Selbstheilungskräfte sind nachweisbar. Wir können damit sogar das Immunsystem trainieren, sagt die Journalistin Jo Marchant.
annabelle: Ein Kind fällt hin. Seine Mutter gibt ihm Globuli und lobt die Wirkung der Homöopathie. Als promovierte Mikrobiologin mussten Sie da natürlich widersprechen.
Jo Marchant: Ich sagte ihr: «Da ist nichts drin.» Doch im Verlauf der Recherche zu Ihrem Buch «Heilung von innen» haben Sie Ihre Meinung geändert? Ich bin noch immer überzeugt, dass die Homöopathie nicht aufgrund ihrer chemischen Struktur funktioniert. Da ist tatsächlich nichts drin. Aber ich weiss heute, dass die Alternativmedizin physikalische und biologische Effekte haben kann.
Sie glauben nicht an die Kraft der Globuli, sondern an die Kraft des Geistes?
Genau. Selbstheilungskräfte sind wissenschaftlich nachweisbar, da ist überhaupt nichts Magisches dabei. Sie haben im Internet Placebopillen bestellt, Scheintabletten, die keine Wirkstoffe enthalten. Trotzdem sind Ihre Kopfschmerzen verschwunden. Wie das? Untersuchungen zeigen, dass Placebopillen die Ausschüttung von FoyEndorphinen, also von körpereigenen Morphinen, im Hirn bewirken können, die den gleichen Effekt haben wie eine Schmerztablette.
Der Placeboeffekt ist nichts Neues.
Nein, aber man hat ihn lang nicht ernst genommen. Man ging davon aus, dass sich die Leute nur einbilden, dass es ihnen besser gehe. Es gab keine Beweise für biologische Veränderungen. Doch die gibt es nun. Zudem hat man angenommen, Placebo funktioniere nur, wenn man daran glaubt. Man musste den Patienten täuschen, was ein ethisches Problem darstellte.
Ihnen haben die Fake-Pillen geholfen, obwohl Sie wussten, dass sie keinen Wirkstoff enthalten?
Nicht nur mir. Ich zitiere verschiedene wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass Placebomedikamente und Placebo-Operationen selbst dann wirken, wenn die Patienten darüber aufgeklärt sind, etwa bei chronischen Schmerzen, Migräne, Reizdarm, Depressionen und ADHS. Und vor einigen Wochen erschien eine Studie zur Wirkung von Placebos bei krebsbedingter Müdigkeit.
Sie schreiben, dass ein Placebo wie das echte Medikament aussehen muss. Und man sollte es auch möglichst ähnlich einnehmen.
Genau. Es braucht psychologische Signale, damit sie wirken. Grosse Pillen funktionieren besser als kleine, farbige besser als weisse. Ich stehe meist in der Küche am Abwaschbecken, wenn ich ein Schmerzmittel schlucke. So machte ich es auch mit dem Placebo.
Könnte man jedes Medikament durch ein Placebo ersetzen?
Nein. Es gibt zahlreiche Beschwerden, bei denen nur herkömmliche Medikamente helfen. Aber es erstaunt mich gleichwohl, wie viele Medikamente kaum besser wirken als ein Placebo. Valium wirkt nachweislich nur dann, wenn man wirklich weiss, dass man Valium nimmt. Bei Schmerzen, Depressionen oder dem Reizdarmsyndrom können Placebos manchmal sogar effizienter wirken als Medikamente und die Patienten vor Nebenwirkungen bewahren.
Wie sehen die neusten Entwicklungen aus?
Es werden Studien mit Packungen gemacht, die effektive Pillen und Scheinpillen enthalten. Man weiss aber nicht, welche wo sind. Oder Asthma-Inhalatoren, bei denen man manchmal das Medikament drin hat und manchmal nicht. Damit kann man Medikamentendosen, Nebeneffekte und Kosten reduzieren. Es geht nicht darum, die Schulmedizin abzulehnen und sich nur noch darauf zu verlassen, dass wir uns mit unseren Gedanken heilen können. Sondern man kombiniert beides, um den besten Effekt zu erzielen.
In der Cafeteria des Uniklinikums Essen tranken Sie Erdbeermilch mit grüner Lebensmittelfarbe und Lavendelöl. Warum taten Sie sich das an?
Dieser Drink, so scheusslich er auch schmeckte, hat meinen Horizont erweitert. Er wurde designt, um möglichst viele verschiedene Sinne zu reizen. Die Wissenschafter benutzen das Getränk, um das Immunsystem ohne Medikamente zu konditionieren und zu lenken.
Wie machen sie das?
