Er war Bankräuber, Söldner und Slumdoktor, heute ist er die wohl schillerndste Figur der Literaturszene. Ein Hausbesuch bei Gregory David Roberts, dem Autor des Indien-Epos und Weltbestsellers «Shantaram». Es treten auf: Schwere Motorräder, starke Muskeln und eine echte Prinzessin.
Die Wohnungstür im unauffälligen Achtzigerjahrebau öffnet sich, und heraus tritt ein Gesamtkunstwerk: sargschwarze Kluft, schwere Silberringe, ein Brustkorb wie ein Rotweinfass. Darüber spannt sich ein silberbestickter Brokatmantel, wie gemacht für eine Vampirmodeschau in Transsilvanien. Der Blick im von Narben übersäten Gesicht ist neugierig und offen. Die Manieren: formvollendet. Et voilà, Gregory David Roberts (58), Bestsellerautor und Ex-Krimineller in seiner ganzen Pracht.
Hinter ihm erscheint eine zierliche blonde Frau in Designerkleidern, perfekt geschminkt und manikürt: Françoise von Sturdza, Prinzessin durch Einheirat in ein rumänisches Fürstenhaus und seit dreieinhalb Jahren Roberts’ Gefährtin. Ihre Wohnung in Genf ist jetzt auch seine Basis. Jeden Morgen flicht sie ihm das blond gefärbte Resthaar zum Zopf.
«Er ist mein Pirat und isch seine Prinzessin», flötet sie mit betörendem französischem Akzent. Dann bittet sie ins Wohnzimmer, in dem alles crèmefarben und von exquisitem Geschmack ist. Während Gregory David Roberts Kaffee kocht, öffnet die Prinzessin einen Sack mit Astronautennahrung, den sie sich bei der Nasa besorgt hat. Der Inhalt sieht aus wie getrockneter Kuhdung. «Essen bedeutet uns nicht viel», sagt Roberts, dem der angewiderte Blick der Reporterin nicht entgangen ist. «Am liebsten würden wir einfach ein paar Nährstofftabletten einwerfen.» Dann lässt er sich in der eierschalenfarbenen Sofalandschaft nieder.
«Shantaram» hiess der Roman, der den australischen Ex-Sträfling berühmt gemacht hat, ein in 39 Sprachen übersetzter Weltbestseller, der 2003 erschien und vor zwei Jahren auch auf Deutsch übersetzt worden ist. Es ist eine Geschichte von Abenteuer und Revolte, von Liebe, Absturz und Gefahr. Es ist die Geschichte seines Lebens. 13 Jahre lang hat er am testosterongesättigten Epos gearbeitet. Die ersten Fassungen wurden von Gefängniswärtern vernichtet, Berge von Manuskriptseiten in einer fast kaligrafischen Handschrift, besudelt mit dem Blut aus den aufgeplatzten Frostbeulen, die er in seiner ungeheizten Zelle erlitt.
1976 verliert Gregory David Roberts, damals Student der Philosophie und Politikwissenschaften in Melbourne, sein dreijähriges Kind in einem Sorgerechtsstreit. Der junge Vater verkraftet den Verlust nicht, wird heroinabhängig und raubt mit einer Spielzeugpistole eine Reihe von Banken aus. Stets trägt er dabei Anzug und Krawatte und entschuldigt sich wortreich bei seinen Opfern, weshalb ihn die Boulevardpresse den Gentleman-Gangster nennt. 1978 wird er verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. 1980 bricht er aus dem Hochsicherheitstrakt aus, worauf das wilde Leben erst richtig losgeht: Er flüchtet mit falschem Pass nach Bombay (das heute eigentlich Mumbai heisst, doch Gregory David Roberts weigert sich beharrlich, den neuen Namen zu benutzen). Er wird Slumdoktor für die Ärmsten, heuert bei der indischen Mafia an und erlernt das Business der örtlichen Klein- und Grossgangster von der Pieke auf. Später verhungert er um ein Haar im berüchtigtsten Gefängnis Bombays, kämpft in Afghanistan und Sri Lanka, wird Bollywoodschauspieler, Passfälscher, Goldschmuggler, Rocksänger. Von Interpol gejagt, wird er schliesslich in Deutschland verhaftet, wo er ab 1990 mit einer sinistren Schar Terroristen von RAF, IRA, Roten Brigaden, Grauen Wölfen, Hisbollah und Hamas in Frankfurt-Preungesheim einsitzt und seither nach eigenen Angaben «mehr über den Terrorismus weiss als jeder Experte, den ich im Fernsehen gesehen habe» – aber stopp, das ist schon die Fortsetzung von «Shantaram», an der er gerade schreibt. Denn ein einziges Buch reicht einfach nicht für ein Leben wie seines, auch wenn es über tausend Seiten hat.
