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Die Gutenacht-Geschichte unseres Kulturredaktors

Leben

Die Gutenacht-Geschichte unseres Kulturredaktors

  • Text: Frank Heer; Illustration: iStock / kovalto1

annabelle-Kulturredaktor Frank Heer hatte nur einen Auftrag: Eine Kolumne schreiben. Und ist währenddessen zum Protagonist seiner eigenen Gutenacht-Geschichte geworden.

Das Thema für diese Kolumne ist sternenklar: Sie soll sich die Nacht zu eigen machen. Da es widersinnig ist, einen Text über die Nacht am Tag zu schreiben, warte ich bis zum Einbruch der Dunkelheit.

Jeder Arbeitsplatz im Büro hat einen Bewegungsmelder. Regt sich niemand, stellen die Lampen ab. Irgendwann sitze ich allein in der Redaktion, nur mein Tisch ist hell beleuchtet. Ich blicke aus dem Fenster. Bestimmt kann man mich von der Strasse aus sehen: Mann im Jeanshemd denkt sich eine Gutenachtgeschichte aus. Magisch muss sie sein, wie eine Shortstory von Julio Cortázar. Und dunkel, wie ein Song von Nick Cave. Weil mich das Licht meiner Tischlampe blendet, schalte ich sie aus. Eine hellgrün leuchtende Jukebox in einer Bar ohne Namen soll in meiner Geschichte vorkommen. Und ein Barkeeper, der aussieht wie Harry Dean Stanton.

Von der Strasse aus sieht man, dass ich konzentriert arbeite. Meine Finger wirbeln über die Tastatur. Es macht den Anschein, als falle dem Mann am Computer gerade sehr viel ein. Das Redaktionstelefon stört, das Display blinkt, ich stecke es aus. Im Haus gegenüber ist die Putzfrau am Werk. Sie wischt mit dem Lappen über Schreibtische und leert Papierkörbe. Ich winke ihr zu, doch sie scheint mich nicht zu bemerken. Harry Dean Stanton schenkt Bourbon ein, die Jukebox spielt Nick Cave. «Drei Eiswürfel bitte», schreibe ich.

Ich hätte mir ein Bier in der Kantine holen sollen, jetzt ist sie geschlossen. Ich taste mich durch die Dunkelheit in die Redaktionsküche und öffne den Kühlschrank. Biotta-Säfte, Salatblätter, Sojajoghurts, Wurzelgemüse. Ich verziehe das Gesicht und taste mich zurück ans Pult. Harry Dean Stanton zündet sich eine Zigarette an, ich nehme einen Schluck von meinem Bourbon.

Ein Mann im nachtschwarzen Anzug betritt die Bar. In der Hand hält er einen Koffer.

«Hello, Jack», sagt Harry Dean. «Du kommst zu spät.»

Jack stellt den Koffer auf die Theke. «Wo ist Jimi?» Seine Stimme klingt heiser.

«Jimi?»

«Jimi.»

«Jimi Black?»

«Jimi White.»

Wer mich jetzt von der Strasse aus beobachtet, sieht einen Mann im Jeanshemd, der sich die Haare rauft. Ihm bleiben nur noch wenige Zeilen, um seine Geschichte zu Ende zu erzählen. Viele Fragen sind noch ungelöst: Wer ist Jimi White, und was befindet sich in Jacks Koffer? Der Schein des Bildschirms schmerzt meine Netzhaut, ich reibe mir die Augen. So kann keine Magie aufkommen, denke ich und schalte den Computer aus. Endlich dunkel! Ich gehe ans Fenster, auch im Haus gegenüber sind die Lichter ausgegangen, nur die gläserne Telefonkabine unten auf der Strasse strahlt wie ein kleines Ufo. Drinnen steht eine Frau im roten Mantel. Sie wählt eine Nummer und blickt hinauf zur Redaktion. Mein Handy klingelt. «Hallo?»

«Jimi?», flüstert eine Stimme.

«Falsch verbunden», antworte ich und hänge auf. Die Frau eilt über die Strasse und verschwindet in einer Bar ohne Namen. Ich nehme meine Jacke und verlasse das Haus. Vor der Bar bleibe ich stehen und werfe einen Blick durchs Fenster. In der Ecke leuchtet, hellgrün, die Jukebox, auf der Theke steht ein Koffer. Daneben sitzt ein Mann im Jeanshemd und schreibt. Ich lege den Stift zur Seite und winke dem Barkeeper. «Noch einen Bourbon, Harry Dean!»