Leben
Hoffnungsträgerin für das Baobab-Geburtsspital: Fatma Suleiman ist Ärztin in Tansania
- Text: Barbara Achermann; Fotos: Flurina Rothenberger
Sie ist unsere Heldin in Tansania: Fatma Suleiman bildet Hebammen und Ärzte aus – und wird später im Baobab-Geburtsspital arbeiten, dessen Bau annabelle unterstützt.
Doktor Fatma fasst Zarubia am Oberarm und hilft ihr in die Hocke. Seit vier Tagen liegt die 19-jährige Frau in den Wehen, seit zwei Stunden in den Presswehen. Ihre Knie zittern, und sie hat diesen entrückten Blick, den Gebärende manchmal haben, diesen Ausdruck einer Todesahnung. Fatma Suleiman dreht sich zur Assistenzärztin. Während sie spricht, beschreiben ihre blutverschmierten Hände den Geburtsverlauf: «In der Hocke senkt sich das Kind oft besser.» Zehn Minuten später: noch immer Stillstand. Die Ärztin wischt sich den Schweiss von der Nase, rückt ihre Brille zurecht und zeigt der Assistenzärztin, wie man die Fruchtblase aufsticht, wie man einen Katheter einführt, um die Blase zu leeren, und wo man drücken muss, um das Kind in den Geburtskanal zu schieben. «Sukuma, sukuma, sukuma!», Pressen, pressen, pressen! – und endlich ist es da, ein Mädchen. Bloss, zum Aufatmen bleibt keine Zeit. Fatma Suleiman eilt sogleich zur nächsten Schwangeren, die in den Presswehen liegt. Im Temeke-Spital in Dar es Salaam gebären die Frauen wie am Fliessband.
Wir waren vor vier Jahren schon einmal hier, in Tansanias Hauptstadt. Seither unterstützt annabelle die Hilfsorganisation CCBRT beim Bau eines Geburtsspitals und bei der Aufrüstung von 16 öffentlichen Spitälern und Geburtshäusern. Eines davon ist das Temeke-Spital im Süden der Stadt. Heute wollen wir sehen, was sich seit unserem letzten Besuch verändert hat. Zunächst fällt uns auf: Es sitzen keine schwangeren Frauen mehr auf dem Boden. Sie teilen sich jeweils zu zweit ein Bett. Neu gibt es auch Vorhänge zwischen den Gebärbetten für ein wenig Privatsphäre, zudem ist es sauberer, luftiger.
Verbesserung Dank «unserer» Hilfsorganisation
Der wertvollste Fortschritt aber ist die Ärztin Fatma Suleiman. Sie wurde von «unserer» Hilfsorganisation angestellt und hier im Temeke eingesetzt, um das Personal auszubilden. Vor vier Jahren sassen viele Krankenschwestern und Hebammen untätig herum oder verschanzten sich hinter Stapeln von Papier. Sie waren zu schlecht ausgebildet, um zu wissen, wie sie helfen können, sahen jeden Tag Kinder sterben, fühlten sich machtlos. Heute messen sie den Frauen den Blutdruck, die Öffnung des Muttermunds, die Abstände der Wehen und schreiben die Werte in eine Patientenakte. Sie massieren ihnen das Kreuz und schenken Tee aus. Die Hebammen haben gelernt, eine Saugglocke zu benutzen oder ein Kind in Steisslage zu drehen. Im vergangenen Jahr starben hier im Spital 47 Frauen bei der Geburt, das sind noch immer viel zu viele, aber zehn weniger als im Jahr zuvor.