Ist es glaubwürdig, dass ein Mensch allein all dies erlebt hat? Ja, denn manches in «Shantaram» mag zwar kitschig oder pathetisch klingen, aber vieles ist so präzise beobachtet, dass es nicht erfunden sein kann: die Devisenschiebereien der Mafiaclans, die Märkte der Kindersklaven, das streng geregelte Sozialgefüge im Slum, die Gewalt und die Zärtlichkeit, die manchmal nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt liegen. So farbig und sinnesprall ist der Kosmos Bombay beschrieben, dass «Shantaram» zu einer Art Bibel der Globetrotter geworden ist, zum Indien-Epos der Post-Hippie-Ära.
Das grösste Faszinosum des Buchs aber ist seine Hauptfigur Lin, die wie ihr Schöpfer ein Mann der Extreme ist: hochintelligent, kultiviert, akademisch gebildet, Beschützer der Armen und Schwachen, Vertreter strenger moralischer Prinzipien – und gleichzeitig verurteilter Schwerkrimineller. Ein Outlaw auf der Flucht, der in keine Schublade passt.
annabelle: Mr. Roberts, trotz Ihrer hohen moralischen Ansprüche haben Sie schon fast jedes Verbrechen begangen, abgesehen von Entführung und Mord. Wie passt das zusammen?
Gregory David Roberts: Sie gehen wohl davon aus, dass man die Menschen in Gut oder Böse einteilen kann, was? So ist es aber nicht. Menschen sind einfach nur Menschen. Sie tun jedoch gute und schlechte Dinge. Jeder tut gute und schlechte Dinge. Nach meiner Erfahrung gibt es übrigens mehr Ehrenmänner unter Verbrechern als unter Wirtschaftskapitänen.
Ach was.
Doch! In unserer Gesellschaft gilt es als akzeptabel, eine Firma aufzukaufen, sie auszuplündern, die Belegschaft zu feuern und damit die Arbeitslosigkeit am Standort des Unternehmens von zwei auf zwölf Prozent zu steigern. Das passiert jeden verdammten Tag. Der Mensch, der so was macht, ruiniert das Leben von Hundertenoder gar Tausenden. In meinem ganzen Leben habe ich keinen Kriminellen getroffen, der es auch nur in Erwägung gezogen hätte, ein Verbrechen dieser Grössenordnung zu begehen.
Wie gehen Sie mit Ihren Schuldgefühlen um?
Sie sind immer da, wenn ich in den Spiegel schaue. Ich bin ehrlich zu mir selbst. Ich vergesse nie, was ich getan habe. Darum ist mein Selbstbewusstsein auch nicht sehr gross.
Als junger Mann waren Sie ein prominenter Linksaktivist und Gewerkschafter. Andere schauten zu Ihnen auf. Wie konnte es so weit kommen, dass Sie alle Ihre Ideale verrieten?
Tja, wie? Damals sprach ich zu Tausenden von Studenten, die an mich glaubten, und ich war bei jeder Demo an vorderster Front mit dabei. Dass ich jemanden bestehlen könnte, war für mich unvorstellbar. Doch als ich mein Kind verlor und drogensüchtig wurde, habe ich es trotzdem getan. Heroinabhängige tun Dinge, die sie sich niemals hätten träumen lassen. Sie vergreifen sich sogar am Sparschwein ihres Kindes. Den Rest meines Lebens habe ich versucht, das wiedergutzumachen.
«Shantaram» ist nicht nur eine Abenteuersaga, sondern auch ein modernes Erweckungs-Epos. Die Geschichte eines Gestrauchelten, der den Weg aus der Hölle zurückfindet. Gregory David Roberts hatte bereits alles organisiert, um auch aus dem Hochsicherheitstrakt in Frankfurt auszubrechen «und dabei vielleicht draufzugehen». Da hat er eine Vision. «Ich wusste plötzlich, dass meine Mutter es nicht ertragen würde, wenn alles von vorn losginge.» Roberts kehrt zurück in seine Zelle und beschliesst, ein besserer Mensch zu werden. Von einem Moment auf den anderen hört er auf zu rauchen, zu trinken, Drogen zu nehmen, Fleisch zu essen, Verbrechen zu begehen.