Wenn Sie sich vorstellen, Sie beissen in eine Zitrone, produzieren Sie automatisch Speichel. Ihr Körper antizipiert die Säure, um besser damit umzugehen. Unser Immunsystem funktioniert ähnlich. Wenn Sie wegen Crevetten an einer Lebensmittelvergiftung erkranken, so wird Ihnen, wenn Sie das nächste Mal eine Portion essen, automatisch übel werden – selbst wenn die Crevetten einwandfrei sind. In Ihrem Körper wird eine Immunreaktion ausgelöst, um die Infektion zu bekämpfen, die Sie das erste Mal hatten. Die Frage ist: Können wir diesen Prozess hacken und unseren Körper gezielt trainieren?
Die Antwort ist Ja – mit dem Lavendeldrink?
Genau. Wissenschafter haben den Drink Patienten gegeben, die eine Nierentransplantation hinter sich hatten. Sie nahmen ihn gemeinsam mit einem Medikament ein, das das Immunsystem unterdrückt, damit das neue Organ nicht vom Körper abgestossen wird. Nahmen die Patienten später den Drink ohne Medikament, hatte das denselben Effekt aufs Immunsystem wie das Medikament.
Doch ganz ohne Medikament würde der Drink nicht funktionieren?
Nein, man braucht das Medikament, um das Immunsystem zu trainieren. Man darf es nicht absetzen, sonst ginge die Wirkung letztlich verloren.
Sie schreiben, solche Studien seien schwierig zu finanzieren.
Die Mehrheit aller Studien wird von der Pharmaindustrie finanziert. Man kann sie nicht dafür kritisieren, dass sie kein Interesse an Placeboforschung hat. Das Problem ist, dass das medizinische System heute stark von der Pharmaindustrie abhängig ist. Auch bei der Vergabe von öffentlichen Geldern gibt es Vorurteile. Alles, was den Geist in den Fokus stellt, gilt schnell als unwissenschaftlich.
In Seattle setzten Sie sich eine 3D- Brille auf und tauchten in eine virtuelle Welt aus Eis und Schnee ab. Was hat dieses Game mit Medizin zu tun?
Es wurde entwickelt, um Verbrennungspatienten bei der Wundpflege zu helfen. Denn das Wechseln der Verbände ist etwas vom schmerzhaftesten überhaupt, selbst unter dem Einfluss stärkster Schmerzmittel. Da die Aufmerksamkeit des Hirns aber beschränkt ist, kann man es vom Schmerz ablenken. Wichtig ist, dass man sich dabei virtuell in die Landschaft dieses Videogames hineinbegibt, man muss sich dort gegenwärtig fühlen, um den Geist auszutricksen. Klinische Studien mit Kriegsveteranen zeigen, dass es tatsächlich funktioniert. Mit dem Game Snow World konnten ihre Schmerzen während der Wundpflege um bis zu vierzig Prozent reduziert werden.
Hat es auch bei Ihnen geklappt?
Ja. Die Wissenschafter schnallten mir eine kleine Box an den Fuss, mit der sie mich verbrannten. Nicht schlimm, aber es tat weh. Als ich in die virtuelle Welt von Snow World eintauchte, spürte ich den Schmerz kaum, er war weit weg. Das hätte ich nicht erwartet. Dennoch warnen Sie davor, den Geist überzubewerten. Ja, es gibt Menschen, die glauben zum Beispiel, Krebs werde durch negative Gedanken verursacht und könne mit guten Gefühlen geheilt werden. Das ist falsch und gefährlich. Es sterben Menschen, die man heilen könnte, weil sie konventionelle Therapien verweigern. Tatsache ist: Unser Geist kann keine Chemikalien herstellen, die nicht bereits in unserem Körper drin sind. Wenn Sie Diabetes haben, wird Ihr Körper kein Insulin herstellen. Wenn Sie Krebs haben, kann Ihnen Ihr Geist dabei helfen, die Symptome zu kontrollieren oder eine Chemotherapie zu tolerieren, aber Sie können damit keinen Tumor bekämpfen. Dafür braucht es konventionelle Medikamente.
Wie hat sich Ihr Leben durch die Recherche verändert?
Wenn ich Bauch-, Rücken- oder Kopfschmerzen habe, höre ich noch immer auf meine Symptome, aber ich fühle mich ihnen nicht mehr ausgeliefert. Ich weiss, dass ich meine Schmerzen selbst beeinflussen kann, indem ich mich von ihnen ablenke. Ich kann auch die Schmerzen meiner Kinder lindern. Wenn mein Sohn sich das Knie aufschürft, wird es ihm helfen, wenn ich es liebevoll versorge und ihm versichere, dass es ihm bald besser gehen wird. Dafür brauche ich keine teuren Globuli, Traubenzucker reicht.
– Jo Marchant lebt in London, ist Wissenschaftsjournalistin und arbeitet unter anderem für das Magazin «Nature». Sie studierte Medizin und promovierte in medizinischer Mikrobiologie. Ihr Buch: Jo Marchant. Heilung von innen. Die neue Medizin der Selbstheilungskräfte. Rowohlt-Verlag 2016, ca. 24 Fr.