Leben
Grenzenlos erfolgreich: Udo Jürgens im Interview
- Interview: Peer Teuwsen; Foto: Ornella Cacace
Nicht zu glauben, dass dieser Mann älter als 75 Jahre ist. Wie machen Sie das nur, Udo Jürgens? Ein Interview mit dem erfolgreichen deutschsprachigen Musiker, der sinniert: «Ich war immer nur meinen Klavieren treu.»
Seine Wohnung, oben im Corso-Gebäude am Zürcher Bellevue, kennt wohl jede Illustriertenleserin. Die crèmefarbenen Ledersofas, das weisse Klavier von Schimmel, sie sind die Insignien eines Mannes, dessen Erfolg in der deutschsprachigen Musikszene alles in den Schatten stellt. Über hundert Millionen Tonträger hat der 78-jährige Udo Jürgens bis heute verkauft. Sein Leben ist verfilmt, die Lieder Allgemeingut, und Heiratsanträge treffen heute noch täglich ein. Aber der Mann zieht sich langsam zurück.
Er geht zum Beispiel nur noch einmal pro Jahr auf Tournee. Und auch in Zürich wohnt Udo Jürgens schon lange nicht mehr. Er hat den Lärm der Diskothek im gleichen Gebäude nicht mehr ausgehalten und ist nach Zumikon in ein standesgemässes Domizil gezogen. Die Zürcher Wohnung aber hat er behalten, auch weil die Stadt keine andere Verwendung für sie habe. Nun nutzt er die Räumlichkeiten halt für Gelegenheiten wie diesen Interviewtermin. Ein Zimmer ist mit Goldenen Schallplatten und Preisen gefüllt, im nächsten stehen ein ausgesteckter Atari-Computer und ein E-Piano, unter einem schwarzen Tuch begraben. Es ist alles wie aus der Zeit gefallen. Wie der Mann selbst. Als sein Handy eine seiner Melodien spielt, mag er den Anrufer nicht wegklicken. Der würde das ja merken. Und das wäre unhöflich.
«Kultur ist die einzige Religion, die ich akzeptiere»
ANNABELLE: Jürgen Udo Bockelmann, wann wurden Sie zu Udo Jürgens?
UDO JÜRGENS: Meine erste Plattenfirma meinte, Schlagerstars würden nicht Bockelmann heissen. Ich verstand das. Es war auch mir schwer vorstellbar, angekündigt zu werden mit: «Und nun, meine Damen und Herren, auf der Bühne: Jürgen Bockelmann!» Also machte ich aus meinen Vornamen den Künstlernamen Udo Jürgens.
Ich weiss. Aber wann haben Sie auch die Identität des Udo Jürgens angenommen?
Als sich die Erfolge einstellten. Dann war ich der Udo Jürgens.
Sie wurden zu einer Marke.
Darauf bin ich stolz. Weil ich diese Marke geschaffen habe. Ich und diese Marke sind eins.
Sie sind für mich einer der grössten lebenden deutschsprachigen Verwandlungskünstler. Sie können so viele Rollen spielen, sind Frau, sind Mann, sind Herzensbrecher und Moralapostel, sind Phrasendrescher und Dichter.
Ja, das alles bin ich. Weil es Rollen sind, an die ich glaube. Das sind ethische Werte, die ich vertrete. Der Umgang mit Kunst ist übrigens für mich die einzige wirkliche Errungenschaft des Menschen. Kunst vermittelt die wahren ethischen Werte, und das sind in erster Linie die Literatur, die Philosophie und die Musik. Die positive Energie, die uns die Kunst vermittelt, macht das Leben lebenswert. Am glücklichsten bin ich, wenn ich lese. Hätten wir die Kultur nicht, wären wir arme Würstchen. Kultur ist, wenn Sie so wollen, die höchste Form der Religion – die einzige Religion übrigens, die ich akzeptiere.
«Wir sind nichts ohne unsere Lieder»
Sie sind nun 78 Jahre alt, sagen selbst, es gehe gegen das Ende zu. Gleichzeitig sind Sie auf dem Höhepunkt Ihres Erfolgs, wenn auch nicht mehr unbedingt Ihres Könnens. Wie erklären Sie sich das?
Das kann ich Ihnen nicht erklären.
Soll ich es Ihnen erklären?
Ja, bitte.
Sie sind ein grosser Menschen-, insbesondere Frauenversteher. Dieses Verständnis konnten Sie in Musik umsetzen.
Sie haben recht, wenn auch das Wort Frauenversteher einen negativen Unterton hat. Ich war schon in den Fünfzigerjahren der Meinung, dass den Frauen die gleichen Rechte zustehen wie uns Männern. Trotz all meines Machotums. Dieses männliche Selbstverständnis gefällt uns Männern ja. Und dass wir da jetzt Abstriche machen sollen, gefällt uns gar nicht.
