Redaktorin Linda Leitner verehrt vieles, was als uncool gilt – und kann mit der Bezeichnung «Guilty Pleasure» überhaupt nichts anfangen. Ein Kommentar über ein veraltetes Konzept.
Ich finde Calvin Harris gut. Und ich möchte ihn live sehen. Hinter einem massiven, laserumblitzten DJ-Pult, von dem ich nicht genau weiss, wozu er das eigentlich braucht. Aber er ballert Hits raus wie Blendwaffen. Wer jetzt akut angewidert reagiert, der lese nun gefälligst weiter. Und zwar bis zum Ende. Denn das ist keine Beichte oder so. Calvin Harris ist kein Guilty Pleasure – euphorischer Pop ist nun mal mein Geschmack. Und das ist gut so.
Hater:innen werden sagen, das, was Calvin Harris macht, sei gar keine Musik. Und mein Musikgeschmack sei schlicht schlecht. Aber wer oder was definiert guten Musikgeschmack? Die 6’212’160 monatlichen Calvin-Harris-Hörer:innen auf Spotify offenbar nicht. Die hören das plumpe (und übrigens Grammy-prämierte) Gedudel hoffentlich nur heimlich. Möglichst komplex soll Musik sein? Anspruchsvoll und nischig (am besten so, dass man andere belehren kann)?
Der mit erlesenem Geschmack gesegnete Mensch rennt vor dem Mainstream davon, bis er ganz atemlos ist. Geniesserisch grölen würde er selbigen Song nie. Will ich von Musik gechallenged werden? Ungern bis keinesfalls. Das tut der Rest des Lebens schliesslich genug. Pop soll meinen Kopf durchblasen, nervige Gedankenspiralen plattwalzen, mir ein wolkengleiches Sicherheitsnetz sein, wenn ich mal falle. Aus welchen Gründen auch immer. Spass machen solls halt. Aber darum gehts nicht, wenn man ein Bild zu wahren hat.
Müllhalde Mainstream
Mein Leben wäre dabei um einiges unbeschwerter, wenn ich all das mögen könnte, was ich so gerne lieben würde. Raven zum Beispiel. Dann hätte ich am Wochenende endlich mal so viel vor wie die coolen Techno-Kids. Alternativ fände ich es toll, mich beim Duschen parallel zum Wasserstrahl von Jazz berieseln zu lassen, statt mich etagenübergreifend mit Radiocharts zu beschallen. Es würde mir auch gefallen, mich mit Arte-Dokus weiterzubilden. Mein Herz schlägt aber eben für andere Dinge.
Einst ghostete mich ein bis dato sehr interessierter junger Herr, weil ich es wagte, ihm auf die Frage, was ich gerade mache, ehrlich zu antworten, ich würde Galileo schauen. Ein anderer reagierte beim Betreten meiner Wohnung wegen eines relativ grossen TV-Geräts sichtlich irritiert. Ob ich denn noch lineares Fernsehen konsumieren würde, fragte er desillusioniert. Ja. Unter anderem Galileo.
Ich habe verstanden: Wer die grösste Welle reitet, ertrinkt im (Ab-)Schaum. Nur wer individuell und originell unter der schmierigen Oberfläche surft, glüht vor elitärer Frische. Die Welt des guten Geschmacks ist ein Member Club – wer David Guetta summt, fliegt raus. Das ständige demonstrative Durchnudeln von Authentizität und Toleranz hat offenbar seine Grenzen – eine davon ist irgendwo vor der Mainstage des Zürich Openairs. Da nämlich spielt Calvin Harris als Hauptact.
Die Frage nach der Schuld
Andere wegen ihres Geschmacks zu belächeln, ist – im Gegensatz zu Bodyshaming und so weiter – absolut legitim. Da darf man supergerne offiziell diskriminieren. Das Übel hat schliesslich einen Kosenamen: Trash. As in: Müll. Dazu gehören ironischerweise die sehr erfolgreiche Pop(ulär)musik, gerne auch der Schlager und alles, was im Privatfernsehen läuft.
Da ist also diese dunkle Seite der Unterhaltungsindustrie, die so viele glücklich macht, für die man sich aber verdammt noch mal zu schämen hat. Akzeptabel wirds erst dann, wenn man kichernd hinterherschiebt, Serien über Auswanderer:innen seien eine Guilty Pleasure. Wenn man Glück hat, findet einen das Gegenüber dann cute. Hihi. Ein sexy Kratzer auf der überfilterten Oberfläche. Hihi.
Per definitionem sind Guilty Pleasures Dinge, nach denen wir uns mit heller Freude verzehren, auch wenn wir wissen, dass wir sie entweder verachten sollten oder dass die Affinität dazu etwas Negatives über uns aussagen könnte. Du bist, was du isst. Umso schlimmer, wenn man gern Scheisse konsumiert.
Der Ausdruck «schuldbehaftetes Vergnügen» ist dabei eine schimmernde Rüstung gegen abschätzige Kommentare – was da blitzt und blinkt, ist verlegene Ironie. Wenn ich also einen ganzen Rucksack voller Guilty Pleasures mit herumschleppe, lastet offenbar viel Schuld auf mir.
Ich weiss, was ich getan habe, aber wem pisse ich denn ans Bein? Den armen Leuten, denen der Song «One Kiss» von Dua Lipa (und Calvin Harris, klar) keinen süssen Tanzblitz durch den Körper jagt? Denen, die mich und meine stilistischen Entgleisungen ertragen müssen?
❤️🔥
Das spricht mir aus dem Herzen, Danke🍀
Das schöne ab einem gewissen Alter – diese Urteile von Aussen jucken einem nicht mehr wirklich 🙂