«Ich war nicht depressiv, weil ich dünn war»
- Interview: Kerstin Hasse; Foto: Getty Images
Kelly Clarkson hat soeben ihr neues Album veröffentlicht – das erste, das sie nicht im Labelvertrag produzierte, den sie mit ihrem Castingerfolg gewann. Wir haben mit ihr über Kreativität, Hasskommentare im Internet und Bodypositivity gesprochen.
annabelle.ch: Kelly Clarkson, Ihr neues Album heisst «Meaning of Life». War es Ihr Sinn des Lebens an diesen Punkt zu kommen und dieses Album aufzunehmen – als Befreiungsschlag – nach 15 Jahren Zusammenarbeit mit RCA Records?
Kelly Clarkson: Der Sinn jedes Lebens ist es, das zu tun, was einem gefällt – zusammen mit Leuten, die man liebt und respektiert. Dieses Album ist ein Wendepunkt in meiner Karriere, und das geniesse ich sehr. Ich bin glücklich.
In einer US-Talkshow sagten Sie, Sie hätten dieses Album verdient. Ist es Ihr Lohn für all die Jahre, in denen Sie nach Ihrem «American-Idol»-Erfolg an das Label gebunden waren?
Für jede Künstlerin und jeden Künstler ist ein neues Album ein neues Kapitel im Leben. Mein Vertrag war eine arrangierte Heirat, die sehr erfolgreich, aber auch ungesund war und mich zeitweise sehr unglücklich machte. Ich bin eine erwachsene Frau, und ich habe das Beste aus der Situation gemacht. Ich wusste ja gar nicht, dass etwas nicht stimmt. Ich dachte, das sei normal, und alle Leute in dieser Branche seien unglücklich.
Dem ist aber nicht so.
Nein, und nun, da ich den Unterschied kenne, würde ich nie mehr zurückgehen. Dieses Album ist anders, und das kann man hören. Die Botschaften sind andere, die Tonalität – man kann hören, was Kelly Clarkson kann. Bei den Alben davor hatte ich so viel zu bieten, aber ich fühlte mich oft eingeschränkt. Ich musste oft Kompromisse finden. Die Arbeit mit Atlantic, meinem jetzigen Label, war komplett anders. Es war ein sehr respektvolles, gesundes und positives Umfeld, in dem ich arbeiten durfte. Es ist ein Album, das ich einfach unbedingt machen wollte.
Dann steht für einmal der Erfolg der Platte gar nicht so sehr im Zentrum?
Natürlich möchte ich, dass das Album erfolgreich wird, ich bin keine Idiotin. Man will, dass die Leute das, was man selbst liebt, auch lieben. Gleichzeitig: Es war so wichtig für mich, musikalisch diesen Fussabdruck zu hinterlassen. Die Stimme auf diesem Album ist nicht überproduziert. Meine Stimme klingt so, wie ich auf meiner Tour klinge. Ich bin sehr stolz auf meine Arbeit. Das würde es einfacher machen, die bittere Pille zu schlucken und zu akzeptieren, wenn die Platte nicht so erfolgreich wäre.
Auf «Meaning of Life» gibt es den gleichnamigen Song, in dem Sie singen: «You kiss me I know who I am.» Mussten Sie erst Ihren Mann treffen, um zu wissen, wer Sie sind?
Nein, ich wusste auch schon sehr gut, wer ich bin, bevor ich geheiratet habe, und ich glaube nicht, dass es nötig ist zu heiraten, um glücklich zu werden oder sich selbst kennenzulernen. Aber für mich persönlich ist meine Ehe eines der grossartigsten Dinge, die mir im Leben passiert sind. Es ging mir sehr gut allein, ich war selbstbewusst und zufrieden. Wenn du aber jemanden findest, der dich glücklich macht, dann ist das Leben noch ein bisschen besser. Du hast jemanden, der dich herausfordert, der dich liebt – so sehr sehr liebt, wie du noch nie geliebt wurdest. Das ist eine wunderschöne Sache. Wir sind ein grossartiges Team und haben eine wunderbare Familie.
Sie selbst sind als Scheidungskind aufgewachsen.
Ich bin mit zwei unglücklichen Elternpaaren aufgewachsen. Ich weiss, was man nicht tun sollte, was nicht funktioniert. Deshalb bin ich in meiner Beziehung ein grosser Fan der Sauerstoffmasken-Mentalität.
Das müssen Sie erklären.
Das funktioniert wie im Flugzeug mit den Sauerstoffmasken. Mein Mann und ich müssen uns erst um uns kümmern und dann um unsere Kinder. Ich glaube, wir sind bessere Eltern, wenn es uns selbst gut geht. Deshalb versuchen wir sehr offen zu kommunizieren und miteinander intim zu sein – auf verschiedenen Ebenen. Wir versuchen mehr als nur zufrieden zu sein mit unserem Leben, und ich glaube, das hat auf unsere ganze Familie einen grossen Einfluss. Vielleicht liege ich da auch falsch. Natürlich kann es sein, dass unsere Kinder irgendwann einen Therapeuten brauchen, aber ich versuche einen Weg zu gehen, der in meinem Leben noch nicht gegangen wurde.
Sie sind seit kurzem Jurorin bei der US-Ausgabe von «The Voice». Was geben Sie als ehemalige Castingshow-Teilnehmerin den Talenten mit?
