Haben Sie auch so oft ein schlechtes Gewissen?
- Text: Stephanie Hess, Bild: Getty Images
Irgendwas bleibt immer auf der Strecke – und ständig nagt das schlechte Gewissen. Wie bringen wir es bloss los? Oder ist das gar nicht die entscheidende Frage?
Dieser Text beginnt mit einem schlechten Gewissen, natürlich. Ich vergass den Videocall, an dem ich diesen Artikel vorschlagen wollte. Als es mir einfiel, breitete sich ein Gefühl in mir aus, das Friedrich Nietzsche sehr bildhaft als etwas beschreibt, das sich «festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst». Irgendwo habe ich gelesen: Das schlechte Gewissen ist wie New York, es schläft nie.
Ich spüre es, wenn ich Nachrichten in meiner Mailbox oder auf Whatsapp sehe, die ich seit Ewigkeiten nicht beantwortet habe. Wenn ich flunkere, um einer Verabredung auszuweichen. Wenn ich vergesse, meinen Freundinnen für wichtige Ereignisse Glück zu wünschen. Wenn ich mit meinen Gedanken woanders bin, während ich Zeit mit meiner Tochter verbringe. Wenn ich aufräumen sollte und es nicht tue, meinen Freund wegen nichts angeschrien habe, wenn ich schon wieder auf Instagram war, statt diesen Artikel zu schreiben. Wenn ich unfair war, gelästert habe, etwas Unüberlegtes gesagt habe.
«Ein schlechtes Gewissen? Täglich.»
Wie mir geht es vielen, mit denen ich spreche: Eine Freundin liest mir in einer Sprachnachricht eine Liste vor, die sie verfasste, nachdem ich sie danach gefragt hatte. Sie spricht drei Minuten. Über zu wenig Sport und zu viel Fliegen, Neid, Ungeduld. Eine andere erzählt mir von brennenden Gewissensbissen, wenn sie von rassistischen Erfahrungen hört und sich erinnert, dass sie bei Äusserungen, die von einer solchen Gesinnung zeugen, schwieg.
Eine befreundete Ärztin sagt: «Ein schlechtes Gewissen? Täglich. Wenn ich viel arbeite: gegenüber meiner Tochter. Wenn ich wenig arbeite: gegenüber meiner Arbeit. Und abends, weil ich so müde bin, dass ich nichts mehr auf die Reihe kriege, was nichts mit meiner Tochter oder meiner Arbeit zu tun hat.» Ich sprach auch mit mehreren Männern, doch sie drucksten herum, gaben unspezifische Antworten. Weil sie nie ein schlechtes Gewissen haben?
Frauen fühlen sich schneller schuldig als Männer
Eine spanische Studie will 2010 tatsächlich herausgefunden haben, dass es vom Geschlecht abhängt, ob und wie stark wir Schuldgefühle entwickeln. Die Forscher führten psychologische Tests mit Männern und Frauen unterschiedlichen Alters durch, die sie zum Schluss kommen liessen: Frauen fühlen sich schneller schuldig als Männer. «Mag sein, dass diese Gefühle bei Frauen tendenziell früher aufflammen», sagt Veronica Defièbre, als Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin Fachfrau für Schuldgefühle aller Art. Sie arbeitete mehrere Jahre auf der der psychiatrischen Station im Spital Affoltern. Heute behandelt sie in ihrer eigenen Praxis in Thalwil.
Sie fügt aber an: «Auch Männer haben sie. Sie gehören schlicht zu den zentralen Themen des Menschseins.» Eine Erklärung für die spanische Studie kann sein, dass sich Frauen tendenziell stärker mit einem schlechten Gewissen auseinandersetzen, sich diese nagenden Gefühle mehr bewusst machen, wie Veronica Defièbre sagt. «Männer hingegen reagieren öfter mit Wut, Ärger oder verdrängen die Gefühle schlicht. Manche müssen fast ein Burn-out haben oder kollabieren, um zu realisieren: Da ist etwas, das mich quält.»