Sie selbst haben ja auch keine Zugeständnisse gemacht.
In meinen jungen Jahren sicherlich nicht, nein. Trotzdem habe ich die Frauen immer sehr gut verstanden. Ich bin auch immer fair zu ihnen gewesen.
Ich frage mich: Haben Sie sich selbst je verstanden?
Nicht ganz. Es ist mir zum Beispiel ein Rätsel geblieben, was diese Lieder, die ich mir auf dem Klavier ausgedacht habe, ausgelöst haben.
Sie waren eigentlich immer nur mit Ihren Klavieren verheiratet.
Völlig richtig. Das war sehr schwer für meine Partnerinnen. Ich war immer nur meinen Klavieren treu. Was ich sagen will: Wir sind in diesem Beruf ja eigentlich nichts. Wir sind nur das, was wir machen. Das Lied ist alles. Michael Jackson war so gross, weil er die besten Lieder aller Zeiten hatte, die sind eine Mischung aus Pathos, Kitsch und unbändigem Rhythmus. Wir sind nichts ohne unsere Lieder.
Sie hatten diese Lieder.
Aber ich musste zum Teil lange auf ihren Erfolg warten. «Ich war noch niemals in New York» war eine erfolglose B-Seite einer Single. Sie war schon zwölf Jahre auf dem Markt, als ein Discjockey in Tirol begann, das Lied in einer Skihütte zu spielen. Die Leute waren hin und weg, sind nachhause gefahren und haben es überall gespielt. Das Lied wurde zum Flächenbrand. Zwölf Jahre nach Erscheinen.
Sie aber hatten immer gewusst, dass es ein gutes Lied ist.
Das wusste ich.
Warum?
Weil es eine gute Geschichte und eine Melodie hat, die zur Seele des Lieds passt. Beides ist eins.
Sie müssen den Text und die Melodie finden, die etwas bei den Menschen auslöst, oder, in Ihren eigenen Worten: Ein Lied muss sein «wie ein Schwert, das in alle Herzen dringt, das tröstet und zerstört».
Genau. Und es gibt keine Sicherheit, dass dies gelingt. Gut so.
Sie können Emotionen schaffen. Was hat das mit Ihnen gemacht, wenn Sie sehen, was Sie mit Ihren Liedern beim Publikum anrichten?
Wenn ich sehe, dass in der ersten Reihe erwachsene Männer weinen, bin ich sehr ergriffen von mir selbst. Das ist der Moment der gnadenlosen Selbstüberschätzung. Und davon muss man sich ganz schnell wieder befreien, sonst wirst du zum Idioten. Und von denen gibt es ja in unserer Branche viele.
«Ich will gar nicht leidensfrei sein»
Ist das Alter ein Massaker?
Mit Sicherheit. Du wirst in Zeitlupe dahingerafft. Das Alter ist gut zu ertragen für einen einfachen Menschen. Zum Beispiel für den alten Bauern in meiner Heimat Kärnten, den ich kürzlich getroffen habe. Er ist mit sich im Reinen. Für ihn ist das Leben ein Triptychon aus Geburt, Arbeit und Tod. Und das ist gut so. Für uns aber, die wir uns mit diesen Fragen wirklich beschäftigen, ist es schwieriger. Ich lese viel Philip Roth, und der beschäftigte sich in seinen letzten Büchern fast nur noch mit dem Alter und dem Tod. Derjenige, der sich um intellektuelles Leben bemüht, weiss halt, im Gegensatz zum Bauern, um diese Mühen, die das Alter mit sich bringt. Einfacher wird es so nicht. Aber intensiver. Ich versuche, bis es mich erwischt, noch viel zu lachen und zu lieben. Ich bin aber natürlich wie wir alle vom Wunsch beseelt, dass mir gegen das Ende die Qual erspart bleibt.
Haben Sie vorgesorgt, indem Sie einer Sterbehilfeorganisation beigetreten sind?
Nein. Aber ich finde es gut, dass es diese Organisationen gibt. Der Mensch hat das Recht, seinem Leben ein Ende zu setzen.Ihr Wunsch ist es doch, auf der Bühne in Asche zu zerfallen.
Das wäre nicht schlecht. Aber lieber hinter der Bühne. Ich will ja die Menschen nicht schockieren.
Das berufliche Leben ist Ihnen ohne Frage gelungen. Wie aber steht es mit dem privaten?
Das ist mir mit Bomben und Granaten misslungen. Ich bin zweimal geschieden. Aber mein Beruf ist halt auch prädestiniert, Ehen zu zerstören. Ich habe mit meiner Karriere die Welt bewegt. Als mein Sohn, der John,geboren wurde, war ich in Japan auf Tournee. Heute fliegt ja jeder Fussballer sofort ans Bett der Frau, wenn sie niederkommt.
