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Hitzerekorde und Todesfälle in Europa: Was jetzt wichtig ist

Zeitgeist

Hitzerekorde und Todesfälle in Europa: Was jetzt wichtig ist

Waldbrände, Hochwasser und ein Planet, der sich unentwegt erhitzt: Der Klimawandel bedroht uns mit einer Wucht, die Angst macht. Unsere Autorin suchte Halt in Fakten und bei denen, die es wissen müssen: den Klimaforschenden. Warum sie zuversichtlich bleibt.

«Der europäische Kontinent erwärmt sich doppelt so schnell wie der Durchschnitt.» Als ich diesen Satz las, schwitzte ich bei 32° C in mein gefühlt letztes Leinenhemd. Die Schlagzeilen und Temperaturen von letzter Woche brachten nach einem verhältnismässig kühleren Sommer unweigerlich Erinnerungen an Hitzerekordtage zurück; an Momente, in denen der Ventilator die heisse Luft nur noch träge umverteilt und das Wasser im Glas zu verdunsten scheint, bevor man zum Trinken kommt.

Ich mag etwas übertreiben, zugegeben. Aber ein Satz wie der obige ist in Anbetracht der aktuellen Newslage ein Schlag in die Magengrube.

Ein neuer Rekord folgt auf den nächsten

Das Zitat stammt aus einer neuen Studie zu «Hitzebedingter Sterblichkeit in Europa», die vergangenen Montag in der Fachzeitschrift «Nature Medicine» erschienen ist. Darin war auch von 47’000 Hitzetoten zu lesen. Diese Zahl, die sich auf 2023 bezieht, ging seither um die Welt. Sie folgte auf Monate, in denen sich Nachrichten zu neuen Temperaturrekorden schier überschlugen.

So ging es direkt weiter: Einen Tag nach dem Erscheinen des Berichts verkündete die Weltwetterorganisation WMO, dass der 22. Juli 2024 als weltweit heissester Tag seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen wurde. Der Rekord wurde bereits am Tag darauf egalisiert und der diesjährige Juli zum 14. Monat in Folge, in dem globale Hitzerekorde gebrochen wurden. Auch das: ein neuer Rekord.

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«Die Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel zeigen Wirkung, aber: Wie viel besser können wir uns noch anpassen?»

Wie weiter? Das frage auch ich mich immer wieder. Freude machen Hitze-Prognosen schon länger nicht mehr – sie schüren vielmehr Ängste. Seit ich das Buch «Hoffnung für Verzweifelte» von Umweltwissenschaftlerin und Datenforscherin Hannah Ritchie gelesen habe, halte ich für solche Momente aber eine Art Ass im Ärmel. Auch letzte Woche erinnerte ich mich an ihren Ratschlag: Fakten checken, bevor ich mich von der Panik überrollen lasse.

Also nochmal: 47’000 Hitzetote – ist diese Zahl wirklich so hoch, wie sie scheint? «2003 tötete eine Hitzewelle 70’000 Menschen auf dem Kontinent», schreibt «The Guardian». Dieses Extremereignis vor gut 20 Jahren zog Folgen nach sich, darunter auch positive: Es wurden Präventionsmassnahmen ergriffen und Frühwarnsysteme etabliert. Der eingangs erwähnte neue Bericht beschäftigte sich ganz konkret auch damit: Wie sich Anpassungen an den Klimawandel auf den Schutz unserer Gesundheit auswirken.

«Die Todesrate wäre ohne die Adaption, die seit Beginn des Jahrtausends stattgefunden hat, um 80 % höher gewesen», schreiben die Studienautor:innen. Das sind erstmal nicht nur schlechte News: Die Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel zeigen Wirkung. Ohne hätten wir das Jahr 2023 wohl mit etwa 85’000 Hitzetoten beschlossen.

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«Wir erwarten, dass der Trend zu mehr und heisseren Hitzewellen sich weiter fortsetzt»

Erich Fischer, Professor am Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH

Dass die Hitze seither intensiver und noch gefährlicher wurde, das wiederum sind schlechte News. Weil: Wie viel besser können wir uns noch anpassen? Und wenn sich die Erde weiter in diesem Tempo erwärmt: Wie lange kann das noch gut gehen?

