Im Interview mit Jessica Chastain: Warum sie unsere Schauspielerin des Jahres ist
- Text: Lars Jensen; Foto: Getty
Bei Redaktionsschluss war offen, ob sie den Oscar gewinnt. Sie hat ihn leider nicht erhalten aber unsere Schauspielerin des Jahres ist sie sowieso.
Jessica Chastain hat noch nie ein Stück Fleisch gegessen, und sie hat es auch nicht vor. Aus moralischen Gründen, sagt sie. Solange sie sich auf diesem Planeten bewegt – das diktierte sie einem Reporter des «Independent» –, möchte sie jedem Lebewesen, Mensch, Katze, Kuh, in die Augen sehen können und sagen: Ich bin dankbar und glücklich, dass es dich gibt. «Die Vorstellung, ein Tier umzubringen, damit ich satt werde, finde ich furchtbar. Ich möchte nicht zur Brutalität in unserer Welt beitragen.»
Deswegen ist sie auch zu Menschen sehr nett. Neulich, nach einer Aufführung von «The Heiress», einem Broadway-Stück nach Henry James, in dem sie die Hauptrolle spielt: Da stand vorm Eingang des Theaters plötzlich Chastain und plauderte mit den Besuchern. Liess Fotos von sich schiessen und beantwortete Fragen nach dem Sinn der Geschichte von «The Heiress». Chastain amüsierte sich und machte den Eindruck, als würde es ihr tatsächlich Spass machen zu hören, was die Leute so denken über ihre Arbeit.
Vielleicht ist sie auch nur so zutraulich, weil sie noch nicht ganz begriffen hat, wie grundlegend sich ihr Leben in den vergangenen 18 Monaten verändert hat. Der unbeschwerte Alltag als eifrige Bühnendarstellerin ist vorbei. Ihre Karriere als Paradeschauspielerin der Filmindustrie hat begonnen.
Ihr genaues Alter ist unbekannt
Sie ist nun geschätzte 35 Jahre alt. Lustig: Man muss Jessica Chastains Alter schätzen, denn ausser der Familie weiss niemand, wann genau sie geboren wurde. Zu den wunderbaren Eigenarten der Schauspielerin gehört es, beim Alter zu schummeln, ihre Angaben schwanken zwischen 32 und 35. Im Archiv der Schauspielschule Juilliard liegen Unterlagen, aus denen angeblich hervorgeht, dass Chastain eher älter als jünger ist.
Nehmen wir also an, sie kam Ende März 1977 auf die Welt. Dann hätte sie ihre ersten 33 Jahre in relativer Armut verbracht. Alles, was ihr aus dieser Zeit blieb, ist der gebrauchte Toyota Prius. Noch vor weniger als zwei Jahren hatte sie Mühe, die Miete für ihre New Yorker Wohnung aufzubringen. Seitdem erschienen zwölf Filme, in denen sie Rollen spielte, die jedem Zuschauer in Erinnerung bleiben; sie wurde für über 120 Preise nominiert und gewann beinahe hundert.
Bei ihrer ersten Oscar-Nominierung für die Rolle der Celia Foote im Bürgerrechtsdrama «The Help» erkundigte man sich: Wer ist Jessica Chastain? Zwölf Monate später stand ihr Name wieder auf der Liste der Nominierten, und niemand wunderte sich. Diesmal spielt sie in «Zero Dark Thirty» die CIA-Analystin Maya, die Osama Bin Laden enttarnte. Niemand fragte mehr, wer Chastain war, denn ihr Gesicht mit der Porzellanhaut und den erdbeerfarbenen Haaren und den kiwigrünen Augen hatte sich ins allgemeine Bewusstsein des Publikums eingebrannt: Ach, die wieder.
Ihr erster scheusslicher Film
So ziemlich jeder Artikel, der über sie erscheint, kündigt sie als die Meryl Streep der kommenden Jahrzehnte an – nur schöner und talentierter. «Ach Gott», sagt Chastain jedes Mal, wenn ihr David Letterman oder Charlie Rose oder Oprah Winfrey erklären, wie fantastisch sie sei. «Ich erhalte so viel Lob, dass ich Angst davor bekomme, was passiert, wenn ich mal einen richtig scheusslichen Film drehe. Werdet ihr mir dann verzeihen?»
Ihr erster richtig scheusslicher Film kommt im April in die Schweizer Kinos: der Horrorschocker «Mama». Jessica Chastain spielt eine Rockmusikerin, die widerwillig zwei kleine Kinder adoptiert, die im Wald von einem Monster aufgezogen worden waren. Das Monster wird eifersüchtig, den Rest kann man sich denken. Wie reagierten Letterman und Kollegen? Sie baten Chastain zum x-ten Mal innerhalb von Monaten auf ihre Couchs und liessen sie wissen, wie fantastisch sie sei.
Bescheiden und gelassen
Wie erklärt sich Jessica Chastain diese seltsame Karriere, die seit ihrem Abschluss 2003 an der Juilliard School, New Yorks renommierter Schauspielakademie, dahindümpelte; die aus Nebenrollen in TV-Serien wie «E. R.» und «Law & Order» bestand und aus einigen Off-Broadway-Stücken, die nicht mal von Kritikern beachtet wurden?
«Ich glaube, mein plötzlicher Erfolg hat denselben Grund wie mein jahrelanger Misserfolg», sagt Jessica Chastain. «Erstens wollte ich nie Filmstar werden, weswegen ich gelassen blieb. Zweitens wussten die meisten Casting Directors nichts mit mir anzufangen. Ich sehe zu untypisch aus. Klein, rothaarig, blass. Dann spielte ich im Fernsehen einige labile Charaktere, und das ist bis heute meine Marktlücke: die Frau, die nicht ganz normal ist.»
