Altern hat sich annabelle-Redaktorin Helene Aecherli für später aufheben wollen. Doch jetzt hat es sie eingeholt. Was nun? Erst mal grollen.
Die Umstände, unter denen ich meines äusseren Zerfalls gewahr wurde, waren banal. Ich sass beim Coiffeur, blätterte durch einen Stapel Hefte und stiess auf «Schminktipps für jedes Alter»: in jeder Kategorie eine Gesichtsform, dazu Hinweise auf die zu schminkenden Stellen und die passenden Produkte. Reflexartig studierte ich die Ausführungen für 45- bis 55-Jährige, meine Altersgruppe, wobei mir auffiel, dass die Kinn- und Kieferkonturen dort nicht mehr ganz so linear verliefen. Sie sackten ab, lasch wie die Fäden eines Wohlfühlpullovers. «Zwischen 45 und 55 lässt die Elastizität der Haut nach», hiess es in der Bildlegende, «das Volumen im Gesicht sinkt, durch die Schwerkraft rutschen die Weichteile unter der Haut durch, das jugendliche V beginnt zu schwinden.»
Ich weiss nicht, warum ich nicht einfach weitergeblättert habe. Doch ich hob den Kopf, blickte in den Spiegel und erstarrte. Denn tatsächlich: Dort, wo sich die Haut einst fest ans Kinn schmiegte, zeichnen sich Dellen ab, hängebackenartige Ansätze, die Richtung Schulter zeigen. Ein U. In jenem Moment spürte ich, wie ein Hauch von Trauer in mir hochstieg. Ich hatte mir das Altern stets für später aufgehoben. Jetzt hat es mich eingeholt. Schlagartig verstand ich, warum manche Frauen panikartig ihr Konto räumen und das Geld in ein Facelifting investieren.
Wenn mir eine gleichaltrige Freundin gestehen würde, dass der Verlust des jugendlichen V eine Zäsur in ihrem Bewusstsein bewirkt hätte, würde ich den Kopf schütteln. Ich würde sie ermahnen, dankbar zu sein, dass sie es überhaupt bis hierhin geschafft hat und ihre Knochen und Organe noch immer das tun, was sie tun sollen. Ich würde sie daran erinnern, dass Altern ein unausweichlicher biologischer Prozess ist, der jedes Lebewesen in der Sekunde seiner Zeugung erfasst. Warum sich über etwas den Kopf zerbrechen, was Molche wie Menschen gleichermassen betrifft? Eben.
Doch so ernst es mir mit diesen Worten auch ist, sie schützen mich nicht vor mir selbst. Denn irgendwann nach meinem fünfzigsten Geburtstag hat ein regelrechter Zweikampf begonnen zwischen der rationalen Analyse und dem subjektiven Erleben des eigenen Älterwerdens. Und ich erkenne bestürzt, dass sich dieses subjektive Erleben merkwürdige Ventile sucht. Sitze ich jemandem gegenüber, mime ich nun den «Denker», stütze Kinn und Kiefer mit dem Handrücken auf wie die über das Schicksal der Welt sinnierende Bronzeskulptur des Bildhauers Auguste Rodin und ziehe dabei die Haut des Kinns sachte nach hinten. Das gibt einen Liftingeffekt. Und war ich noch bis vor kurzem immun gegen die Versprechen der Kosmetikindustrie, mich mit ihren Produkten vor dem Zerfall zu bewahren, erwische ich mich heute dabei, dass mich deren Formeln faszinieren: Pro-Retinol Advanced, Fibrelastyl, Vitafibrine. Immer mal wieder kaufe ich mir verstohlen eine Dose Hoffnung, und in Erwartung der Testergebnisse schaue ich dann noch genauer in den Spiegel, wodurch sich mir noch mehr Alterserscheinungen offenbaren – ich nenne dies den Accelerated Reality Magnifier Effect –, schlaffe Kinnhaut zum Beispiel oder ein wucherndes Oberlippenhaar. Holyfuckingshit. Will ich das sehen? Eigentlich nein.
