Erst verlor er seine Ehe, dann veränderte sich seine Vaterrolle. Plötzlich war unser Autor für seine Töchter nicht mehr Dad, sondern der schwule Bill.
Nach der Scheidung begann meine Tochter Marisa plötzlich, mich Bill zu nennen. «Ich bin dein Dad», zischte ich sie an, die Zähne fest zusammengebissen. Dann fing ich mich wieder und lächelte die Frau hinter der Supermarktkasse schief an, um ihr zu versichern: So sind sie eben, die Kids von heute. «Alles klar, Bill», sagte meine Tochter und ging schon mal nach draussen, so ungerührt, wie es nur eine 14-Jährige tun kann.
Anfangs versuchte ich, diese neue Form der Ansprache zu ignorieren. Zum einen, weil ich kein weiteres Öl ins Feuer giessen wollte – das Verhältnis zu meiner Tochter war ohnehin schon angespannt. Zum anderen, weil ich mir einredete, dass solche Veränderungen automatisch passieren, wenn die eigenen Kinder erwachsen werden. Als dämmerte Marisa langsam: Mein Vater ist auch nur ein Mensch, den man ansprechen kann wie jeden anderen.
«Sie testet ihre Grenzen aus, das ist ganz normal»: So klangen für gewöhnlich meine Beschwichtigungsversuche. Meine Mutter aber war nicht überzeugt. «Deine Tochter hat keinen Respekt vor dir», sagte sie einmal mit skeptisch hochgezogener Augenbraue – und erkannte sofort an meinem Blick, welch wunden Punkt sie damit traf. Plötzlich war sie es, die zu beschwichtigen versuchte. «Ich will mich nicht in die Erziehung deiner Kinder einmischen. Du bist ein guter Vater.»
Aber war ich das wirklich? Um ehrlich zu sein: Nach der Scheidung von meiner Frau stolperte ich eine Zeit lang orientierungslos durch die Welt. Nicht genug damit, dass ich kein Ehemann mehr war. Auch meine Vaterrolle veränderte sich schlagartig. Ich war jetzt der Vater mit dem Coming-out, der schwule Dad.
Es schien, als hätten Schuldgefühle und Scham eine mächtige Allianz gegen mein Selbstbewusstsein geschmiedet. Schon an der Sprache, mit der sich queere Menschen nach ihrem Coming-out konfrontiert sehen, merkte ich, dass sich etwas Grundlegendes verändert hatte. Aus Ehe wurde gleichgeschlechtliche Ehe, aus Freund oder Freundin Partner, aus Mann oder Frau Ehepartner. Vielleicht lag es auch an diesen neuen Begriffen, dass ich mich von meiner Tochter Bill nennen liess und nicht länger auf Dad bestand.
Jede Scheidung stellt die Verhältnisse zwischen Eltern und Nachwuchs auf den Kopf. Fast nie verläuft dieser Prozess reibungslos. In meinem Fall war die Sache jedoch doppelt kompliziert. Als meine Ex-Frau mit unseren Kindern in eine andere Stadt zog, tat sich ein 700-Meilen-Graben zwischen uns auf. Die Enthüllung meiner wahren Sexualität fügte der räumlichen schliesslich auch noch eine emotionale Distanz hinzu. Meine Töchter brauchten Zeit, um ihren neuen Vater zu akzeptieren.
Jeder Wochenendbesuch fühlte sich wie ein erstes Date an. Keine gemeinsame Sekunde wollte ich mit meiner 16-jährigen Sophie und meiner 14-jährigen Marisa verschwenden. Kino, Abendessen, gelöste Stimmung und tiefgründige Gespräche bei langen Spaziergängen: All das versuchte ich perfekt durchzuplanen. Aber was dachte ich mir nur dabei? Wie sollten sich zwei Teenager auf einen Film einigen, ohne dass die Fetzen fliegen? Und was sollten sie schon sagen ausser «keine Ahnung», wenn ich sie fragte, wie es in der Schule lief? Wann immer wir uns trafen, meistens im kleinen Häuschen meiner Mutter, fühlte ich mich, als hätte jemand unsere ganze Familie in einen Dampfkochtopf geworfen. Ständig drohte uns die angespannte Situation um die Ohren zu fliegen.
