«Ich will Risiken eingehen»
- Interview: Melanie Biedermann; Foto: Maisie Cousins
Sexuell frei und selbstbestimmt: Auf ihrem neuen Album «Hunter» wird die britische Musikerin Anna Calvi zur Jägerin.
Man muss zweimal hinsehen, um die schmale Frau im Londoner Lobby-Gewusel zu erkennen. Ein mit Pflanzen bedeckter Marmor-Raumteiler versteckt Anna Calvis wilde Locken in der hinteren Ecke der Vorhalle des «St. Pancras Renaissance Hotel». Ihr «Hi» ginge ebenfalls als Tarnung durch. Denn die Sprechstimme der 37-Jährigen hat mit ihrem inbrünstigen Gesang, der seit knapp zehn Jahren Musikfans weltweit begeistert, wenig zu tun. Calvi redet so sanft, dass einem als Journalistin mulmig wird, ob ihre Stimme auf der Tonaufnahme des Gesprächs überhaupt zu hören sein wird.
Diese Gegensätze zwischen Bühnen- und Privatperson sind typisch für Anna Calvi. Die Tochter zweier Therapeuten – der Vater ein musikverliebter Italiener, die Mutter Engländerin – spielt von Kind an Violine und Gitarre. Im Studium perfektionierte sie beides. Inzwischen gilt Calvi als eine der versiertesten Gitarristinnen ihrer Zeit. Kritiker schwärmen, sie spiele verwegen wie Hendrix und lyrisch wie Debussy. Mit dem Singen haderte sie erst. Dass Anna Calvi ihr charakteristisches Raunen, die schlüpfrigen bis ekstatischen Vocals erst mit Mitte zwanzig entdeckte, allein im eigenen Zimmer und mit «sehr viel Geduld», mag man kaum glauben.
2009 veröffentlichte sie, knapp 30-jährig, eine Version von Bowies «Sound & Vision» als ersten Teil ihrer Attic Sessions auf Youtube, im Video sieht man sie in glänzender Seidenbluse und Cowboyboots zwischen Estrich-Gerümpel sitzen. Ein knappes Jahr später und noch ohne nennenswerte Releases tourte Calvi als Support für Interpol durch Grossbritannien, eröffnete Konzerte für die Arctic Monkeys und Nick Caves Bandprojekt Grinderman. Zur selben Zeit sprach Kult-Produzent Brian Eno von der Newcomerin als «beste Sache seit Patti Smith». 2011 landete ihr Debütalbum auf der Nominiertenliste des renommierten Mercury Prize. Dasselbe Szenario – Mercury-Nominierung und feurige Feuilleton-Loblieder – wiederholte sich zwei Jahre später mit «One Breath». Auch beim Drittling «Hunter» stehen jetzt wieder alle Weichen auf Erfolg. Anna Calvi bringt die gewichtigen Gitarren zurück, die von Bettgeflüster bis Weltschmerz geprägten Vocals ebenfalls. Alles scheint beim Alten und doch total neu, allem voran Anna Calvi selbst.
annabelle: Anna Calvi, Ihr neues Album gleicht einem Besuch beim Psychiater: Es ist intensiv, aufwühlend und befreiend zugleich. Wovon wollten Sie sich lösen?
Anna Calvi: Ganz generell von Hemmungen und Ängsten, was auch immer es ist, das einen zurückhält. In meinem Fall war es das gesellschaftliche Bild davon, wie eine Frau zu sein hat, die Vorstellung darüber, wie ich mich aufgrund meiner weiblichen Anatomie zu verhalten und zu inszenieren habe. Auf «Hunter» versuche ich, diese Barrieren mit meiner Gitarre und meiner Stimme zu brechen und eine wildere, ungezügeltere Version meiner selbst zu entwerfen.
Als wild und ungezähmt gelten Sie aber doch schon, seit die ersten Musikkritiker Sie entdeckten. Was ist an «Hunter» wirklich neu?
Ich fragte mich, was wäre, wenn das Album die letzte Musik ist, die ich je veröffentliche. Was würde ich sagen wollen? Die Welt ist von derart viel Lärm durchzogen, von so vielen Stimmen und Meinungen, da wollte ich, dass das Album mir wirklich etwas bedeutet. Und ich wollte ein Risiko eingehen. Warum sollte ich sonst Musik machen?
Muss Musik denn immer gleich Risiken eingehen?
Nein, sie bedient verschiedene Bedürfnisse. Es gibt die Art Musik, die dich hält, auffängt und dir ein Gefühl von Geborgenheit gibt, aber eben auch die, die dich fordert und aufweckt. Ich wollte Letzteres: aktiv statt passiv sein. Herausfinden, ob eine Frau mehr sein kann als das Bild, das uns vermittelt wird. Schauen, ob ich es schaffe, Gender und Sexualität frei von den Vorstellungen anderer und frei von Scham zu entdecken. Denn weibliche Sexualität ist immer schambehaftet. Für mich machte das nie Sinn. Ich dachte bei diesem Album auch an mein jüngeres Ich, das eine Frau sein wollte, die Dinge anspricht, eine Jägerin, sexuell frei und selbstbestimmt. Als Teenager spürte ich diese Message, wenn ich «Gloria» von Patti Smith hörte.
