Die Ruderin Jeannine Gmelin aus Uster trat an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro für die Schweiz an. In ihrem dritten Erlebnisbericht erzählt die 26-Jährige von ihrem finalen Wettkampf und sinniert darüber, was sie aus Rio de Janeiro für ihre Sportlerkarriere mitnimmt.
Es schien, als hätte Petrus Erbarmen gehabt, wie ich es mir in meinem letzten Beitrag gewünscht hatte: Die Windverhältnisse für den Viertelfinal waren zwar anspruchsvoll, aber ruderbar. Während ich in den Startblöcken stand, schaute ich kurz zu Cristo Redentor, der monumentalen Christusstatue, hinauf, um mir klar zu machen, dass ich tatsächlich an den Olympischen Spielen bin.
Ich erwischte einen guten und schnellen Start und fand auch sehr bald in einen guten Rhythmus. Ich kam fehlerfrei über die ersten drei Viertel der Strecke und lag zu jeder Zeit auf einer Position, die für den Einzug in den Halbfinal reichte. Im letzten Abschnitt nahm der Seitenwind dann wieder zu, und auf der Aussenbahn bekundete ich zusehends Mühe, sauber über die Wellen zu kommen. Die Amerikanerin nutzte ihre Chance und zog an mir vorbei. Ich kam als Zweite ins Ziel und sicherte mir damit den Platz im Halbfinal der besten zwölf Boote.
Wenn es etwas gibt, das mich Rio ziemlich bald gelehrt hat, dann, dass man sehr flexibel sein und möglichst keinen Plan haben sollte – denn dieser wird sowieso auf irgendeine Art und Weise über den Haufen geworfen. Gerade in der Wettkampfphase habe ich gern eine klare Struktur oder einen genauen Plan – beispielsweise in Form eines geregelten Tagesablaufs. Das verleiht mir ein Gefühl von Kontrolle und gibt mir eine gewisse Sicherheit. Das unbeständige Wetter und der unberechenbare Wind haben mir mehrmals einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Geistesblitze im Regen
Dass Unvorhergesehenes eintreten wird, damit hatte ich schon im Vorfeld gerechnet. Daher gelang es mir meist, relativ entspannt zu bleiben, wenn ich mal wieder um 4:50 Uhr aufgestanden war, um zwei Stunden später vor der geschlossenen Ruderstrecke zu stehen. Im Nachhinein gesehen weiss ich nun, dass ich auch gute Leistungen erbringen kann, wenn Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gefragt sind. Und dass manchmal etwas weniger Kontrolle vielleicht besser und entspannender ist. Denn noch selten war ich so gelassen wie vor dem Start in den Halbfinal.
Diesmal war kaum Wind vorhanden, dafür regnete es stark. Während der Regen auf mich niederprasselte, erinnerte ich mich an all die vielen Trainingseinheiten, die ich bei strömendem Regen absolviert hatte. Es war eine Art Geistesblitz, der mir durch den Kopf schoss: Dafür waren all diese Einheiten gut – damit ich im Ernstfall ruhig und gelassen bleiben kann, durch nichts aus der Ruhe zu bringen bin und genau weiss, wie es sich anfühlt, triefend ein Rennen fahren zu müssen. Jetzt oder nie!
Bevor der Schiedsrichter die Boote der Reihe nach aufrief und die Startampel von Rot auf Grün sprang, rief ich mir kurz alle Menschen, die mich auf meinem Weg hierhin begleitet hatten, in Erinnerung. Sozusagen als Motivation, das kommende Rennen ihnen zu widmen und sie damit stolz zu machen. Was danach folgte, weiss ich kaum mehr. Dies ist eigentlich immer ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass es mir gelungen ist, gedanklich vollkommen ins Rennen abzutauchen und nur das zu tun, was notwendig ist: gut und schnell rudern.
An einen kurzen Moment erinnere ich mich allerdings noch: Gleich von Beginn weg und für einen Grossteil des Rennens konnte ich mit Emma Twigg, der Ruder-Weltmeisterin 2014, welche direkt auf der Bahn neben mir ruderte, mithalten. Auch diese Situation haben wir im Training zig Tausende Male geübt: Wenn ein Boot neben uns ist, muss man dranbleiben und darf nicht locker lassen. Die Ziellinie überquerte ich mit weniger als zwei Sekunden Rückstand auf die Siegerin und an dritter Stelle, damit war klar: Ich starte einen Tag später im Olympiafinal.
Harte Arbeit wird belohnt
Diese Tatsache liess Emotionen aufkommen, die ich in dieser Form noch nicht erlebt habe. Vor vier Jahren hatte ich mir zum Ziel gesetzt, an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Nun war ich nicht einfach nur hier und mittendrin, sondern reihte mich unter die Besten ein und hatte sogar die einmalige und aussergewöhnliche Chance, um eine olympische Medaille zu kämpfen.
Im Finallauf gelang mir zwar ein ordentliches Rennen, doch für eine Medaille reichte meine Zeit nicht aus. Ich beendete mein Olympiadebüt auf dem fünften Gesamtrang. Damit darf ich nicht nur ein Diplom nachhause nehmen, ich konnte auch mein WM-Ergebnis von vergangenem Herbst egalisieren, ja eigentlich sogar verbessern, denn die Weltmeisterin von 2014 hatte im Jahr 2015 auf einen Start verzichtet. Als Sportlerin hatte ich nach dem äusserst gelungenen Halbfinalrennen natürlich mit einer Medaille geliebäugelt. Doch als Realistin wusste ich, dass die Trauben für mich zum jetzigen Zeitpunkt noch etwas hoch hängen würden.
Dieser fünfte Rang ist aber mehr als nur ein Diplom. Dieser fünfte Rang ist mein persönlicher Beweis, dass ich auch in Zukunft immer auf mein Herz hören werde. Er steht dafür, dass Herzblut und harte Arbeit Träume wahr werden lässt, und nicht zuletzt ist er Genugtuung und Motivation zugleich, meinen Weg so weiter zu gehen, wie ich ihn vor ein paar Jahren eingeschlagen habe. Nun braucht es Zeit, all meine Erfahrungen und Erlebnisse einzuordnen und zu verarbeiten. Zwischenzeitlich bin ich schon voll im Touristenmodus und geniesse die restliche Zeit hier in Rio als Zuschauerin und unterstütze den Rest des Swiss Olympic Teams nach besten Kräften.
Die Ruderin Jeannine Gmelin aus Uster tritt an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro für die Schweiz an. Für annabelle.ch führt die 26-Jährige Tagebuch und erzählt uns von ihren Erlebnissen im Athletes Village. Die gelernte Kauffrau aus Uster hat schon früh gemerkt, dass sich ihre Begeisterung für ihr Hobby zu einer grossen Leidenschaft entwickelt hat. Sie begann, neben ihrer Ausbildung zu trainieren, und ist heute Teil des Elitekaders des Schweizerischen Ruderverbands in Sarnen. Seit 2006 nimmt Jeannine Gmelin an Wettkämpfen teil, vor ihrer Qualifikation für die Olympischen Spiele 2016 holte sie den ersten Platz – und den Schweizer Rekord – an den Swiss Rowing Indoors in Zug. Neben ihren Beiträgen für annabelle.ch bloggt die Sportlerin auch auf ihrer Website.
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