In ihrer Bescheidenheit stapelt sie tief. Natürlich spielt sie mehr als einfach nur Frauen, die nicht ganz normal sind. Sie war eine Gangsterbraut in «Lawless», Salome für Regisseur Al Pacino, Corilianus’ Gattin in der Shakespeare-Adaption von Ralph Fiennes, eine Mossad-Agentin in «The Debt», Brad Pitts Frau und Sean Penns Mutter in «The Tree of Life» und in «Take Shelter» die Ehefrau eines von apokalyptischen Visionen getriebenen Mannes.
Was ihren Auftritten gemein ist: Egal ob Shakespeare oder Horrorfilm, Chastain verschwindet in ihren Figuren, sodass man vergisst, dass man einer Schauspielerin zuschaut. Sie drängt sich nicht auf, sie ist einfach nur da, lässig und entspannt. Der britische Filmregisseur Ralph Fiennes drückt es so aus: «Ihre Emotionen sind auf ihrer Haut. Sie schauspielert nicht, alles fliesst durch ihren Körper. Vollkommen mühelos.»
Männer interessieren sie nicht
Um diese Mühelosigkeit ausstrahlen zu können, arbeitet Chastain hart. Vielleicht härter als jede andere Schauspielerin. Die Lehrer der Juilliard forderten sie auf, auch mal einen Tag nicht in der Schule zu büffeln: nicht Strindberg und Wilder auswendig zu lernen, sondern zu tanzen oder zu singen. «Aber mich interessiert nun mal nichts anderes», antwortete sie ihren Lehrern.
An ihrer Hingabe hat sich bis heute nichts geändert. Jessica Chastain erzählt in Talkshows laut lachend, dass sie keinen Freund hat und auch keinen sucht. Schon gar keinen Schauspieler. «Selbst wenn ich einen Boyfriend hätte, würde es niemand mitkriegen, weil ich es geheim halten würde.» Sie begeistert sich für Kunst, Architektur, Mode, Ballett – ein Mann konnte eine solche Leidenschaft noch nicht wecken.
Statt in Bars zu flirten, arbeitet sie lieber. All die Wochen, die sie damit verbrachte, Geheimdienstakten zu wälzen, die Aussprache arabischer Namen zu üben oder CIA-Mitarbeiterinnen zu treffen, um zu lernen, wie diese Frauen denken, fühlen, sprechen: Jede Sekunde, die sie in die Vorbereitung ihrer Rolle als CIA-Analytikerin Maya investierte, zahlte sich aus, weil es im Film so wirkt, als würde sie gar nicht schauspielern.
Durch die Schule gemogelt
Jessica Chastain ist die Tochter eines Feuerwehrmanns und einer veganen Köchin. Während ihrer Kindheit in Nordkalifornien war sie eine Einzelgängerin und schlecht in der Schule. Eines Tages nahm die Grossmutter ihre schüchterne Enkelin mit zu einem Musical. «Ich war noch sehr jung, vielleicht sieben Jahre alt. Da stand dieses Mädchen auf der Bühne, sie war zehn. Und ich dachte: Das bin ich. Von dem Tag an wusste ich, was ich mein Leben lang tun würde: auf der Bühne stehen.»
Sie mogelte sich durch die Schule, spielte Theater in San Francisco und bewarb sich an der Juilliard School. Zum Entsetzen der Eltern wurde sie angenommen. Die hatten fünf Kinder, aber kein Geld. Jessica war das erste Mitglied der Familie, das auf ein College gehen konnte – doch wer sollte das bezahlen? Hollywoodstar Robin Williams sprang mit einem Stipendium ein, das er für mittellose Schauspielstudenten bereithält.
Ihr Durchbruch – wenn man es so nennen will – gelang 2006. Mit Al Pacino spielte sie Oscar Wildes Salome in einem Theater in Los Angeles. Al Pacino war so hingerissen, dass er in Hollywood bei jeder Gelegenheit von ihr schwärmte. Irgendwann erreichte diese Mundpropaganda den Filmproduzenten Terrence Malick.
Sie gibt alles für eine Rolle
Als Jessica Chastain 2008 mal wieder zwischen zwei Kurzauftritten im Fernsehen steckte, rief Malick an und bestellte sie zum Vorsprechen. Es gab kein Skript. Chastain sollte ein Baby zu Bett bringen und ein Poster von Ethan Hawke liebevoll anschauen.
Doch Chastain hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihre innere Schauspielmaschine angeworfen. Sie hatte Wochen auf einer Farm in Kansas verbracht, sich in die Manierismen der jungen Lauren Bacall vertieft, später Madonnenbilder im New Yorker Metropolitan Museum studiert. Sie war sogar in einem Meditationszentrum abgestiegen, um sich innerlich zu entschleunigen. Natürlich bekam sie die Rolle.
Doch kein Job fiel ihr so schwer wie die Rolle der Celia Foote in «The Help» – weil sie 15 Pfund zunehmen musste. Robert De Niro frisst sich in solchen Fällen innerhalb von Wochen mit einer Steak- und Whiskeykur das Gewicht an. Aber was macht eine Veganerin, die keinen Alkohol trinkt und Süssigkeiten nicht mag? «Es war ein Kampf», sagt Jessica Chastain. «Ich ass kiloweise Sojaprodukte. Da sind viele Östrogene drin, und die lassen die Rundungen wachsen.» Es war ein Kampf, den sie auf die ihr eigene, nicht ganz normale Art gewann.
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In einem Kleid von Armani Privé an den diesjährigen Oscars