Häusliche Gewalt ist eine düstere gesellschaftliche Konstante. Doch damit lassen sich keine politischen Lorbeeren verdienen. Das ist beschämend.
«Die Flucht ins Frauenhaus gleicht einem Sprung ins kalte Wasser, um dem im Rücken tobenden Feuer zu entgehen», heisst es auf einem Stück Papier an einer Pinwand im Frauenhaus Winterthur. Dieser Satz stach mir sofort ins Auge, als ich für meine Reportage das Frauenhaus zum ersten Mal besuchte. Ich schrieb ihn mir auf und markierte ihn mit gelbem Leuchtstift, denn er bringt auf den Punkt, was Frauenhäuser sind: Schutzzonen, in denen Frauen – oft mit ihren Kindern – Unterschlupf finden, wenn sie von ihrem Ehemann oder Partner bedroht, geschlagen oder vergewaltigt worden sind.
Es sind Schutzzonen, die, entstanden aus der Frauenbewegung der 70er-Jahre, grundsätzlich allen Frauen offen stehen, heute jedoch mehrheitlich von Migrantinnen in Anspruch genommen werden. Frauen aus «fundamental-patriarchalen Gesellschaftsstrukturen», wie es die Frauenhäuser übervorsichtig formulieren. Frauen, die weder finanzielle noch soziale Ressourcen haben, oft kein Wort Deutsch können, kaum je gelernt haben, wie man ein Busbillett löst. «Wir vertreten eine Bevölkerungsschicht, die keine Lobby hat», sagt Claire Comte, Betriebswirtschafterin und Co-Leiterin des Winterthurer Frauenhauses. «Frauen am untersten Ende der Nahrungskette.»
Frauenhäuser sind aber nicht nur Schutzzonen für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, auf die sich meine Reportage konzentriert. Sie sind auch Mahnmale einer traurigen gesellschaftlichen Konstante, bei der aller Enttabuisierung zum Trotz noch immer lieber weg- als hingesehen wird: häusliche Gewalt.
Laut der jüngsten polizeilichen Kriminalstatistik des Bundesamts für Statistik werden Ausländerinnen gut 3.5-mal häufiger Opfer von häuslicher Gewalt als Schweizerinnen. Das lässt sich nicht leugnen. Doch kommt häusliche Gewalt hinter jeder Fassade vor, sie hält sich weder an Schichtzugehörigkeit noch an Nationalität. So ist eine (Schweizer) Freundin von mir von ihrem Mann so verprügelt worden, dass ihr Trommelfell gerissen ist (sie ist heute nicht mehr mit ihm zusammen). Aus Upperclass-Kreisen an Nobel-Orten sickert durch, dass auch Professoren und CEOs zuschlagen. Aus früheren Recherchen weiss ich, wie häufig die Militärwaffe dazu missbraucht wird, um Frauen und Kinder unter Druck zu setzen. Die Waffe wird oft noch zuhause aufbewahrt.
Auch sexualisierte Gewalt kaum ein Thema
Natürlich, häusliche Gewalt ist nicht einfach als Gewalt des Mannes gegen die Frau zu verstehen, sondern als jegliche Form von Gewalt innerhalb eines Beziehungskontexts. Tatsache aber ist: Schweizweit sind rund 76 Prozent der betroffenen Personen Frauen, 79 Prozent der Beschuldigten Männer. Laut dem Bundesamt für Statistik kam es 2014 im Bereich häusliche Gewalt zu 15 650 Straftaten. Die umfassen über zwei Drittel aller Tötungsdelikte, knapp 47 Prozent der Vergewaltigungen und die Hälfte aller Tätlichkeiten. Allein im Kanton Zürich rückt die Polizei täglich 10- bis 15-mal wegen häuslicher Gewalt aus. Eine erschütternde Bilanz.