Es ist ein leises Lächeln auf Ihrem Gesicht.
Wenn Messi sagen würde, er könne leider den ChampionsLeague-Final nicht spielen, weil seine Frau ein Kind bekommt, dann würde der Trainer einen Tobsuchtsanfall bekommen. Hoffentlich. Doch der Mann ist heute eben in erster Linie der Partner der Frau. Ich verstehe das ja auch. Aber ich stamme aus einer Zeit, in der man zuerst seine berufliche Pflicht zu tun hatte. Und sich danach um das Private kümmerte. Meine erste Frau nimmt es mir aber bis heute übel, dass ich bei der Geburt nicht dabei war. Mit meinem Sohn bin ich längst im Reinen. Aber ich selbst trage immer noch einen Rest Schuld in mir.
Einer Ihrer schönsten Sätze lautet: «Ich will gar nicht leidensfrei sein.»
So ist es. Ich bin voller Widersprüche, voller Leiden. Aber das muss auch so sein. Ohne dies kann man kein hörenswertes Lied schreiben. Man muss den Schmerz kennen, um Töne zu finden, die verstanden werden. Vielen Künstlern in Ihrem Alter passiert es, dass sie zu lebenden Museumsstücken werden. Oder zu Parodien ihrer selbst, das ist noch schlimmer.
Wie verhindern Sie das?
Indem ich mich von aussen betrachte – und versuche, den, den ich da sehe, in seiner Unvollkommenheit zu begreifen. Ich weiss heute zum Beispiel, dass ich am Klavier im Vergleich zu einem Konzertpianisten lächerlich bin, da spielt mich jeder Mittelmässige in Grund und Boden. Was der aber nicht kann, kann ich. Ich habe diesen Touch, dieses Gefühl für Jazzharmonik.
Die Sehnsucht als Triebfeder
Udo Jürgens, Sie werden es mir verzeihen.
Ich verzeihe Ihnen alles.
Nicht zu vorschnell. Ich habe mir dieses Musical «Ich war noch niemals in New York» angeschaut, das aus Ihren zwanzig bekanntesten Liedern gezimmert wurde. Wenn man höflich ist, ist dies eine pompöse Ironisierung Ihres Werks. Wenn man ehrlich ist, wird man Zeuge einer Verhunzung.
Finden Sie?
Allerdings.
Warum verbieten Sie dieses Musical nicht?
Weil ich es grossartig finde, wenn man sich mit meinem Werk beschäftigt. Dadurch wird das Original ja nicht kaputt gemacht. Ich finde es auch grossartig, wenn heute Mozart-Melodien als Jazz gespielt werden.
Es tut Ihnen nicht weh, wenn man «Ich war noch niemals in New York» auf den Schlag spielt statt dazwischen – so wie Sie es tun. So swingt das Lied nicht mehr.
Ein Chor muss immer auf den Schlag singen, den Personal Touch der verschleppten Note kann man mit dem Chor nicht machen. Aber wissen Sie, so werden die Lieder auch ein bisschen von mir befreit.
Gehört das zu Ihrem Alterungsprozess?
Nein. Musik ist nicht gut, wenn sie nur an einen Interpreten gefesselt ist. Das mag die einzige Schwäche von Michael Jackson sein. Seine Lieder konnte nur er singen.
Wann haben Sie erkannt, dass das Prinzip Sehnsucht Ihr Erfolgsrezept ist?
In dem Moment, in dem ich erkannt habe, dass die Sehnsucht meine Triebfeder ist. Ich habe mich in meinem Leben immer nach etwas gesehnt. Das ist heute noch so.
Und nach was sehnen Sie sich heute?
Sicher nicht nach Materiellem. Ich sehne mich nach Seelenfrieden, nach einer Innigkeit mit den Menschen, die ich liebe, meine Kinder, meine Enkelkinder. Ich habe zwei asiatische Enkelkinder, von meiner Schwiegertochter, die vor einem Waisenhaus ausgesetzt wurde und nicht weiss, wer ihre Eltern sind. Dass diese Bitterkeit in mein Leben hereinrankt, das empfinde ich nicht als einen Makel, sondern als einen Adel. Da wird mir klar, dass ich ein beschenkter Mensch bin.
— Das Musical «Ich war noch niemals in New York» ist noch bis zum 2. Juni im Theater 11 in Zürich zu sehen; www.musical.ch
— Gerade ist die neuste CD von Udo Jürgens erschienen: Best of Live. Die Tourneehöhepunkte Vol. I Peer Teuwsen leitet die Schweizer Ausgabe der Wochenzeitung «Die Zeit». Er hat ein Buch über seine Interviewtechnik geschrieben: «Das gute Gespräch» (Echtzeit-Verlag)