«Du bist nicht mehr mein Dad», schrie mich Sophie einmal an. «Du siehst ihm nicht mal mehr ähnlich», fügte Marisa hinzu.
Zumindest Letzteres konnte ich nicht leugnen. Im Fitnessstudio hatte ich mir fast zwanzig Kilo Muskelmasse antrainiert. Ausserdem begann ich, mir die Haare abzurasieren und liess mir einen Ziegenbart stehen – den ich obendrein pechschwarz färbte. Es war eben nicht nur das Verhältnis zu meinen Kindern, das sich neu sortierte, sondern auch meine Identität in der schwulen Community. Also probierte ich verschiedene Looks durch. Wären die Village People zu dieser Zeit auf Reunion-Tour gegangen, hätte man mich problemlos in ihrer Mitte platzieren können, als etwas in die Jahre gekommenen Biker.
Während sich Dates mit meinen Töchtern vor allem verkrampft anfühlten, kamen mir Dates mit anderen Männern vor, als wäre ich ohne Karte und Orientierungssinn in einem fremden Land ausgesetzt worden. Es galt, verworrene Strassen zu erkunden und geheime Sprachen zu entschlüsseln. Nach einigen tragischen Versuchen lernte ich schliesslich einen anderen schwulen Vater kennen.
Paul trug stets einen unauffälligen Mantel und ebenso unauffällige Hemden – als wäre ihm gar nicht bewusst, wie gut er eigentlich aussah. Anders als jene Männer, die ich vorher getroffen hatte, sah er im echten Leben genauso aus wie auf seinen Dating-App- Profilbildern, vielleicht sogar noch besser. Natürlich verdrehten seine Kinder die Augen, wenn er klassische Elternwitze erzählte, und doch merkte ich sofort, dass sie seinen Lebensweg respektierten und ihn aus tiefstem Herzen liebten. Ein schwuler Vater, der einfach nur ein Vater war: Genau dieses Schlüsselerlebnis hatte ich gebraucht. Ich war hin und weg. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich Licht am Ende des Tunnels sehen. Ein Leben und eine neue Identität lagen vor mir, von denen ich nicht mal zu träumen gewagt hatte. Was, wenn ich Pauls Ehemann sein könnte?
Wir waren schon seit ein paar Monaten zusammen, als er zum ersten Mal mit ansehen musste, wie die Farbe aus meinem Gesicht entweichen kann. Meine Ex-Frau rief an diesem Abend an und erzählte mir, dass sie unsere jüngere Tochter völlig aufgelöst in ihrem Zimmer gefunden hatte. Ein Mitschüler hatte die Worte «Marisas Dad ist eine Schwuchtel» an die Tafel im Klassenzimmer gekritzelt.
«Es ist, als wäre mein Vater gestorben», schluchzte Marisa.
Paul nahm meine Hand und sagte, ich solle tief durchatmen. «Sei der Fels in der Brandung, den deine Kinder jetzt brauchen», fuhr er schliesslich fort. «Glaubst du etwa, dass sie ihren alten Vater nicht vermissen?» Er zeigte auf meinen kahlen Schädel und fuhr mit seiner Hand durch meinen Bart, als wollte er andeuten, dass all meine Probleme mit meinem veränderten Äusseren zusammenhingen. In Wahrheit ging es natürlich um etwas anderes.
Ein Mitschüler hatte
die Worte “Marisas Vater
ist eine Schwuchtel”
an die Wandtafel im
Klassenzimmer geschrieben
Ich hörte trotzdem damit auf, mir die Haare abzurasieren und trennte mich auch von meinem Ziegenbart. Zugleich bestand ich wieder darauf, dass meine Töchter mich Dad nannten. Wann immer sie dieser Forderung widersprachen, tadelte ich sie mit neu gefundener Vehemenz. Ihre Antwort war: Stille. Erst ignorierten sie meine Anrufe, dann auch meine Textnachrichten. «Wer zahlt eigentlich für ihre schicken Handys?», fragte Paul. «Aber sie brauchen mich doch!», antwortete ich. «Was, wenn es einen Notfall gibt und sie mich nicht erreichen können?»