Doch fast genauso erschütternd ist, dass Gewalt an Frauen, auch sexualisierte Gewalt, kaum ein Thema ist. Es wird weder regelmässig von den Medien aufgenommen, noch von Politikerinnen und Politikern thematisiert. Zwar wurde es durch die Übergriffe in Köln auch hierzulande chic, sich über sexualisierte Gewalt an Frauen die Finger wund zu schreiben und sich in TV-Sendungen heiser zu reden. Politiker von links bis rechts, Gesellschaftsjournalisten sowie Bloggerinnen, die sich zuvor kaum je zum Thema geäussert hatten, taten ihre Empörung kund. «Wird auch langsam Zeit», könnte man sagen, «sexualisierte Gewalt gibts schliesslich nicht erst seit Köln» – wäre da nicht der Verdacht, dass es dabei weniger um die weiblichen Opfer per se ging als darum, dass es fremde Männer waren, die einheimische Frauen attackierten. Vielmehr ging es um eine politische Vereinnahmung der Ereignisse, um eine Instrumentalisierung der sexualisierten Gewalt an Frauen und letztendlich auch ums Dabeisein bei einem Hype. Von den meisten Journalisten und Politikern ist heute, knapp sechs Wochen danach, diesbezüglich kaum mehr etwas zu hören. Ebenso wenig hat der Kampf gegen sexualisierte und häusliche Gewalt Aufnahme gefunden im Programm der politischen Parteien. Von der SP über die CVP, die FDP, die Grünen bis zur SVP – nichts. Nicht einmal bei den Frauenparteien, obwohl gerade Köln ein Anlass gewesen wäre, die Gewalt an Frauen, ob in der Öffentlichkeit oder innerhalb der privaten vier Wände, grundsätzlich genauer zu beleuchten.
Politische Aufmerksamkeit ist dünn gesät
Ausnahme sind die SP-Frauen, die auf ihrer Website unter der Rubrik «Dossiers» das Thema «Häusliche Gewalt» behandeln und dazu aufrufen, dieser Gewalt die Aufmerksamkeit zu schenken, die vonnöten ist. Bei den Frauen der FDP versteckt sich häusliche Gewalt unter «Kernthema 2», Stichwort «Sicherheit zuhause». Nähere Ausführungen dazu finden sich jedoch nicht. Dabei wäre eine nationale Strategie gegen häusliche Gewalt das Gebot der Stunde. Eine Präventions- und Sensibilisierungskampagne, möglicherweise organisiert vom Bundesamt für Gesundheit, flankiert von TV-Spots, Plakaten sowie von Lernprogrammen in Schulen und Ausbildungsstätten. Aktueller Aufhänger dazu könnten auch die Diskussionen um die im Bund hängige Ratifizierung der Istanbul-Konvention sein, eines Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen sowie von häuslicher Gewalt.
Doch bis anhin gab es nur ein paar dürre Stellungnahmen einer Handvoll Parteien und Kantonen, die allem voran die drohenden Kosten und potenziellen bürokratischen Fallstricke der Konvention bemängelten. Mit häuslicher Gewalt, so scheint es, sind keine politischen Lorbeeren zu holen. Nicht einmal ein Schulterklopfen. Zu stark herrscht noch die Haltung vor, dass häusliche Gewalt primär Privatsache sei, um die man sich gefälligst selbst zu kümmern habe. Zu oft wird sie noch immer als «Frauenanliegen» abgetan, das einem höchstens ein gelangweiltes Murren entlockt.
«Hast du nicht langsam genug von all den Frauenthemen?», werde ich ab und zu gefragt. Erkläre ich dann, dass es gesamtgesellschaftliche Anliegen sind, kommt schon mal die Antwort: «Immer auf die armen Männer, gähn. Sollen doch die Frauen endlich mal den Finger rausnehmen.» Das ärgert nicht nur, das ist beunruhigend. Ebenso beunruhigend ist, wenn ein junger Vater, wie es vor kurzem ein Bekannter von mir tat, dem Kellner salopp zuruft: «Die Tussi hier will eine Vanilleglace!» – und dabei auf seine neunjährige Tochter zeigt. Auch wenn es wohl hätte witzig klingen sollen, Gewalt beginnt schon da: in der Sprache, der Art und Weise, wie man jemanden sieht und demzufolge auch benennt. Gewalt beginnt in der Achtlosigkeit.
annabelle-Reporterin Helene Aecherli hat für die Ausgabe 03/16 eine Reportage aus dem Frauenhaus Winterthur geschrieben, wo heute fast alle Schutzsuchenden Migrantinnen sind. Auf annabelle.ch finden Sie das Dossier mit ergänzenden Zahlen und Fakten zur häuslichen Gewalt, neue Präventionsprojekte der Frauenhäuser und Pro und Kontra elektronische Fussfesseln.