Doktor Fatma steht im Gang. «Was wollte ich tun?», murmelt sie zu sich selber. «Ach ja, Antibiotika holen.» Durchschnittlich kommen im Temeke sechzig Babys pro Tag zur Welt. Gerade sind fünf Frauen gleichzeitig am Pressen. Doktor Fatma ist die einzige Gynäkologin im Gebärsaal, zur Seite stehen ihr zwei Assistenzärzte, eine Hebamme und zwei Krankenschwestern. Fatma Suleiman unterrichtet sie alle gleichzeitig, simuliert mit dem Vorhang die Fruchtblase, ballt die Faust zur Plazenta, gibt hier einen Tipp, zeigt dort einen schwierigen Handgriff, spricht eindringlich, aber nie belehrend. Sie sagt: «Wenn du eine fremde Küche betrittst, darfst du nicht als Erstes die Gewürze neu sortieren.» Sie ist erst dreissig Jahre alt, hat aber schon mehr gesehen als so manche alte Ärztin. Notlagen lassen Doktor Fatma nicht verzweifeln, sondern machen sie erfinderisch: Hat es keine Fäden mehr, bindet sie die Nabelschnur eben mit einem sterilen Handschuh ab. Die Krankenschwestern erzählen, seit sie im Temeke helfe, würden hier weniger Babys sterben. Ohne sie wäre es wie vor vier Jahren, als unerfahrene Assistenzärzte mit zittrigen Händen versuchten, die Kinder auf die Welt zu zerren, heillos überfordert und nach zwei Wochen ausgebrannt und desillusioniert. Gestandene Gynäkologen zeigen sich normalerweise nicht in den Geburtsstationen der öffentlichen Spitäler von Dar es Salaam. Man überlässt dieses blutige Feld den Hebammen und jungen Ärzten.
Man sieht Fatma Suleiman die Heldin nicht an. Sie ist eine unscheinbare Frau, klein, zierlich, Jeans, T-Shirt und Kopftuch. Während des Studiums hat die gläubige Muslimin Kondome verteilt und Frauen davon abgehalten, ihre Töchter zu beschneiden. Aufgewachsen ist sie in Arusha, einer der bekanntesten Städte Tansanias, von wo aus Scharen von Touristen in die Serengeti oder auf den Kilimandscharo reisen. Als sie 12 Jahre alt war, fand ihre Grossmutter, es sei nun Zeit zu heiraten. Das Mädchen fragte, ob es nicht wenigstens die Schule abschliessen dürfe. Mit 15 drängte die Grossmutter erneut. Fatma bettelte, sie wolle zunächst das Gymnasium hinter sich bringen. Als sie 20 war, verlor die Grossmutter die Geduld. Sie schimpfte, ihre Enkelin sei eine alte Jungfer und werde nie einen Mann finden. Die junge Frau konnte noch zwei Jahre Medizinstudium rausschlagen, dann gab sie dem Druck der Familie nach. Man präsentierte ihr einen Mann nach dem anderen. Sie wollte jeweils nur eines wissen: «Kannst du dir vorstellen, dass ich mein Studium abschliesse und als Ärztin arbeite?» Drei verneinten, der vierte sagte Ja. Sie heirateten.
Doktor Fatma geht in die Postnatal Ward, in die Abteilung, wo diejenigen Frauen liegen, die bereits geboren haben. Sie erklärt einer Krankenschwester, welche Untersuchungen sie nach einer Geburt machen muss, denn Infektionen sind die häufigste Todesursache im Wochenbett. Ihre Taktik: Fragen stellen statt Lektionen erteilen.
Doktor Fatma muss sich täglich zwingen, den Ungeborenen abends den Rücken zu kehren
Zwanzig Minuten später sind wir zurück im Gebärsaal. Die Stimmung ist angespannt, eine Frau mit Zwillingsschwangerschaft liegt in den Presswehen. Der Assistenzarzt steht mit hängenden Armen neben dem Bett. Das erste Kind ist auf der Welt, das zweite steckt seit Minuten fest. Doktor Fatma greift nach dem Stethoskop und sucht den Puls des Kindes, dann versucht sie ihn an der Nabelschnur zu ertasten. Nichts. Sie, die bis jetzt stets beherrscht und konzentriert geblieben ist, rennt in den Innenhof und bricht dort in Tränen aus. Das zweite Kind ist im Bauch der Mutter gestorben. Fatma Suleiman macht sich Vorwürfe, sie hätte nicht von der Seite des Assistenzarzts weichen dürfen. Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände – und arbeitet weiter. Morgen wird sie mit dem jungen Arzt besprechen, was falsch gelaufen ist.