Die Antworten darauf kennen wir schlichtweg nicht, selbst die Wissenschaft kann keine exakten Voraussagen machen. Klar ist aber: «Weil die Treibhausgaskonzentrationen weiter rasch ansteigen, erwarten wir, dass der Trend zu mehr und heisseren Hitzewellen sich weiter fortsetzt», erklärt Erich Fischer, Professor am Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH, auf unsere Anfrage.

Die Erde erwärmt sich schneller, als wir Schritt halten können

Celeste Saulo, Generalsekretärin der WMO, hat in der Meldung zu den neuen Juli-Hitzerekorden ebenfalls klare Worte: «Jeder Kontinent war im letzten Jahr von intensiven und ausgedehnten Hitzewellen betroffen. Mindestens zehn Länder berichteten von Temperaturen über 50° C, an jeweils mehreren Tagen und an mehreren Orten. Wir erreichen den Punkt, an dem es zu heiss wird, um noch damit umgehen zu können.»

Schätzungen der WMO und WHO gehen zwar davon aus, dass durch neue Frühwarnsysteme für 57 Länder knapp 100’000 Leben pro Jahr gerettet werden können, doch Saulo betont: «Anpassung ist nicht genug. Wir müssen den Klimawandel an der Wurzel packen und endlich ernst machen; wir müssen die Rekord-Emissionen reduzieren.»

«Der mangelnde Wille unter Politiker:innen weltweit bremst die Bekämpfung des Klimawandels aus»

Alexander Milner, Universität Birmingham

Das Problem ist längst offensichtlich. Warum passiert also noch immer eindeutig zu wenig? Ich muss wieder an Hannah Ritchie denken, die in ihrem Buch schreibt: «Wir haben als erste Generation überhaupt das Wissen und die Mittel, das Leben auf der Erde für Mensch und Umwelt nachhaltig zu gestalten.»

Unter Expert:innen herrscht relative Einigkeit über diesen Fakt: «Die Wissenschaft weiss, was zu tun ist, doch der mangelnde Wille unter Politiker:innen weltweit bremst die Bekämpfung des Klimawandels aus», sagt Alexander Milner von der Universität Birmingham in einer Umfrage von «The Guardian», an der 380 weltweit führende Klimaexpert:innen den Leser:innen konkrete Handlungsmöglichkeiten auf den Weg gaben.

Das effizienteste Mittel: Unser Stimmzettel

Neu sind diese Ratschläge natürlich nicht: 76 Prozent der Befragten waren sich einig, dass der persönliche Stimmzettel, also die Wahl für eine politische Führung, die sich für eine stärkere Klimapolitik einsetzt, das effizienteste Mittel ist, das wir als Individuen haben, um den Klimawandel zu bekämpfen.

Angesichts des jüngeren Rechtsrucks in der europäischen Politik und Eskalationen auf den Strassen könnte man jetzt leicht direkt den Kopf in den Sand stecken wollen. Man könnte den Blick aber auch nach Mexiko richten, wo mit Claudia Sheinbaum im Juni eine Klimawissenschaftlerin zur Präsidentin gewählt wurde. Oder nach Grossbritannien, wo seit Juli mit der Labour-Partei eine der Klimapolitik weit zugewandtere Partei als zuvor die Zügel in der Hand hält.

Die Euphorie um die neue demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, deren Klimapolitik von Klimawissenschaftler:innen befürwortet wird, macht ebenfalls leise Hoffnung, dass sich eine Kurskorrektur andeutet. Leise, aber doch spürbar.

«Die Schweiz investiert pro Kopf schon heute etwa 400 Franken pro Jahr zum Schutz vor Naturkatastrophen»

Erich Fischer, Professor am Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH

Nur: Wäre das denn überhaupt genug? «Die weltweiten Emissionen steigen weiter an. Der Anstieg hat sich aber in den letzten Jahren verlangsamt», erklärt Erich Fischer. Auch er führt diesen Rückgang auf die weltweiten Reduktionsmassnahmen und das Pariser Klimaabkommen zurück. «Länder mit hohem Pro-Kopf-Ausstoss, wie zum Beispiel aufgrund unseres hohen Konsums die Schweiz, konnten ihre Emissionen in den letzten Jahren schon etwas senken.» Dazu sehe er weltweit einen sehr raschen Zuwachs an erneuerbaren Energien für die Stromgewinnung. Und die Schweiz investiere pro Kopf schon heute etwa 400 Franken pro Jahr in den Schutz vor Naturkatastrophen.