Ich würde keine meiner Entscheidungen zurücknehmen, und das sage ich auch allen Teilnehmenden. Ich erkläre ihnen, dass sie eine grosse Chance haben. Fernsehen ist ein sehr einflussreiches Medium, wenn man versucht, es da draussen zu schaffen. Es ist ein guter Weg in die Branche – ich bin der lebende Beweis dafür. Aber ich sage ihnen auch: Ihr müsst versuchen zu bleiben, wer ihr seid. Man sollte sich für den Erfolg nicht verbiegen, denn wenn die Show vorbei ist, wird es mit einem aufgesetzten Ich nicht mehr klappen.
Haben Sie es denn damals geschafft, Sie selbst zu bleiben?
Ich denke schon. Vielleicht auch, weil ich schon immer sehr selbstbewusst war. Ich habe von Beginn an nur Make-up getragen, wenn ich auf der Bühne stand. Die Produzenten von «American Idol» meinten: Kelly, du solltest dich besser immer schminken! Und ich sagte ihnen, dass ich Make-up einfach nicht mag und allergisch darauf reagiere. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich geniesse es, mich ab und zu aufzubretzeln – aber nicht die ganze Zeit. Unbewusst habe ich damals eine Grundlage geschaffen für das, was die Leute um mich herum von mir erwarten dürfen – und ich bin froh, dass ich schon so früh ich selbst bleiben konnte.
Das ist nicht immer einfach. Vor allem, wenn, wie in Ihrem Fall, die ganze Welt über Ihr Äusseres und besonders über Ihr Gewicht diskutiert. Ihr Körper war immer ein Thema in den Medien. Wie gehen Sie damit um?
Damit muss ich klarkommen, seit ich in der ersten Episode von «American Idol» war. Die Leute haben bei diesem Thema einfach mitgeredet. Ich fühlte mich schon immer sehr wohl in meiner Haut, das war sicher ein Vorteil. Ich treffe meine Entscheidungen im Leben auf der Grundlage dessen, was mich glücklich macht – jede Person sollte das tun. Vielleicht ist das meine Südstaaten-Einstellung, aber ich finde, jeder sollte sich um seine eigenen Dinge kümmern. Es ist mir zu anstrengend, mich dauernd darum zu kümmern, was andere von mir halten – diese Einstellung gebe ich auch meinen Kindern mit. Unsere 16-jährige Tochter beschäftigt zurzeit zum Beispiel sehr, wie fies Menschen in den Social Media sein können.
Und was raten Sie ihr?
Ich bin eine sehr ehrliche Mutter, wenn es um diese Dinge geht. Ich sage ihr: Ja, Leute können echt fies sein, und es tut mir leid, aber wahrscheinlich wird dir das immer wieder passieren. Man kann entweder gar nicht erst in den Social Media vertreten sein, oder man versucht, über den Gemeinheiten zu stehen und sich unabhängig von der Meinung anderer gut zu fühlen – besonders, wenn man in der Öffentlichkeit steht.
Ein Auszug aus einem Interview von Ihnen ging vor wenigen Tagen viral. Darin hiess es, dass Sie zeitweise Selbstmordgedanken hatten, weil Sie so dünn waren. Auf Twitter korrigierten Sie diese Aussage kurz darauf.
Ja, das wurde leider falsch wiedergegeben, deshalb habe ich das online richtiggestellt. Es gab Zeiten, in denen ich nicht gesund war, obwohl ich gesund aussah. Nehmen wir beispielsweise die Zeit, in der ich das Album «Breakaway» rausbrachte. Ich hatte gerade drei grosse Touren hinter mir, ich war nonstop am Arbeiten und die ganze Zeit krank, ich lebte von Antibiotika, die mich auf den Beinen halten sollten. Um mich herum hatte ich Menschen, die nicht sehr nett zu mir waren, die mir das Gefühl gaben, faul zu sein, obwohl ich wirklich 365 Tage im Jahr arbeitete. Ich war zu jung und zu naiv, um es besser zu wissen. In dieser Zeit stieg ich aufs Laufband und rannte und rannte und rannte. Es war die einzige Zeit, in der ich allein war und niemand mit mir redete. Und das war mein Punkt bei dieser Aussage: Man kann nicht immer davon ausgehen, dass jemand, der äusserlich gesund erscheint, auch innerlich gesund ist, nur weil alles perfekt aussieht. Ich war nicht depressiv, weil ich dünn war. Ich war depressiv, weil ich müde war.
Interessanterweise haben ja viele Frauen sehr positiv auf diese Aussage reagiert. Sie sind zur Botschafterin für ein gesundes Körpergefühl geworden.
Ich bin eine normale Person, und eigentlich führe ich ein sehr normales Leben. Normalerweise bin ich nicht von Berühmtheiten umgeben. Ich bin, wie ich finde, das, was man sich unter einem Mädchen von nebenan vorstellt. Aber weil ich im Scheinwerferlicht stehe und vielleicht nicht das bin, was sich die Leute unter einem Popstar vorstellen, können sie sich besser mit mir identifizieren. Vor allem als Mutter denke ich, dass ich als öffentliche Person kein besseres Vorbild sein könnte als eine Frau, die mit sich selbst zufrieden ist.
Die erste Gewinnerin: Kelly Clarkson (35) hat 2002 die erste Staffel von «American Idol» gewonnen und wurde mit millionenfach verkauften Platten und zahlreichen Preisen zur erfolgreichsten Gewinnerin einer Castingshow. Nach 15 Jahren ist Clarksons Vertrag mit dem Label RCA Records, den sie als Gewinnerin der Show erhielt, ausgelaufen. Ihr neues Album «Meaning of Life», das Ende Oktober erschienen ist, hat sie bei Atlantic Records aufgenommen. 2013 heiratete sie Brandon Blackstock, zusammen mit ihm hat sie vier Kinder, zwei davon brachte Blackstock mit in die Ehe.