Er wird nach Australien ausgeliefert, sitzt seine Strafe ab, schreibt «Shantaram» – und hat ausgesorgt. Millionen Exemplare gehen weltweit über den Ladentisch, nicht mitgerechnet die geschätzte halbe Million Raubkopien auf dem indischen Schwarzmarkt. Brad Pitt, Edward Norton und Russell Crowe prügeln sich um die Filmrechte. Das Rennen macht schliesslich Johnny Depp, der auch die Hauptrolle spielen wird, sobald man sich auf einen Regisseur geeinigt hat. Gregory David Roberts wohnt, wann immer er in Bombay weilt, in seiner «Shantaram»-Suite im Four Seasons Hotel. Das luxuriöse Haus überlässt ihm die Gemächer praktisch umsonst, denn der berühmte Gast zieht andere Celebritys an, die sich mit seiner Gesellschaft schmücken wollen. Bombay ist nun hip. So hip, dass sogar Madonna einflog, um sich vom geläuterten Ex-Gangster durch die Slums führen zu lassen. Hundert Polizisten musste Roberts aufbieten, um den Popstar vor Zaungästen zu schützen. Es kostete ihn ein einziges Telefonat. Denn die Connections aus Mafiazeiten sind noch immer intakt.
Gregory David Roberts holt frischen Kaffee aus der Küche. Der Blick der Reporterin fällt auf ein mit rätselhaften Gegenständen zugemülltes Sofa. Es sind lauter Dinge, die seine berühmten Freunde für eine Charity-Auktion gestiftet haben und die nun darauf warten, zu ihren neuen Besitzern geschickt zu werden: ein Hut von Johnny Depp, Glitzer-Highheels von Madonna,die goldenen Sprintschuhe des Rekord-Athleten Usain Bolt. Die Auktion hat viel Geld eingebracht, Geld für die Stiftung seiner Prinzessin, die in Südindien Schulbildung und Ernährung für 1800 Kinder organisiert. Charity ist überhaupt das grosse Ding im noch jungen Jahrtausend. «Helfen macht glücklicher als jede Wunderdroge», sagt Roberts. Madonnas Glitzerpumps jedoch, die musste er einfach selbst ersteigern, für Françoise natürlich. 35 000 Franken hat ihn das gekostet. Die vielleicht teuersten Schuhe der Welt. Aber ein bisschen Blingbling ist ja wohl das Mindeste für die Frau seines Lebens, die sich nun zu seinen Füssen auf dem hochflorigen Teppich niederlässt.
Mr. Roberts, warum sind alle Frauen in «Shantaram» wie Göttinnen: schön, mysteriös, umgeben von einer magischen Aura und dunklen Geheimnissen? Das ist doch Kitsch!
Sind Frauen etwa nicht Göttinnen? Als männlicher Schriftsteller bin ich unendlich fasziniert von ihnen. Ich vergöttere ihre Andersartigkeit. Grosse Teile meines Lebens habe ich in reinen Männerclubs zugebracht. Seither weiss ich ganz genau, wie Männer ticken. Sind Sie verheiratet?
Ja.
Nun, wenn Sie unsicher sind, ob Ihr Ehemann etwas taugt, bringen Sie ihn her. Ich muss ihm nur ins Gesicht blicken und seine Hand schütteln, und schon weiss ich Bescheid. Das hat mich der Knast gelehrt. Bei Frauen hingegen funktioniert das überhaupt nicht. Sie werden für mich immer und ewig ein Mysterium bleiben.
Mir scheint, Sie heben die Frauen auf einen Sockel und beten sie an.
Ich verrate Ihnen jetzt mal was: Meine Beziehungen zu Frauen waren ein einziges Desaster – bis auf die aktuelle natürlich.
Woran lag das?
An meinem schlechten Selbstbewusstsein. Wenn ich zwei Mädchen an einer Party kennen lernte, die eine finanziell unabhängig, stark, gesund und glücklich, die andere neurotisch, unbeliebt, durchgedreht und pleite, dann nahm ich ganz bestimmt die neurotische, weil ich mir einredete, dass sie mich braucht. So funktionieren Liebesbeziehungen aber nun mal nicht. Und diese Erkenntnis hat sich bei Ihnen dann doch noch durchgesetzt? Ja, ich erlebte eine Beziehung, die noch kaputter war als alle anderen zuvor. Und musste schliesslich einsehen: Nicht mal ich bin so schlecht, dass ich es verdiene, wie Dreck behandelt zu werden. Also habe ich mich geändert. Einige Jahre später traf ich Françoise. (Zur Prinzessin) Chérie, ist es dir auch wirklich bequem da unten?
Françoise: Aber ja, Schatz, ich liebe es, auf dem Teppich zu sitzen!
Welche Art von Beziehung haben Sie beide miteinander?
Gregory David Roberts: Wir sind verheiratet.
Das allein sagt noch nicht viel aus.
