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«Ich fühle mich als visuelle Person»

«Ich fühle mich als visuelle Person»

  • Text und Foto: Olivia Sasse

Sie wollen das Leben rocken – erst recht: Frauen, die mit Mut und Kraft ihren gesundheitlichen Einschränkungen trotzen. Online-Praktikantin Olivia Sasse hat vier solcher Kämpferinnen getroffen und stellt sie in einer Serie vor. Eine von ihnen ist Laila Grillo, die seit ihrer Kindheit blind ist.

War das Café die richtige Wahl für den Interviewtermin? Ist es auch für Blinde gut zugänglich? Donnerstagnachmittag beim Gleis 12 am Zürcher Hauptbahnhof, Fahrgäste steigen aus und versperren die Sicht, während ich auf meine Interviewpartnerin warte.Vor diesem Gespräch bin ich nervöser als sonst. Laila Grillo ist blind, seit sie ein kleines Kind ist. Und doch scheine ich in dieser Situation unbeholfener zu sein als sie. Soll ich meine Hilfe anbieten oder einfach warten, bis ich danach gefragt werde? Als wir uns gefunden haben, fragt sie mich direkt, ob sie sich bei mir einhängen darf. Unkompliziert und einfach. Wie unser Gespräch.

«Rot ist meine Lieblingsfarbe. Ich mag Weinrot, eine recht dunkle Farbe, die fast schon ins Violette übergeht. Oder Vanille-farbig, nicht ganz weiss, nicht ganz beige, mit einem leichten Stich ins Gelbe. Ich erinnere mich gut daran, wie es war, zu sehen. An die vielen verschiedenen Farbnuancen, an Häuser und das Gesicht meiner Schwester.

Bis ich fünf war, habe ich noch fünf Prozent gesehen. Das entspricht in etwa einem Umkreis von zwei Metern. Darüber hinaus war alles verschwommen. Dann kam die Netzhautablösung. Seit meiner Geburt wusste man, dass dies unausweichlich sein wird, aber nicht, wann es so weit sein wird. Meine Zwillingsschwester und ich kamen zu früh auf die Welt. Ich bekam dabei zu viel Sauerstoff, sie zu wenig. Der Sauerstoffüberschuss hat dazu geführt, dass sich die Zellen der Netzhaut verdoppelt haben und nie richtig zusammenwachsen konnten.

Auch als Nicht-Sehende fühle ich mich noch als sehr visuelle Person. Ich bin mit einer Freundin nach Wales gereist, nur weil die Landschaft in einem Buch so gut beschrieben war. Ich mache mir beim Lesen ein Bild, wie es dort aussehen könnte. Es war von vielen Wasserfällen die Rede, von den wilden Stränden am Meer und vom rauen Klima, das dort herrscht. Meistens hatten wir Wetterglück, aber wir erlebten auch die regnerische Seite von Wales. Dann war es neblig, feucht, nass und dunkel. Fast ausgestorben. Trotzdem hat es mir dort gefallen, es war so, wie ich mir Wales vorgestellt hatte. Die Küste war total zerklüftet, aber das Gras war saftig grün. Ich frage auch immer, welche Farbe das Meer hat. Es war dunkelblau, es könne aber auch mal recht grau sein, sagte man mir. Dass Blinde reisen, scheint viele Sehende zu erstaunen.

Manchmal vermisse ich die Unabhängigkeit und Spontanität. Ich bin zwar auch manchmal alleine auf Reisen, aber das ist sehr anstrengend. Es gibt viel zu organisieren: Wie komme ich von A nach B? Ich muss mir die Strassenamen merken, mich auf Orientierungspunkte konzentrieren wie Unebenheiten im Strassenbelag und mir den Weg genau einprägen, falls in der Nacht keine Fussgänger mehr unterwegs sind. Das sind alles Sachen, die brauchen Konzentration und Zeit.

Gegenüber Blinden gibt es leider viele Vorurteile: Zum Beispiel, dass man nicht gut hört oder dass man nicht gut gehen kann. Die Leute führen mich fast immer zur Rolltreppe, dabei wäre mir die normale Treppe lieber. Menschen mit Behinderungen werden oft unterschätzt. Dabei ist es wichtig, dass man Blinden gegenüber Berührungsängste abbaut. Sport bietet dafür eine gute Gelegenheit, wenn die Teilnehmer offen genug sind. Ich gehe wandern, klettere Bergwände hinauf und fahre Ski – das funktioniert aber nur in einer Gruppe, die Blindheit nicht als ein Problem ansieht, sondern fragt: ‹Okay, wie machen wir das jetzt am besten und wo brauchst du Hilfe?›

Ich werde häufig gefragt, ob es schlimm ist, blind zu sein. Viele ältere Leute sagen: ‹Es tut mir leid, dass Sie nichts sehen.› Aber sie können ja nichts dafür, dass ich nichts sehe, oder? Da kann niemand etwas dafür, ausser vielleicht die Medizin, die noch nicht so weit fortgeschritten war, dass man die Netzhautablösung hätte verhindern können. Aber ich bin niemandem böse. Man kann auch tolle Erlebnisse haben, wenn man nicht sieht. Es hängt viel von der Einstellung und nicht alles nur vom Sehen ab.»

Alle bereits erschienenen Porträts der Kämpferinnen-Serie finden Sie hier.

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