tochter sagen?
Jede Idee zählt. Frauen sind darauf konditioniert zu glauben, dass ihre Ideen weniger wert sind. Wenn man oft zwischen männlichen Managern gesessen ist und ausdauernd ignoriert wurde, dann zweifelt man irgendwann an sich. Wir müssen uns beibringen, dass unser Selbstwertgefühl nicht daran geknüpft ist, wie andere Leute auf uns reagieren.
Leichter gesagt als getan.
Wir müssen Unterstützung in Teams finden. Teams können nämlich drei Dinge tun: Entweder man fühlt sich in ihnen weniger wert als sonst, oder man fühlt sich in ihnen so wie immer, oder sie bringen einen dazu, über sich hinauszuwachsen.
Wie baut man ein solches Winning Team? Oft wird man ja in ein Team hineingeworfen.
Es gibt die Familie, in die man hineingeboren wurde, und jene, die man sich aussucht. Ich zum Beispiel bin nicht mit einer starken Mutter aufgewachsen, also habe ich mir Menschen gesucht, die diese Lücke ausgefüllt haben. Wir können auch in der Firma in ein anderes Gebäude gehen und einfach mal sagen: Mit dir würde ich gern arbeiten!
Wie lässt sich die männliche Kultur in der Tech-Branche verändern? Die grossen Firmen haben mittlerweile alle Diversity-Programme, aber nichts scheint zu helfen.
Recherchen zeigen: Frauen verdienen sehr viel mehr Geld, wenn sie solche Unternehmen verlassen und sich selbstständig machen. Ich höre das auch in meinem Freundeskreis: Es ist Zeit zu gehen. Wenn dich eine Firma nicht unterstützt, hast du dort nichts mehr zu gewinnen. Wichtig ist es, rechtzeitig ein gutes Netz an Beziehungen aufzubauen – worin Frauen gut sind.
Welche Innovation hat Ihr Leben am meisten bereichert? Und sagen Sie jetzt bitte nicht: das iPhone.
Die tollste Innovation für mich ist ein vertrauliches Netzwerk von ungefähr 500 Frauen aus aller Welt, an die ich mich wenden kann, wenn ich Beratung brauche, Ideen oder Erfahrungen austauschen möchte.
Das klingt nach etwas zum Nachmachen. Und was halten Sie für die überflüssigste Innovation?
Wenn ich noch eine weitere Lebensmittel-Lieferservice-App sehe, kriege ich die Krise!
Nilofer Merchant (49) kam mit vier Jahren als Kind indischer Einwanderer nach Kalifornien. Als Mädchen erntete sie dort Aprikosen, wo Apple später ein Werk baute. Bei Apple begann sie auch ihre Karriere, wechselte später zu Autodesk, gründete die Start-up Softwarefirma Go Live und machte sich schliesslich selbstständig. Ihr Buch «11 Rules for Creating Value in the #SocialEra» wurde 2012 als eines der besten Businessbücher ausgezeichnet. Im August erscheint ihr neues Buch «The Power of Onlyness: Make Your Wild Ideas Mighty Enough to Dent the World». Nilofer Merchant lebt mit Mann und Sohn in Los Gatos.