O doch, für uns schon. Denn wir sind beide sehr gut darin, allein klarzukommen. Im Gefängnis hat es mir nichts ausgemacht, 16 Stunden pro Tag in der Zelle eingeschlossen zu sein. Für mich waren eher die anderen 8 Stunden voller Stress und Anspannung.
Gregory David Roberts spricht in atemberaubendem Maschinengewehrstaccato. Seine Antworten, die hier stark verkürzt wiedergegeben sind, dauern in Wirklichkeit selten weniger als zehn Minuten und sind gewürzt mit Brandreden gegen den Kapitalismus und Versatzstücken seiner selbst entwickelten Resolution Theory. In etwa 500 Jahren, so glaubt Roberts, werde ein neues Zeitalter anbrechen, in dem seine Wertvorstellungen endlich von allen geteilt würden: Jeder wird drogenfrei, gesund und vegetarisch leben wollen. Alle werden versuchen, die Welt zu verbessern. «Es wird auch unmöglich sein, einander mit Gewalt und Grausamkeit zu begegnen, weil unsere Seelen dank neuer Technologien eng miteinander verbunden sind.» Das klingt, nun ja, reichlich abgedreht. Aber in 500 Jahren, wer weiss? Da das Gespräch in immer unübersichtlichere philosophische Gefilde zu entgleiten droht, suchen wir Zuflucht in profaneren Fragen.
Mr. Roberts, Sie sind nun 58 Jahre alt und haben einen Brustkorb wie Arnold Schwarzenegger in seiner «Terminator»-Phase. Wozu das viele Fitnesstraining?
(Grinst) Entweder du tust etwas für deinen Körper, oder du lässt dich gehen. Die meisten Männer lassen sich gehen. Ich nicht. Ich stemme Gewichte und boxe. Das ist Zen für starke Männer.
Mögen Sie es, wenn Sie ein bisschen gefährlich aussehen?
Ich sehe stark aus, nicht gefährlich. Das ist ein Unterschied. Ich nehme auch keine Steroide wie viele der Cops, mit denen ich befreundet bin.
Aber es ist durchaus in Ihrem Interesse, wenn man Sie für hartgesottener hält, als Sie sind.
Nein, ich beschäftige mich nicht mit meinem Image. Ich bin, was ich bin. Ich mag es, fit zu sein, weil man beim Sport sein Gehirn mit Endorphinen flutet. Ab und zu habe ich das bitter nötig. Denn nicht nur die Dinge, die ich anderen angetan habe, machen mir zu schaffen. Sondern auch die Dinge, die mir selbst angetan worden sind.
Wovon sprechen Sie?
Ich bin in mehreren Gefängnissen gefoltert worden. Wenn sie deine Knochen brechen, und du bist davon überzeugt, dass sie dich gleich umbringen – das macht etwas mit dir. Wenn du zwei Jahre lang ohne Tageslicht in Isolationshaft sitzt – das macht etwas mit dir. Später habe ich in Australien mit Folteropfern gearbeitet. Viele von ihnen waren so traumatisiert, dass sie kein normales Leben mehr führen konnten. Am schlimmsten dran waren die Trinker und Kettenraucher. Man kann solche seelischen Verletzungen nur überleben, wenn man Geist und Körper mit positiven Energien füllt: Liebe, Training, Sex, Kreativität. Ach ja, und nicht zu vergessen: Motorrad fahren.
Aha, deswegen Ihr Fuhrpark in der Garage.
Ja, auch Motorrad fahren ist Zen für starke Männer. Wenn du eine Weile unterwegs bist, gibt es einen Punkt, an dem du nichts mehr fühlst. Keinen Hass, keine Angst, keine Liebe, keine Freude, keinen Ehrgeiz und keine Verzweiflung – nur Stille.
In den Achtzigerjahren haben Sie Waffen für die Mujahedin nach Afghanistan geschmuggelt. Warum sind Sie freiwillig in den Krieg gezogen, wenn Sie sich doch eigentlich nach Stille sehnen?
Weil ich den Mann liebte, der mich dort hingeschickt hat.
Ihr Überlebensinstinkt war schwächer ausgeprägt als die Loyalität zu Ihrem Boss?
Ja, ich liebte ihn. Er war wie ein Vater für mich. Mein ganzes Leben habe ich damit zugebracht, nach Vaterfiguren zu suchen. Ich dachte nicht daran, wie gefährlich es werden könnte. Ich tat damals viele dumme, lächerliche Dinge, suchte mir Fallschirmspringen als Hobby aus und war immer der Letzte, der die Reissleine zog. Ich kannte keine Angst.