Fehlen uns heute die Vorbilder?
Ich finde diese Frauen durchaus in meinem Umfeld, sehe sie aber nicht in unserer Kultur repräsentiert. Doch die Kunst und auch die Worte, mit denen wir die Welt beschreiben, beeinflussen, wie wir sie wahrnehmen.
Haben Sie das Album deshalb so klar als queer und feministisch gelabelt?
Ja. Das ist offenbar notwendig, sonst würde ich nicht noch immer gefragt, wie es ist, als Frau Musikerin zu sein. Ich wollte den Rahmen dieses Mal selber setzen. Ich wollte nicht, dass jemand mich falsch interpretiert.
Haben Sie sich auch mal überlegt, dass die Idee von Frauen als Jägerinnen missverstanden werden könnte?
Die Jagd-Metapher hat natürlich nichts mit Übergriffen oder Unterdrückung zu tun. Es geht darum, Frauen als Protagonisten zu sehen, die ihre eigenen Geschichten schreiben. Im Moment ist es doch so, als lebten wir in einem Haus, in dem alle Räume die gleiche Farbe haben. Mir geht es darum, diese Wahrnehmung zu korrigieren.
In der psychologischen Philosophie gilt Scham auch als Schutzmechanismus.
Ich war kürzlich an einer Vorlesung zum Thema und finde das Konzept wahnsinnig interessant. Scham ist auch ein Werkzeug, um die gesellschaftliche Moral aufrechtzuerhalten. So gesehen ist sie vielleicht manchmal sinnvoll. Dennoch glaube ich, dass Frauen sich zu häufig schämen. Warum sollte sich eine Frau zum Beispiel für ihre natürliche Behaarung schämen? Oder dafür, dass ihr Körper nicht aussieht wie der eines Teenagerjungen? Es frustriert mich, dass Scham in solchen Fällen als Unterdrückungsinstrument eingesetzt wird.
Schämen Sie sich seit der Arbeit an diesem Album seltener?
Als schüchterne Person bin ich vermutlich besonders eng mit meiner Scham verbunden. Früher schämte ich mich sehr schnell, war ständig verlegen, weil ich meine Handlungen und mich selbst als Person konstant hinterfragte. Wenn ich heute Scham spüre, erkenne ich sie oft als etwas, das mir von der Gesellschaft auferlegt wurde. Da ist viel Wut im Spiel. Die wollte ich ins Gegenteil kehren, in eine Energie verwandeln, die kraftvoll und positiv ist. So gesehen, war das Album auch für mich therapeutisch.
Sie sind eine Meisterin der Dualitäten: In Ihrer Musik legen Sie alle Hemmungen ab, gleichzeitig sagen Sie von sich selbst, Sie seien schüchtern.
Als introvertierte Person trägst du diese Energie in dir, du behältst sie bei dir und verschwendest sie nicht mit leeren Worten. Wenn du etwas Wichtiges zu sagen hast, lässt du das Geheimnis los. Ich glaube, in der extrovertierten Welt, in der wir leben, ist es eine Stärke, introvertiert zu sein. Zumindest habe ich für mich einen Weg gefunden, stolz darauf zu sein und es zu geniessen. Ich erinnere mich aber, dass ich jahrelang darauf gewartet hatte, diese selbstbewusste Person zu werden. Ich dachte, als Erwachsene müsste ich doch längst stärker sein.
In früheren Interviews erwähnten Sie einen Todesfall in der Familie und das Ende einer langjährigen Partnerschaft. Glauben Sie, diese Schicksalsschläge haben Ihnen in Ihrer Entwicklung geholfen?
Ja, das ging gar nicht anders. Es war, als sei ich ein Baum gewesen, dem alle Äste abgeschnitten worden waren. Plötzlich musste ich mich von Grund auf neu erfinden. Vielleicht wäre es mir ohne diese Erlebnisse schwerer gefallen, zu erkennen, wer ich sein will. Davor hatte ich zwar auch schon davon gesprochen, es aber niemals ausgelebt.
Haben Sie manchmal Angst, sich in Ihren Gefühlen zu verlieren?
Um wirklich gut in etwas zu sein, musst du dich der Sache voll hingeben. So etwas fordert immer Opfer. Manchmal opfere ich für meine Arbeit zu viel. Das sind die Momente, in denen ich mich einsam fühle oder zweifle. Aber eigentlich will ich mich in der Musik ja auch nicht sicher fühlen, ich will die Komfortzone verlassen. Wahrscheinlich verlässt man sie dann aber doch nur in einem Rahmen, der sich sicher anfühlt.