Haben wir den gepflegten Exzess verlernt?
- Text: Linda Leitner
- Bild: Stocksy
Früher hat unsere Autorin regelmässig bis spät auf Küchenstühlen getanzt. Heute wollen alle frühmorgens auf den Markt und fit zum Sport. Wann sind denn alle so langweilig geworden? Das kann doch nicht gesund sein.
Ein bisschen Spass muss sein? Früher bedeutete Jungsein, die Nächte durchzufeiern. Während die Nullerjahre ein Problem mit adoleszentem Komasaufen hatten, frönt der frischgeschlüpfte Mensch heute dem «Granny Lifestyle»: Die 18- bis 30-Jährigen kuscheln sich nämlich immer früher ins Bett. Enthaltsamkeit als neuer Rausch! Das Aussterben der jugendlichen Unvernunft! Was ist da los?
Ich als Millennial habe eine Schwäche für spontane Eskalation. Wenn ich die Zigarette im Takt eines Hits enthemmt gen Himmel recke und dabei an einen selig-überhitzten Mitmenschen schlingere, dann bin ich glücklich. Dann fühle ich mich wild und lebendig und sehr gut. Am nächsten Tag sieht die Sache unter Umständen anders aus. Dann habe ich oft Kopfschmerzen und jammere viel.
«Mit Anfang zwanzig habe ich eine Facebook-Gruppe namens ‹Masslosigkeit – Übertreiben als Lebenseinstellung› gegründet»
Meine Mutter sagt gerne: «Wenns lustig war, lohnt sich der Kater doch.» Und weil Mama als Stimme der Vernunft immer recht hat, könnte da was dran sein. Auch, weil meine Eltern in ihrer Rentner-Gang in unzuverlässigen Abständen die Schnapsvorräte tilgen und in die Exzess-Falle stolpern. Als ich letztes Jahr eine ihrer Gartenpartys crashte, roch es herrlich frisch – eine Gästin hatte sich mit vollem Körpereinsatz von der Bierbank rücklings ins Minze-Beet gelacht.
Mit Anfang zwanzig habe ich mit meiner besten Freundin eine Facebook-Gruppe namens «Masslosigkeit – Übertreiben als Lebenseinstellung» gegründet. Würde ich die heute in die Runde schicken und Leute anwerben wollen, würde man mich vermutlich für hochgradig fragwürdig halten. Diese Art von Ballermann-Mentalität (wenn auch nicht ganz ernst gemeint) ist so gar nicht zeitgeistig. Dabei ist dieses «Lieber zu viel als zu wenig» nicht nur aufs Feiern, sondern auch auf ausschweifende Nahrungsaufnahme, die Dauer von wohligen Duschgängen mit lauter Musik und flammende Gefühlsregungen bezogen. Kurz: auf Genuss. Und der wird gerade schon fast manisch unterdrückt.
Insta-Selfcare als Exorzismus jeden Glücks
Kein Fleisch, keine Milchprodukte, kein Zucker, kein Essen nach 18 Uhr. Kein Nikotin, kein Alkohol, viel Schlaf. Viel Wasser, viel Gedämpftes. Straffe Askese ist zurzeit das, was früher mal die legendäre Home Party war: ein Goal.
Wer Bock hat, mal wieder so richtig mit Hackfleisch zu eskalieren, oder es gar wagt, zuzugeben, dass einem vom Shot letzte Nacht etwas flau ist, der bekommt es schon fast mit der Angst zu tun. Vor denen, die Mondwasser trinken und abends lieber im Hallenbad Bahnen als um die Häuser ziehen.
«Exzess wird zunehmend als Risiko wahrgenommen, während Gesundheit und Selbstkontrolle eher zu den Werten zählen, nach denen man heute strebt. Es ist die Reaktion auf die komplexen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Und Social Media spielt dabei eine entscheidende Rolle», weiss Psychotherapeutin Romina Reginold, die eine Online-Praxis führt und Teil des Teams der Mental-Health-Plattform Aepsy ist.