Ihr Studium hat Doktor Fatma in Tansania begonnen und mit einem Stipendium in Südafrika abgeschlossen. Man hat ihr dort in einer modernen Klinik eine Stelle angeboten, für mehr Lohn und weniger Drama als in Dar es Salaam. Sie lehnte ab, wollte zurück in ihre Heimat, «weil mich die Frauen hier brauchen». Als das Licht golden durch die Fenster fällt, ist es Zeit zu gehen. Sie muss sich täglich zwingen, den Ungeborenen abends den Rücken zu kehren. Bevor wir ins Auto steigen, will sie uns die neue Frühgeburtsabteilung zeigen, «um euch aufzumuntern», wie sie sagt.
Was beim letzten Besuch noch eine baufällige Küche war, ist heute ein freundlicher Raum. Die Kinderkrankenschwester Bernadetha Shine hat hier mit Unterstützung der Hilfsorganisation CCBRT die sogenannte Känguru-Station aufgebaut; einen Saal für Frühgeburten. Sie bindet die Frühchen eng auf den Körper der Mutter, Haut an Haut, damit sie warm haben, die Milch riechen, den Herzschlag hören. Mit ihren Wollmützchen und den greisen Gesichtchen sehen sie aus wie Zwerge. Bernadetha ist ganz vernarrt in sie, umsorgt sie liebevoll, studiert und dokumentiert ihre Entwicklung akribisch in einem dicken Buch. Monate nach der Geburt ruft sie die Eltern an und erkundigt sich, wie sich ihre Schützlinge entwickeln, zahlt manchen das Busticket, damit sie ihr Kind zur Kontrolle ins Spital bringen können. Seit der Eröffnung vor eineinhalb Jahren haben 95 Prozent der Frühgeburten überlebt.
Wir drängeln uns durch den dichten Verkehr der 4-Millionen-Metropole, stehen häufiger still, als dass wir fahren, schwitzen. Dar es Salaam gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten der Welt. Zwar ist die Geburtenrate hier mit 2.3 Kindern pro Frau vergleichsweise tief, aber die Leute strömen vom Land in die Stadt. Das ist mit ein Grund, weshalb die staatlichen Spitäler fast zusammenbrechen. Fatma blickt auf ihre Uhr, sie muss ihre beiden Kinder von der Schule abholen. Normalerweise mache das ihr Mann. Er ist Informatiker, hat kürzere Arbeitszeiten und verbringt daher mehr Zeit mit den Kleinen. Die Hausarbeit teilen sie sich hälftig, «zum Entsetzen meiner Schwiegermutter!». Fatma lacht.
In zwei Jahren eröffent das Baobab-Geburtsspital
Im Hauptquartier der Hilfsorganisation gehen wir zu einem Gelände, wo vor vier Jahren hüfthohes Elefantengras stand. Das einstige Brachland ist heute eine Grossbaustelle. Hier errichtet die Hilfsorganisation CCBRT das dringend benötigte Geburtsspital. Ein Gebäudekomplex aus sechs Häusern für jährlich 14 600 Geburten, das sind fünfmal mehr, als am Universitätsspital Zürich pro Jahr stattfinden. In knapp zwei Jahren wird das Baobab-Geburtsspital eröffnen, und Fatma Suleiman wird hier als Gynäkologin arbeiten. Wir steigen auf den Rohbau, drei Etagen hoch. Der Beton brennt unter unseren Füssen, es weht ein feuchtwarmer Wind, und irgendwo pfeift ein Vogel gegen den Lärm der Baustelle an. Von hier oben ist die Stadt ein scheinbar grenzenloser Teppich aus Bäumen und Häusern. Unter jedem Dach spielt sich eine Lebensgeschichte ab. In keiner soll eine tödliche Geburt vorkommen.
1.
Oberstes Gebot ist es, Infektionen zu vermeiden: Mutter mit Neugeborenem in der Postnatal Ward
2.
Fatma Suleiman instruiert das Team
3.
Zwei Neugeborene vor einer Untersuchung, eines davon kriegt Sauerstoff
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Dass jetzt niemand mehr auf dem Boden schlafen muss, ist schon ein grosser Fortschritt: Schwangere Frauen im Temeke-Spital
5.
Haut an Haut mit der Mutter, damit es warm hat: Frühchen in der «Känguru-Station»