Das schlechte Gewissen als Gesellschaftskitt
In der griechischen Mythologie werden Schuldgefühle von den Erinnyen versinnbildlicht, Rachegöttinnen und Schützerinnen der sittlichen Ordnung. Sie hausen in der Unterwelt, kleiden sich in graue Gewänder, ihre Haare sind Schlangen. Sie suchen jene heim, die sich eines Verbrechens schuldig machten und treiben sie in die Raserei. Die Römer nannten sie Furien. Und natürlich empfinden auch Adam und Eva rasende Schuld darüber, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein. Weshalb, so die Bibel, alle Christen von Geburt an schuldig seien.
Positiv betrachtet könnte man sagen: Das schlechte Gewissen kittet die Menschen zusammen. Dass wir die unguten Gefühle vermeiden wollen, führt am Ende dazu, dass wir uns an die grundlegenden Normen in einer Gesellschaft halten. Kriege, Verbrechen, egoistisches Verhalten wären bestimmt weit verheerender, würden die Menschen nicht von einem schlechten Gewissen heimgesucht.
Schuld oder Scham?
«Gar keine Schuldgefühle haben nur Psychopathen, die jemanden umbringen und dann seelenruhig im nächsten Café die Zeitung lesen», sagt Veronica Defièbre. Diesen Menschen – es sind nicht viele – fehlt eine diesbezügliche Erwartung an sich selber. Feststehende Prinzipien, die zwingend sind, um überhaupt von einem schlechten Gewissen übermannt zu werden. Handeln normale Menschen entgegen ihren Erwartungen an sich selber, kommt es zu einer sogenannten kognitiven Dissonanz, wie das die Sozialpsychologie nennt. Ein unangenehmer Gefühlszustand, der durch das Auseinanderklaffen von Erwartung und Handlung entsteht. Es folgen die typischen emotionalen Reaktionen: Man schämt sich, fühlt sich schuldig.
Ob man Schuld fühlt oder Scham, ist nicht ganz einfach auseinanderzuhalten. Auch weil sie bisweilen ineinanderfliessen. Grundsätzlich ist Scham aber eher diffus und umfasst einen als ganzen Menschen – beispielsweise, wenn man sich zu dick fühlt, ungenügend, allgemein unfähig. Schuldgefühle hingegen beziehen sich auf bestimmte, tatsächlich begangene Taten, etwa fremdgehen, Termine vergessen, unpünktlich sein. Oder auf weit früher eingetrichterte Botschaften, wie Veronica Defièbre sagt: «Wenn einem Kind beispielsweise immer wieder vermittelt wurde, dass es schöner, intelligenter, durchsetzungsfähiger oder ganz generell einfach anders sein sollte, entstehen daraus oft Schuldgefühle.» Sie setzten sich fest und gären. Den Patienten in ihrer Praxis sei oft gar nicht klar, woher diese Gefühle des Ungenügens kommen. Was wiederum die Scham auf den Plan rufen kann.
Taktiken gegen Schuldgefühle
Dieses «schlechte Gewissen, ohne genau zu wissen, was ich falsch gemacht habe», wie es der deutsche Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Klaus- Thomas Kronmüller beschreibt. Es ist normal, dass wir den unangenehmen Zustand des schlechten Gewissens schnellstmöglich überwinden wollen. Dafür haben wir zahlreiche Praktiken kultiviert. Etwa der Angriff: Fühlen wir uns ertappt, weil uns beispielsweise jemand auf unseren übermässigen Süssgetränkekonsum aufmerksam macht, weisen wir als Antwort darauf das Gegenüber auf sein problematisches Essverhalten hin. Der Ablasshandel: Etwa die Zahlung von CO2- Flugkompensationen oder auch Firmen, die Geld an Organisationen für minderprivilegierte Gruppen spenden, aber niemanden aus dieser Gruppe beschäftigen.
Oder die Auslagerung: In einer Studie stellten Forscher fest, dass Investmentbanker ihre Emotionen oft völlig von ihrem Tun abspalten. So fühlen sie sich auch nicht schuldig, wenn sie andere Menschen mit Abzocker-Geschäften schädigen. «All diese Taktiken zielen am Ende darauf ab, unsere Schuldgefühle zu verdrängen», sagt Veronica Defièbre. Das mache wenig Sinn. Denn: «Sie verschwinden nie einfach. Sie finden schlicht ein anderes Ventil.» Etwa indem sie uns ein mulmiges Gefühl im Umgang mit Menschen verursachen, denen gegenüber wir uns schuldig fühlen. Indem sie uns heimsuchen, wenn wir einschlafen wollen. Im schlimmsten Fall machen sie uns krank, körperlich oder psychisch: «Nicht selten schlagen sie auf Magen oder Darm.»
