«Ich war zu beschäftigt, Feministin zu sein»
- Interview: Jessica Prinz, Aleksandra Hiltmann; Fotos: Sabine Weiss
Die 93-jährige Sabine Weiss gilt als Vertreterin der humanistischen Fotografie und wurde soeben für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Wie sie sich selber sieht und warum ihr die Auszeichnung Kopfzerbrechen bereitet, verrät sie im Gespräch mit annabelle.
Zürich Oerlikon, 9.30 Uhr in der Lobby des Swissôtel. Wir warten auf die Westschweizer Fotografin Sabine Weiss, die letzte Woche mit dem Lebenswerk-Preis der Swiss Photo Academy ausgezeichnet wurde. Die 93-Jährige gilt als eine der einflussreichsten Fotografinnen unserer Zeit. Sie versteht es besonders gut, Menschen mit grosser Empathie darzustellen. Mit dieser Fähigkeit überzeugte sie nicht nur ihr Publikum, sondern auch die Jury.
Ein wenig Nervosität ist immer im Spiel, wenn man jemandem begegnet, den man bewundert. Wir sind zusätzlich nervös, weil wir nicht wissen, ob wir das Interview mit der Wahlfranzösin auf Englisch führen können. Mit 26 heiratete sie den US-amerikanischen Maler Hugh Weiss und lebte mit ihm zusammen bis zu seinem Tod 2007 in Paris. Wir begrüssen uns auf Französisch und Madame Weiss wechselt automatisch ins Englische.
«Entschuldigt, wenn ich ein wenig undeutlich spreche. Ich habe nicht geschlafen. Überhaupt nicht. Vielleicht 15 Minuten, heute früh, von 6 bis 6.15 Uhr. Vielleicht, weil ich gestern Nachmittag noch einen Kaffee getrunken habe. Aber okay, ich kann auch morgen noch schlafen.»
Eine Verabredung wegen Schlafmangels abzusagen, kommt für Sabine Weiss nicht infrage. Dafür ist sie zu pflichtbewusst und pragmatisch. Pragmatisch ist auch ihre Reaktion auf den Preis für ihr Lebenswerk.
«Ich bin natürlich sehr, sehr glücklich und stolz, so etwas zu gewinnen, so eine schöne Auszeichnung. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiss, wo ich sie hinhängen soll.»
Mit 17 Jahren zog Sabine Weiss aus dem Wallis nach Thalwil ZH, um dort als Au-pair zu arbeiten. Schon damals fotografierte sie in ihrer Freizeit.
«Ich war jung. Ich fragte mich, was ich in meinem Leben machen will. Ich wusste nämlich, dass ich etwas tun musste. Und weil ich damals schon gern fotografierte, sagte ich mir: Ja, warum nicht Fotografin werden. Ich habe es meinem Vater erzählt und er war einverstanden. Er war zu lieb, um etwas gegen mich oder meine Pläne zu sagen. Vielleicht war es ein Privileg, aber ehrlich gesagt weiss ich gar nicht, was andere Frauen zu dieser Zeit taten. Die gingen vielleicht länger zur Schule.»
Dass Sabine Weiss grundsätzlich lieber ihr Ding durchzieht, als auf andere zu achten, spiegelt sich auch in ihrer Arbeit wieder. Sie habe keine Vorbilder gehabt, habe sich die Bilder anderer nicht angeschaut. Dafür habe sie keine Zeit gehabt. Ausserdem sei damals das Angebot an Ausstellungen und Fotobänden in Paris klein gewesen. Welches ist ihre liebste Aufnahme?
«Meine eigenen Bilder liebe ich alle (lacht). Nein, nicht alle, aber sehr viele davon. Ich kann mich nicht für ein Lieblingsbild entscheiden. Ich würde mich wohl eher umbringen, als ein Einziges auswählen zu müssen. Es ist ein Vergnügen, den richtigen Moment zu erwischen, ohne den Leuten, die man fotografiert, zu viel Mühe zu bereiten. Ein gutes Bild ist für mich eines, das mich berührt, das etwas Starkes zeigt – ob Glück oder Trauer.»
In ihrem Leben hat Sabine Weiss wohl alles fotografiert. Oft waren es Auftragsarbeiten, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Besonders reizten sie aber Reportagen, denen sie sich gern intensiver gewidmet hätte. Weiss liebte das Reisen, allein unterwegs oder in Begleitung ihres Mannes. Ihr Mann – die Liebe ihres Lebens. 58 Jahre waren die beiden verheiratet. Nie hätten sie gestritten, es sei eine fantastische Beziehung gewesen. Das Heiraten an sich sei ihr weniger wichtig gewesen.
«Als wir uns zum ersten Mal trafen, wusste ich sofort, dass ich mein ganzes Leben mit ihm verbringen wollte. Da blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu heiraten.»
Sabine Weiss passt in keine Schublade. Die Fachwelt bezeichnet sie gerne als Feministin, sie lobt ihre Bilder, auf denen starke Frauen zu sehen sind, sie feiert Sabine Weiss als Star der humanistischen Schule der Fotografie, als Vorreiterin, die 1948 in Paris Hosen trug, als sich das für Frauen nicht schickte. Sie selber hat eine bescheidene Sicht auf ihr Schaffen und sieht sich nicht als Vorbild für andere Frauen.
«Ich war gar nichts. Ich war keine Humanistin, ich war keine Feministin, ich war nicht intelligent – nichts. Ich habe einfach meine Arbeit gemacht. Viel Arbeit. Ich war zu beschäftigt, Feministin zu sein.»
Aber ist es nicht genau das, was Feminismus ausmacht? Sein Ding durchzuziehen, ohne über das Geschlecht nachzudenken?
«Wenn Feminismus bedeutet, hart zu arbeiten, dann ja – dann bin ich Feministin.»
Dann wird es Zeit für Sabine Weiss Zeit, sie muss los, damit sie ihr Flugzeug nach Paris noch erwischt. «Wollt ihr meine schönen Blumen mitnehmen?», fragt sie uns. Man habe sie ihr an der Verleihung geschenkt. «Aber was soll ich mit Blumen im Flugzeug?»
Beim Lift angekommen wischt Sabine Weiss wie selbstverständlich mit ihrer Hotelkarte über den Sensor, um das Stockwerk auszuwählen. Sie habe sich nie alt gefühlt, sagt sie. Bis zu ihrem 90. Geburtstag, an dem ein paar Freunde eine kleine Feier für sie organisierten. Da habe sie realisiert, wie alt sie ist.
«Aber das ist ok. Ich kann mich bewegen. Und nächsten Monat bekomme ich eine neue Schulter. Letztes Jahr war das Knie dran. Vielleicht fange ich mit der neuen Schulter wieder an zu fotografieren.»