Offen gestanden, meine neomasochistische Eitelkeit ist mir peinlich, ich finde sie sogar furchtbar egozentrisch. Immerhin, bis jetzt habe ich es geschafft, mich gegen das noch masochistischere Regelwerk zu stemmen, das sich Frauen um die fünfzig auferlegen: Sie beginnen aufgrund welkender Haut Décolleté und Hals zu verdecken. Sie verhüllen Bauch, Po und Oberschenkel, besonders die Knie, vor allem aber die Oberarme, denn zu vernichtend ist die Vorstellung, dass die Haut des Oberarms beim Winken mitwinken könnte. Darüber hinaus weigern sich manche, ihr wahres Alter anzugeben, und verharren bei 45 oder beharren auf Bildern, die sie als ewig 35-Jährige zeigen. Es scheint, als würden sie sich einen imaginären Schleier überstülpen, ganz nach dem Motto: Ich bin dann mal weg.
«Hey, erst wenn du Falten hast, kannst du dich entfalten, oh yeah, Baby yeah!», rappe ich manchmal, um mich aufzuheitern, aber auch um dem weiblichen Versteckspiel etwas entgegenzuhalten. Knapp vierzig Prozent der Frauen in der Schweiz sind über fünfzig Jahre alt. Doch statt sich kraft ihrer demografischen Masse selbstbewusst in Szene zu setzen, geben sie klein bei, verleugnen nicht nur ihr Alter, sondern auch sich selbst. Sie tun das, so ein gängiger Erklärungsversuch, um nicht verstossen zu werden aus einer Gesellschaft, die Jugendlichkeit und Schönheit hartnäckig als weibliche Statussymbole definiert und Frauen jenseits des reproduktionstechnisch relevanten Sexappeals argwöhnisch beäugt. «Viele klammern sich daran, dass sie nur geliebt werden, wenn sie jung und schön sind», sagt Christophe Christ, Facharzt für ästhetische und plastische Chirurgie. «Sie sind so überzeugt davon, dass niemand mehr hinsieht, wenn sie älter werden, dass sie nicht einmal erkennen würden, wenn jemand hinsieht. Frauen wollen gefallen, aller Emanzipation zum Trotz.»
Das mag sein. Allerdings kenne ich kaum Frauen, die sich ausschliesslich über ihr Äusseres definieren, sich mit der Lupe in der Hand um die eigene Achse drehen. Dafür hätten die meisten schlicht keine Zeit. Das geht auch mir so. Spüre ich anerkennende Blicke auf meiner Haut, geniesse ich sie natürlich, verwerte sie aber wie das Praliné nach dem Lunch: Ich lasse es zwei Minuten lang auf der Zunge zergehen, dann konzentriere ich mich wieder darauf, die Welt zu retten. Nein, das Gefallenwollen allein reicht als Erklärung für das kollektive weibliche Hadern nicht aus, schon gar nicht für meinen Groll über den Verlust des jugendlichen V. Dem, das zeigt meine rationale Selbstanalyse, liegt etwas sehr viel Existenzielleres zugrunde: Das steigende Bewusstsein dafür, dass das Schwinden des jugendlichen V gleichbedeutend ist mit einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, der sich in einer gesellschaftlichen Statusveränderung manifestiert. Ein Indiz hierfür ist, dass ich nun mit fünfzig aus der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen verschwunden bin. Zwar war laut Medienforscher Harald Amschler der Fokus auf diese Zielgruppe nie mehr als ein Marketingtrick. 1957 erklärte Leonard Goldenson, damals Chef des US-Fernsehsenders ABC, 14- bis 49-Jährige zur optimalen Grundlage für ein erfolgreiches Marketing, weil sein Sender nur in dieser Altersgruppe obenaus schwang, sonst aber im Vergleich zu den Mitbewerbern CBS und NBC tiefere Einschaltquoten hatte. Dieser Trick wurde später von RTL-Chef Helmut Thoma übernommen. Und obwohl Zielgruppen zugunsten von individualisierten Marketingstrategien an Bedeutung verlieren, beeinflussen die 14- bis 49er das Denken der Werbebranche noch immer. «Es ist», sagt Amschler, «als würden Sie mit fünfzig aus der Zukunft herausfallen.» Genau! Und um mich dann nach dem Fall in einer Kategorie wiederzufinden, mit der ich nichts zu tun haben will: den 50-Plussern.