Was für eine Beziehung hatten Sie zu Ihrem biologischen Vater?
Eine sehr schwierige. Er war gewalttätig. Als ich 16 war, schlug ich das erste Mal zurück – und verliess danach mein Zuhause, für immer.
Haben Sie ihn je wiedergesehen?
Ja, dreissig Jahre später, nachdem ich meine Strafe in Australien abgesessen hatte. Ich spürte, dass ich mich mit ihm versöhnen musste, wenn ich meinen Frieden mit mir selbst machen wollte. Er lebte noch immer im selben Haus, sass auf demselben Stuhl, löste wie früher sein Kreuzworträtsel. Ich sagte: Bitte verzeih mir, dass ich ein so schlechter Sohn war. Wenn ich ein besserer Sohn gewesen wäre, hättest du vielleicht ein besserer Vater sein können. Er sagte: Okay. Ich sagte: Du weisst, dass ich dich jetzt umarmen werde? Er sagte: Ist das wirklich notwendig? Ja, sagte ich und umarmte ihn, und es war, als ob ich ein Stück totes Holz berühren würde. Nach einigen Sekunden befreite er sich aus meinen Armen, und wir verabschiedeten uns. Es war nicht wie im Film, wo die Geigen schluchzen und sich alle in den Armen liegen. Es war schrecklich.
Sechs Monate nach diesem Treffen sei sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben, erzählt Gregory David Roberts, der nun sichtlich um Fassung ringt. Er wirkt erschöpft. Fast fünf Stunden hat unser Gespräch gedauert. Jede Frage, und sei sie noch so indiskret gewesen, hat er beantwortet.
Doch seine Erschöpfung ist auch grundsätzlicher Natur. Denn Roberts ist ein Getriebener. «Ich hatte ein hartes Leben, und ich erwarte nicht, sehr alt zu werden. Meine Uhr tickt.» Fieberhaft versucht er, aus den verbleibenden Jahren das Maximum herauszuholen. Sobald er die Fortsetzung von «Shantaram» beendet hat, für die er sich gleich nach dem Interview in den australischen Busch zurückziehen wird, möchte er im Filmbusiness aktiv werden. Um seinen Output zu erhöhen, will er Heerscharen von jungen Kreativen anstellen, die seine Ideen zu Drehbüchern verarbeiten, zu Videospielen, Graphic Novels und multimedialen E-Books, damit all die Freunde und Freundesfreunde, die Gregory David Roberts unterstützt, auch nach seinem Tod von den Tantiemen leben können. Ausserdem möchte er Schweizer Waffenfirmen aufkaufen und zu medizinischen Hightech-Unternehmen umrüsten, sodass jeder Mitarbeiter seinen Job behalten kann. Schwerter zu Pflugscharen, sozusagen. Aber dafür muss nun mal Geld her. Viel Geld.
Er klingt, als müsse er die Welt im Alleingang retten. Eine Aufgabe, an der selbst ein so starker Mann wie er nur scheitern kann. Doch es gibt so verdammt viel wiedergutzumachen in seinem Leben. Und so wird Gregory David Roberts schuften bis zum Umfallen, in der Hoffnung, damit die Last seiner Sünden ein winziges bisschen kleiner zu machen.
Gregory David Roberts über …
Seine guten Taten: Als Slumdoktor habe ich mehr Menschenleben gerettet als jeder andere, den ich kenne. Hunderte, vielleicht Tausende.
Seine prominenten Freunde: Paparazzi, Bodyguards, geheime Ein- und Ausgänge – Berühmtheit ist eine Zumutung. Ich wünschte mir, Johnny Depp wäre keine Celebrity. Dann könnten wir viel mehr Spass miteinander haben.
Seine Ausbrüche aus dem Gefängnis: Ich war ein zweiter Houdini.
Grandioser Schmöker
«Viel Zeit und viel Welt brauchte ich, um zu lernen, was ich weiss über die Liebe, über das Schicksal und über die Entscheidungen, die wir treffen, doch das Wesentliche verstand ich in einem einzigen Augenblick, als ich an eine Wand gekettet war und gefoltert wurde.» So beginnt das 1088 Seiten starke Abenteuer-Epos «Shantaram», ein grandioser Schmöker, dessen Sog sich trotz einiger offensichtlicher Mängel (arg verkitschte Liebesszenen!) kaum jemand entziehen kann. Heerscharen von Mumbai-Travellern reisen mit dem Roman im Rucksack von Schauplatz zu Schauplatz. Sinnesprall und so leidenschaftlich wie der Herzschlag Indiens!
Gregory David Roberts: Shantaram. Goldmann-Verlag, ca. 18 Franken