Alarmsystem der Seele
Der Schlüssel im Umgang mit dem schlechten Gewissen liegt also darin, dass wir aufhören, es aus unserem Leben zu drängen, und damit anfangen, es genauer zu betrachten. Als ein «Alarmsystem der Seele » bezeichnet es der Wiener Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli in seinem Ratgeber «Selber schuld». Denn Schuldgefühle weisen uns mit einer meist auch körperlichen Reaktion – etwa einer heissen Welle, einer Schwere in der Brust, einem Erröten – darauf hin, wenn unser Handeln nicht unseren eigentlichen Prinzipien entspricht.
Liegt das Problem im Handeln, ist es im Grunde einfach. Denn es gibt eine simple Methode, welche die empfundene Schuld abmildern, vielleicht sogar auf- lösen kann: um Verzeihung bitten. Das ist zwar nicht leicht, wie die Philosophin Svenja Flasspöhler in ihrem Buch «Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld» schreibt.Verzeihen gelte in unserer Gesellschaft, welche vom Grundsatz «Wer schuld ist, muss zahlen» geprägt sei, weder als logisch noch als gerecht. Dennoch stecke darin eine besondere Kraft. Es können aber auch die Prinzipien sein, die unser System Alarm schlagen lassen – wenn sie nicht das widerspiegeln, was wir selber eigentlich wollen. Veronica Defièbre sagt: «Fragen Sie sich, woher die Erwartungen kommen, die Sie erfüllen wollen. Sind das Ihre, die von Ihren Eltern, von Ihrem Umfeld?»
«Man muss nicht allen Erwartungen entsprechen»
Erwartungen von aussen seien nicht per se schlecht. «Wir brauchen Bezugssysteme, die gewisse Ansprüche an uns stellen, um uns zu verorten», sagt sie mit Blick auf ihre Klientinnen und Klienten. Also orientiert man sich: an den Grundsätzen der Klimabewegung oder des Feminismus und – insbesondere – der Leistungsgesellschaft. «Wenn wir uns alle heute überhaupt in etwas einig sind, dann in der allgemeinen Huldigung der Leistung», sagt die Psychoanalytikerin. Das falle ihr in ihrer Praxis auf, ebenso wenn sie ihr Umfeld beobachte.
Wir glauben durchwegs ausserordentliche Verdienste erbringen zu müssen und zwar in allen Bereichen – im Job, bei der Familie, im Aussehen. Wir orientieren uns an schillernden Idealen. Bezogen aus Stellenausschreibungen, aus Dokus über Überfliegerinnen und Pioniere, aus TV- Soaps, von Social Media, wo wir uns gegenseitig unser poliertes Selbst zeigen. Veronica Defièbre sagt: «Es ist ein wichtiger Lernprozess, zu realisieren, dass man nicht allen Erwartungen entsprechen muss, die man an sich gestellt fühlt.» Und daraus resultierend: zu erkennen, dass einem durchaus Fehler passieren dürfen. Dass man sich dafür nicht in Grund und Boden schämen muss.
Gut genug
«In meiner Praxis versuche ich schuldorientierten Menschen beizubringen, dass es in Ordnung ist, mal etwas falsch zu machen.» Und dass es auch ausreicht, die Anforderungen, die das Leben an einen stellt, nicht brillant zu meistern. Sondern einfach «gut genug», wie es Veronica Defièbre nennt.
Denn womöglich speist sich das schlechte Gewissen, das nie schläft, das uns immer wieder heimsucht und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, ebenso aus diesem brennenden Wunsch, perfekt zu sein, wie aus der Empörung darüber, dass wir das nie erreichen werden, immer fehlbar bleiben werden. Egal, wie sehr wir uns anstrengen. Dass es reicht, schlicht gut genug zu sein in den Aufgaben als Partnerin, als Mutter, als Angestellte, als Chefin, mag auf den ersten Blick gar genügsam wirken. Auf den zweiten aber unheimlich erleichternd.