Ein globales Problem, das globale Lösungen braucht

Allerdings ist die Arbeit damit längst nicht getan: «Die Schweiz ist wirtschaftlich und politisch sehr stark vernetzt. Deshalb sind wir immer mehr auch von Produktionsausfällen wie zum Beispiel bei Medikamenten oder Nahrungsmitteln aus fernen Regionen betroffen. Diese Regionen haben oft nicht die finanziellen Mittel, sich an den Klimawandel anzupassen», so Erich Fischer. «Deshalb ist es wichtig, dass neben einer vorausschauenden Anpassung an den Klimawandel auch die Ursache bekämpft wird, also die menschgemachten Treibhausgasemissionen rasch gesenkt werden.»

Es führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen mehr tun, das Klima wieder stärker in den Fokus rücken. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden auch die Kriege nicht weniger, wenn die Bedrohung durch die Folgen des Klimawandels weiter steigt. Entgegen einem weit verbreiteten Glauben sind wir dieser Situation aber nicht machtlos ausgeliefert. Genauso, wie wir der Willkür der Politik nicht machtlos ausgeliefert sind – zumindest überall dort nicht, wo die Demokratie noch weitgehend intakt ist.

«Ob die Klimakrise bewältigt wird oder nicht, hängt nicht am Individuum, aber trotzdem am individuellen Verhalten des Kollektivs»

Verhaltenspsychologin Zahra Rahmani

Die Basler Verhaltenspsychologin Zahra Rahmani erklärte im Gespräch mit annabelle: «Ob die Klimakrise bewältigt wird oder nicht, hängt nicht am Individuum, aber trotzdem am individuellen Verhalten des Kollektivs.» Gemeint ist: Jede Person kann ein Vorbild sein und andere inspirieren. «Ich kann eine Gruppe klimafreundlich gestalten, indem ich klimafreundlich abstimme, an eine Demo gehe oder auch selbst Vorstösse in die lokale Politik einbringe.» Letzteres trifft für die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie noch viel mehr zu als in den meisten anderen Ländern.

Erich Fischer empfiehlt zudem, mit einem Emissionsrechner im Internet den eigenen CO2-Fussabdruck zu berechnen: «Die meisten von uns können den persönlichen Ausstoss stark reduzieren, indem sie sich möglichst wenig mit dem Flugzeug und mit einem Verbrennerauto fortbewegen.» Damit bestätigt er den Tenor der internationalen Expert:innengruppe aus der «Guardian»-Umfrage, die den weitestgehend möglichen Verzicht auf ein privates, benzinbetriebenes Auto und auf Flugreisen zugunsten von Elektromobilen und ÖV mit 56 Prozent als zweiteffizienteste Massnahme anpreist; nach dem politischen Stimmzettel, weit vor allem andern.

Jetzt zählt der Fokus aufs Wesentliche

Allen, die lieber lesen, als mit Klimarechnern zu spielen (ich empfehle hierfür WWF), möchte ich an dieser Stelle das Buch von Hannah Ritchie noch einmal ans Herz legen: sie räumt darin mit allerlei Mythen in Klimafragen auf. Dieser Punkt scheint mir wichtig, weil ich denke, dass uns allen in einer ohnehin schon fordernden Welt geholfen wäre, wenn wir uns gerade auch in Sachen Klima auf die effizientesten Mittel fokussieren, statt uns mit Peanuts zu verausgaben.

Mindestens so wichtig: dass jede:r weiss, dass wir nicht nur mit Aktivismus und möglichst radikalen Verhaltensänderungen ans Ziel gelangen können, sondern auch mit wenigen, dafür ganz gezielten Entscheidungen.

Jede:r Einzelne von uns kann dem Klimawandel mit relativ geringem Aufwand so einiges entgegenhalten. Gemeinsam können wir noch viel mehr. Und wenn wir dabei auf politisches Engagement und die aufrichtige Auseinandersetzung mit umsetzbaren Lösungen setzen, dann haben wir schon fast gewonnen.

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Tina

…und alle fliegen fleissig weiter… Schade! Jede und jeder sollte meiner Meinung nach, einen Anfang bei sich machen und verzichten.