«Menopause?», flüstert meine Tischnachbarin verschwörerisch. Ich lehne mich hinüber und zische: «Nein, Minergie»
Am Tag eins nach meinem Fünfzigsten schickt mir Facebook eine Einladung für eine Ü-50-Site. Der Aufmacher: ein dicker Mann, der grinsend im Schlamm badet. Dazu der Vermerk: «Jetzt kannst du endlich tun, was dir gefällt.» Analog dazu folgen Einladungen für Frauen-Sites. Darauf fesche Jungs in Anglershorts und Sprüche wie: «Wenn du nach den Sternen greifst, hebt sich auch dein Busen.» Nebst dem zweckoptimistischen Schenkelklopfen soll die Ermunterung zur Schamlosigkeit, so scheint es, darüber hinweghelfen, dass der Zenit des Lebens überschritten ist. Dazu locken Angebote für Vorsorgeeinrichtungen und Wellnessferien, abgemischt mit knallharten Realitychecks: 50-plus-Gesundheitsberatungen, Vitaminpräparate, Blutdruckmessungen, Inkontinenzbinden. Tipps zu bioidentischen Hormonen, Yogakursen und Gleitcrèmes gegen Wechseljahrbeschwerden machen die Runde. Als ich mir während eines Essens bei Freunden schwitzend die Jacke abstreife, flüstert meine Tischnachbarin verschwörerisch: «Menopause?» Ich lehne mich zu ihr hinüber und zische: «Nein, Minergie.» Kurz, ich komme mir vor wie Alice im Wunderland, die dem falschen weissen Kaninchen in den Bau gefolgt und in einer grotesken neuen Welt aufgetaucht ist.
Während Alice aber irgendwann wieder in ihr gewohntes Leben zurückschlüpft, habe ich keine andere Wahl, als mich meiner neuen Wirklichkeit widerwillig anzunähern. Ich begehre zwar immer wieder gegen sie auf, mache trotzig den Handstand, statt nach den Sternen zu greifen (fordert den Busen auch heraus), oder klinke mich aus, sage mir: «50 ist das neue 40! Soll es sich doch verpissen, das Alter. Ha!» Ich fühle mich dann wie ein Fels in der Brandung, gelassen, souverän, cool. Vor kurzem blickte mich ein junger Kollege hingerissen an und hauchte: «Oh, Old School. Verdammt sexy!» Und dies nur, weil ich statt der elektronischen eine Papieragenda gezückt hatte. Inzwischen nehme ich es sogar locker, wenn mich jemand nicht mag. Mehr noch, es macht mir diebisch Spass, anzuecken, den Finger auf wunde Punkte zu legen. Längst habe ich keine Angst mehr, zu sagen, was ich denke. Auch das ist ein grossartiges Gefühl.
Dennoch sinke ich immer wieder in mich zusammen, immer wieder zerbricht der Fels in Kieselsteine. Denn der Strudel der ablaufenden Zeit dreht sich schneller und schneller. Bange realisiere ich, dass ich altersmässig sogar schon bald auf der Kippe des für Unternehmen Erträglichen stehe. «Altes Eisen!», schreien mir fast wöchentlich die Schlagzeilen von Elaboraten entgegen, die sich mit der Zukunft der Ü-50- Arbeitnehmer auseinandersetzen. Die Alten sollen weg, die Kosten runter, wenn schon, dann müssen die Jungen ran. Die Schrotthändler dürften sich angesichts dessen die Hände reiben, ich aber kaue grimmig an den Nägeln und rechne zurück: Ich war doch eben erst 38 und grillierte Bistecca fiorentina in einem Agriturismo in der Toscana. Das war vor zwölf Jahren. Wie konnten die einfach so zerrinnen? Bin ich wirklich schon ein altes Eisen? Jetzt, da ich endlich zu ahnen glaube, wie das Leben geht, und bereit bin, auch beruflich so richtig anzufangen?