Social Media fordert ein einwandfreies Leben mit gut ausgeruhtem Körper, einer strahlenden Haut und einer Körperhaltung, die eines Gurus würdig ist. Der Gua-Sha-Stein liegt hier stets neben dem Räucherbündel bereit – wer von der durchtanzten Nacht so verquollen ist, dass selbst der teuerste Rosenquarz zur Lymphdrainage nix mehr hilft, bleibt lieber im Dunkeln liegen. In einer Ära der konstanten Selbstdarstellung bleibt vielleicht einfach keine Zeit für Augenringe, geschweige denn für Knitterfältchen.
«Wer gerne zuhause bleibt, gilt auch mit Anfang zwanzig nicht als langweilig, sondern vernünftig»
Besonders die Generation Z hat laut Romina Reginold tatsächlich ein gesteigertes Interesse an Gesundheit – mit Fokus auf Selbstoptimierung. Klar. «Man ist nicht nur dem ständigen Vergleich mit dem vollkommenen Leben und Aussehen der anderen ausgesetzt, sondern hat auch mehr Zugang zu Aufklärung, was gesunden Lifestyle angeht. Die Gen Z ist durch Instagram und TikTok bestens darüber informiert, dass Exzess der physischen und auch mentalen Gesundheit nicht zuträglich ist», so die Expertin.
Da ist ein grösseres Bewusstsein für Sucht, Depression, Burnout. Der Raum für unterschiedliche Lebensstile öffnet sich. Wer gerne zuhause bleibt, gilt auch mit Anfang zwanzig nicht als langweilig, sondern vernünftig – und wird nicht stigmatisiert. Laut Reginold hat ein gesellschaftlicher, durchaus positiver Wandel stattgefunden: Die Gen Z ist weniger an der Kurzfristigkeit des Rausches interessiert, sondern sucht nach Beständigkeit und Sinn. Und der findet sich auch im Algorithmus: Workouts, Clean Eating und Selbstfürsorge werden ebenso positiv bewertet wie ein minimalistischer Lebensstil. Es geht um die Konzentration aufs Wesentliche und das Streben nach möglichst wenig Überflüssigem. Loslassen kann man ja dann in der Atemtherapie. Aber optimal zu sein, baut Druck auf. Das ist stressig.
Ich persönlich habe da lieber mal Kopfweh
So ein Sonntag samt Übelkeit und Fahne kann unangenehm sein, beschwingt einen aber eben auch. Ich weiss dann einerseits, dass ich noch nicht komplett eingerostet bin, aber auch, dass ich mich in Zukunft wieder zusammenreissen und diskreter leben muss. So ein bisschen Ekstase macht flexibel.
«In einer Gesellschaft, die mehr denn je von einem Perfektions- und Selbstoptimierungswahn geprägt ist, hat es durchaus etwas Positives, ab und zu mal alle Konventionen über den Haufen zu werfen und auf den Putz zu hauen. Es kann guttun, den Alltag in den Hintergrund rücken zu lassen und sich und andere zu feiern. Das kreiert Erinnerungen, stärkt das Gemeinschaftsgefühl – ja, führt zu einer Art Massenfreude und schützt vor Einsamkeit», so die Psychotherapeutin Reginold. Na also! Gesund ist es quasi – dann, wenn Über-die-Stränge-Schlagen bewusstes Gönnen ist.
Bedenklich wird es dann, wenn man sich regelmässig und als Flucht vor der Realität ins Bierfass wirft. Klar: Alkoholkonsum soll hier nicht verharmlost werden. Reginold besänftigt diplomatisch weiter: «Es kommt nicht darauf an, alles zu vermeiden, was anstrengend, ungesund oder verrückt ist, sondern es geht um das richtige Mass.» Na also! Um die goldene Mitte geht es mal wieder. Aber dazu darf man ab und zu mal so richtig auftrumpfen. In beide Extreme, wenn man mag. «Spass ist aus psychologischer Sicht ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Fun hilft, Stress abzubauen, schüttet Endorphine aus, macht einen widerstandsfähiger und schafft Ressourcen, die einem dann dabei helfen, am gesunden Lebensstil weiterzuarbeiten», so Reginold.
Wer also meiner Facebook-Gruppe aus dem Jahre 2008 noch beitreten möchte, darf das gerne. Mich nach meinem Dry January auf Wein, Zigarettchen und schmissige Hits in seine Küche einladen auch. Ich bleibe dann einfach ein Weilchen.