Heldinnen der Kinder- und Jugendliteratur
- Interview: Larissa Haas; Foto: Getty Images
Liebreizende Prinzessinnen sind out, junge Mädchen wollen freche Abenteurerinnen: Ingrid Tomkowiak, Professorin für Populäre Literaturen und Medien, über die neuen Heldinnen der Kinder- und Jugendliteratur.
annabelle: Ingrid Tomkowiak, welches ist Ihre liebste weibliche Kinderbuchfigur?
Ingrid Tomkowiak: Eine weibliche Lieblingsfigur habe ich nicht. Als Kind waren mir die weiblichen Figuren zu langweilig. Genau hier liegt das Problem: Bis weit ins letzte Jahrhundert hinein waren die spannenden Figuren fast ausschliesslich Jungen oder Männer.
Laut einer deutschen Studie sollen bis in die Achtzigerjahre siebzig Prozent der Kinderbuchfiguren männlich gewesen sein.
Stimmt. Interessanterweise hat man erst nach 1968, auch im Zuge der zweiten Feminismuswelle, besonders aber ab den Achtzigern im Zusammenhang mit der Kritik an autoritärer Erziehung und patriarchalen Strukturen das Missverhältnis von männlichen und weiblichen Figuren kritisch reflektiert und realisiert, dass ein enormer Bedarf an weiblichen Kinderbuchfiguren besteht. Ambitionierte Verlage haben sich daraufhin bemüht, dies zu verändern.
Wie haben sich die weiblichen Figuren seit den Achtzigern verändert?
Astrid Lindgren hat etwa mit Ronja Räubertochter ein selbstbewusstes, aktives Mädchen geschaffen. Und 1987 verfasste die britische Kinderbuchautorin Babette Cole «Prinzessin Pfiffigunde». Dieses Mädchen fährt in schwarzer Montur auf einem Motorrad herum und schert aus den Geschlechtertraditionen aus. Zur Jahrtausendwende entstand jedoch eine gegenläufige Debatte: Als die Pisa-Studien zeigten, dass Buben schlechter und weniger gern lesen als Mädchen, plädierten Kritiker und Kritikerinnen für mehr männliche Themen und männliche Vorbilder in der Kinder- und Jugendliteratur.
Die Mädchen liessen sich aber nicht mehr verdrängen.
Nein. Heute gibt es in der Kinderliteratur vermehrt freiheitsliebende und autonom handelnde Mädchen. Ich denke da etwa an Hermine aus «Harry Potter», Meggie aus Cornelia Funkes «Tintenwelt» oder Lyra aus «Der goldene Kompass», dem ersten Teil der Fantasy-Trilogie «His Dark Materials». Diese neuen Heldinnen sind junge Abenteurerinnen, die Eigenschaften ihrer männlichen Vorgänger mit traditionell weiblichen Tugenden wie Teamgeist, Empathie und Beziehungsbereitschaft verbinden. Hermine, zum Beispiel, die Anführerin des Teams um Harry Potter, ist strebsam, kommunikativ und ruhig, aber auch mutig, klug und strategisch überlegt.
Die Gretchenfrage: Welchen Einfluss haben Buchfiguren auf die Emanzipation?
Weibliche Figuren, die ihren eigenen Weg gehen und glücklich dabei sind, haben für Mädchen eine enorme Vorbildfunktion. Dies zeigen schon die Beispiele «Die Rote Zora», allen voran aber Pippi Langstrumpf: Sie ist ein autonomes Kind, das sich gegen die Regeln der Erwachsenen stellt. In den Fünfzigerjahren war sie eine Ausnahme-Erscheinung. Es entbrannten heftige Debatten darüber, ob Pippi für Kinder und deren Eltern überhaupt zumutbar sei. Und doch wurde das Mädchen mit den roten Zöpfen zur Kristallisationsfigur weiblicher Autonomie.
Pippi ist zwar autonom, jedoch fällt die Geschichte durch die konservativen Geschwister Tommy und Annika wieder in gewohnte Rollenmuster.
Was auf der Ebene der Erzählstruktur aber durchaus Sinn macht: Annika ist etwas naiv und unerträglich langweilig. Doch wurde sie bewusst so konzipiert, damit Pippi als Gegenpol herausstechen kann. Pippi ist diejenige, die die Geschwister aus diesem öden Muster herausholen will.
Pippi Langstrumpf stammt aus der Feder von Astrid Lindgren. War Lindgren mit ihren feministischen Geschichten ihrer Zeit einen Schritt voraus?
Astrid Lindgren ging es vor allem um die kindliche Autonomie, nicht unbedingt nur um die weibliche. In ihren Geschichten wuchsen Mädchen wie Jungen in Freiheit auf. Sie wurde als Feministin vom Publikum rezipiert. Selbst hat sie sich nicht unbedingt als Feministin bezeichnet.
Ist die literarische Emanzipation also gelungen?
Ja und nein. So zeigen Kinderbuchverlage wie etwa Beltz oder Carlsen Mädchen und Frauen längst nicht mehr als passive Figuren, die hauptsächlich auf den Mann ihrer Träume warten. In auf Massenkonsum ausgelegten Verlagen aber, insbesondere denen, die mit der Spielzeugindustrie zusammenarbeiten, dominiert noch immer das reaktionäre Muster von Rosa und Hellblau. Dort reitet die rosa Prinzessin auf dem Pferd ins Schloss und gibt ihr Leben dem starken Prinzen hin. Somit lebt das alte Muster fort – leider.
Der diesjährige Zürcher Kinderbuchpreis ging an Astrid Frank und ihre Geschichte über den hochsensiblen Enno. Haben sich nicht nur die weiblichen, sondern auch die männlichen Figuren verändert?
Auf jeden Fall. Männliche Figuren, Väter und Jungs, sind sanfter geworden. Sie sind keine Machotypen mehr, dürfen Schwäche zeigen und auch mal weinen. Ihre Abenteuer bestreiten sie zusammen mit ihren Kameradinnen, auch unter deren Führung.
Inwiefern zeigt sich die aktuelle Auseinandersetzung über Geschlechterrollen in der Jugendliteratur?
Das Leben in Kinderbüchern ist wesentlich bunter geworden. Familienmodelle werden aufgebrochen und stereotype Geschlechterrollen hinterfragt. So gelten Patchworkfamilien oder gleichgeschlechtliche Eltern nicht mehr als dysfunktional, sondern als eine Familienkonstellation, in der alle glücklich und integriert sein können.
Welche Heldinnen finden auch Jungs toll?
Katniss Everdeen aus der Romantrilogie «Die Tribute von Panem» zum Beispiel. Sind die weiblichen Figuren stark und mutig, finden Jungs sie cool.
Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien hat zusammen mit der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich eine Broschüre mit Kinder- und Jugendbüchern erstellt, die mit Geschlechterklischees brechen und den Blick für die Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen öffnen. Unsere fünf Favoriten.