«Natürlich brauchen sie dich», erwiderte Paul. «Aber wie lief es denn kurz nach ihrer Geburt? Hast du sie damals nicht auch manchmal weinen und schreien lassen, damit sie lernen, ohne dich einzuschlafen?»
Ich hörte also auf, die Handyrechnungen meiner Töchter zu bezahlen. Aus ihrer Stille wurde Wut – aber das war immerhin eine Reaktion. Als ich sie zu Beginn der Weihnachtsferien abholte und einmal mehr zu ihrer Grossmutter brachte, sah mich Marisa mit eindring- lichem Blick an. Schliesslich sagte sie: «Du hast dich verändert.»
Stille oder Wut – nun musste auch ich entscheiden, wie ich auf diesen Satz reagieren sollte. Mein ganzes Leben über hatte ich zwischen diesen beiden Optionen gewählt: Stille, wenn es darum ging, wer ich wirklich war. Wut, wenn es darum ging, dass mich die Welt nicht akzeptieren wollte. Was hatte ich meinen Kindern damit vorgelebt? Wie sollten sie meine Identität akzeptieren, solang ich mich nicht selbst akzeptierte?
«Du hast recht», sagte ich also. «Ich habe mich verändert. Zum Besseren.»
Als Marisa noch ein kleines Mädchen war, kam sie jede Nacht in unser Schlafzimmer gestapft und machte sich in unserem Bett breit. Irgendwann konnten wir die schlaflosen Nächte nicht mehr ertragen und legten einen Schlafsack für sie neben unser Bett. Dort, sagten wir ihr, könne sie ab sofort schlafen. Ich weiss nicht wie, aber Nacht für Nacht fanden unsere Hände in der Dunkelheit zusammen.
Ich erforschte
eine neue Identität,
die den Mann
auszulöschen drohte,
den meine Töchter
immer als ihren
Vater gekannt hatten
Noch in denselben Weihnachtsferien lag ich einmal nachts wach und blickte aus dem Fenster des kleinen Schlafzimmers, das ich im Haus meiner Mutter bewohnte. Durch die Wipfel einer Kiefer konnte ich den Halbmond sehen. Ich rief Paul an und sinnierte mit ihm über die Vergänglichkeit des Lebens, all die Jahre, die wir schon verloren hatten und nie mehr zurückbekommen würden.
«Dad?» Ich hörte eine leise Stimme und ein sanftes Klopfen an der Tür. Paul hatte die Stimme auch gehört. «Wie hat sie dich gerade genannt?», sagte er spielerisch. Und dann: «Ruf mich später zurück, Daddy.»
«Komm rein», sagte ich zu meiner Tochter. Marisa öffnete die Tür, stapfte durchs Zimmer und kroch zu mir ins Bett. Während ich ihre Hand hielt, dachte ich darüber nach, ob ich mir insgeheim sogar gewünscht hatte, dass meine Kinder mich nach meinem Coming-out Bill nennen würden. Nicht weil ich glaubte, dass sich ihr Bild von mir verändert hatte. Sondern weil ich glauben wollte, dass sie sich verändert hatten und zu jungen Frauen herangewachsen waren.
Tatsächlich war ich derjenige, der sich erst in seiner veränderten Rolle zurechtfinden musste. Ich erforschte eine neue Identität, die den Mann auszulöschen drohte, den meine Töchter zuvor immer als ihren Vater gekannt hatten. Indem ich ihnen erlaubte, mich Bill zu nennen, trug ich also gar nicht zur Entspannung unseres Verhältnisses bei. In Wahrheit goss ich nur noch mehr Öl ins Feuer. Für meine Töchter muss sich das furchtbar angefühlt haben, wie eine Geste der Zurückweisung. Hätte ich durchwegs darauf gepocht, dass sie mich weiterhin Dad nennen, hätte ich ihnen damit auch versichert, dass ich mich nicht über Nacht in irgendeinen Bill verwandelt hatte. Wahrscheinlich hätten sie dann leichter verstanden, dass ich auch nach meinem Coming-out noch immer ihr guter alter Vater war.
William Dameron (rechts) ist ein preisgekrönter US-Blogger, Essayist und Buchautor
Übersetzung: Daniel Gerhardt
© By William Dameron 2019 The New York Times