«Heute sind viele gestresster als während des Lockdowns»
- Text: Helene Aecherli; Bild: Getty Images
Über Gefühle zu reden, sei noch immer ein Tabu, sagt Roger Staub von Pro Mente Sana. Eine Kampagne soll helfen, dieses zu brechen.
annabelle: Roger Staub, wie geht es der Schweizer Bevölkerung eigentlich so?
Roger Staub: Erstaunlich gut, trotz Corona. Die meisten sind sich ihrer – im Vergleich zu Menschen in anderen Ländern – privilegierten Situation bewusst und fühlen sich dankbar dafür. Doch sind viele heute gestresster als noch während des Lockdowns. Die konstante Ungewissheit, die Angst um den Arbeitsplatz, Abstandregeln, Mundschutz – gemütlich findet das niemand. Das ist oft sehr belastend.
Da kommt eine Auslegeordnung der emotionalen Befindlichkeit gerade richtig: In der Studie «Atlas der Emotionen» wurden Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer erstmals nach ihren Gefühlen befragt. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Die deutliche Trennung zwischen positiven und negativen Gefühlen. Einerseits ist das Spektrum der negativen Gefühle wie Hass, Verzweiflung oder Geringschätzung sehr viel breiter als jenes der positiven, dennoch fällt es den meisten Menschen schwer, gerade über negative Gefühle zu sprechen. Besonders viel Mühe bereitet es, Hoffnungslosigkeit, Scham und Einsamkeit zu thematisieren.
Interessant ist, dass gerade jüngere Frauen ihre Emotionen klarer ausdrücken können als junge Männer. Sind Letztere eine emotionale Blackbox?
So würde ich das nicht sagen, aber dies ist sicher ein Hinweis dafür, dass Eltern und Lehrpersonen bei jungen Männern genauer hinschauen müssen. Buben werden leider noch immer dazu erzogen, Gefühle zu unterdrücken und darüber zu schweigen.
Über Gefühle zu reden, ehrlich zu sagen, wie es einem geht, ist noch immer ein Tabu. Weshalb hält es sich so hartnäckig?
Ich denke, das ist kulturell bedingt. Im Vergleich zu angelsächsischen Ländern hinkt die Schweiz im Umgang mit Emotionen und letztlich auch mit psychischen Erkrankungen stark hinterher. Das mag daran liegen, dass wir Schweizer eher Eigenbrötler sind und uns lieber ins eigene Reduit verziehen, als offen über unsere Befindlichkeiten zu reden.
Es gibt Studien, die besagen, dass in der Schweiz jeder Dritte einmal in seinem Leben an einer Depression leidet. Stimmt das?
Es ist sogar jeder Zweite. Aber offenlegen mag das kaum jemand. Viele stigmatisieren sich lieber selbst oder nehmen die Haltung ein: «Ich muss mich doch nur ein bisschen anstrengen, dann geht es dann schon» – was übrigens ein Mythos ist. Doch aus diesem Grund holen sich die meisten Leute erst Hilfe, wenn es gar nicht mehr geht.
Die Kampagne «Wie geht es dir?» soll helfen, das Reden über Gefühle zu erleichtern. Mit einer Kampagne ist es jedoch nicht getan, oder?
Natürlich nicht. Aber sie ist ein Anfang. Ziel ist, dass wir mit dieser Kampagne ein Repertoire der Emotionen zur Verfügung stellen und Vorschläge machen, wie man diese Gefühle benennen kann. Es soll normaler werden, mit Freundinnen und Kollegen über die eigene Befindlichkeit zu reden und öfters auch mal zu fragen: «Wie geht es dir?»
Diese Frage ist doch aber kaum mehr als eine Floskel.
Ja und nein. Stellt man sie einmal, ist sie tatsächlich oft bloss eine Standardf loskel. Fragt man aber ein zweites Mal und signalisiert damit seinem Gegenüber, dass man Zeit hat und bereit ist, auf die Antwort einzugehen, dann kann sie Wunder wirken.