Denn viele vor mir, die ebenfalls nicht anfangen wollten aufzuhören, haben ihre Stelle verloren, weil sie nicht mehr jung genug waren. Warum sollte das nicht auch mir widerfahren? Und was dann? Wäre ich auf dem Arbeitsmarkt überhaupt noch vermittelbar? «Wir haben immer mehr ältere Arbeitssuchende. Davor dürfen wir die Augen nicht verschliessen», konstatiert Danica Ravaioli, Leiterin Human Ressources von Adecco Schweiz, einem der weltweit grössten Personaldienstleister, und meint tröstend: «Das Alter allein ist für mich bei der Jobvermittlung längst nicht mehr massgebend. Wichtig sind vielmehr der Wille, Neues zu lernen, Risikofreudigkeit, Ehrgeiz sowie die Fähigkeit, strategisch zu denken und komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Bringen Sie diesen Drive mit, stehen die Chancen gut, auch als Ü-50-Jährige wieder eine Arbeit zu finden, die zu Ihnen passt.»
Viel Zeit als Vollmitglied der erwerbstätigen Gesellschaft bleibt mir nicht mehr
Ich verstehe: Sich an den Gedanken zu gewöhnen, sich neu erfinden zu müssen, ist das Gebot der Stunde. Da bin ich dabei. Doch so kühn ich mich auch neu erfinden könnte, viel Zeit als Vollmitglied der erwerbstätigen Gesellschaft bleibt mir trotzdem nicht mehr. Ginge es nach den Gepflogenheiten der Wirtschaft, bin ich vielleicht in zehn Jahren bereits frühpensioniert, aus dem Arbeitsleben rausfluktuiert. Und falls nicht, kurz darauf offiziell pensioniert, was für mich schon fast einer narzisstischen Kränkung gleichkommt. In einem festgelegten Alter aufhören zu müssen, obwohl das, womit ich mein Geld verdiene, meine Leidenschaft ist, erscheint mir als ein veraltetes, ja grausames Konzept. «Mit 64 oder 65 in den sogenannten Ruhestand zu gehen, ist für viele wie ein Sprung ins Nichts», bestätigt Helmut Bachmaier, Kulturgerontologe an der Universität Konstanz, lakonisch. Die Pensionierung, erklärt er, wurde 1889 vom deutschen Reichstag unter Führung Otto von Bismarcks beschlossen und das Rentenalter auf 70 festgelegt – bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 40 Jahren. Das Konzept der Pensionierung wurde von anderen Ländern übernommen, das Rentenalter auf 65 gesenkt, die Schweiz führte es 1948 ein. «Seither ist die Lebenserwartung aber um vierzig Jahre gestiegen und steigt noch immer», sagt Bachmaier. «Angesichts dessen könnte das Rentenalter heute sogar bei 76 liegen.»
Ich fände diese Aussicht befreiend, denn sie würde mir in meinem Strudel zumindest beruflich Luft verschaffen. Doch würde auch dies die Zeit letztlich nicht aufhalten. Die Zeit wartet nicht, hält sich weder an gesellschaftliche Verträge noch an meine Pläne. Nicht dass ich mich nun dazu hinreissen liesse, eine Liste der Dinge zu erstellen, die ich vor dem nächsten runden Geburtstag erfüllt haben muss: Helikopterfliegen, die Mongolei durchqueren, Sex auf dem Feldbett. Aber der Zeitdruck, der an mir nagt, meine Wut über das Schwinden des jugendlichen V treiben mich an, Pläne umzusetzen, mit denen ich schon lange schwanger gehe. Ein Buch über den Jemen schreiben zum Beispiel oder dem Altern neue Ideen geben. Und beim Gebären, so hoffe ich, werde ich mich selbst vergessen. Längst habe ich den Satz «Ich habe ja noch Zeit» aus meinem Vokabular gestrichen. Den überlasse ich den Jungen – obwohl ja im Prinzip niemand weiss, wie viel Zeit ihm tatsächlich noch bleibt.