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GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy: «Frauen sind zum Machtfaktor geworden»

Politik

GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy: «Frauen sind zum Machtfaktor geworden»

Die Ständeratswahlen vom vergangenen Sonntag entpuppten sich als Frauenwahl. Neu sind so viele Frauen im Ständerat vertreten wie nie zuvor. «Das ist erfreulich», sagt Kathrin Bertschy, Co-Initiantin der überparteilichen Bewegung «Helvetia ruft!». Dennoch: Die egalitäre Vertretung von Frauen in der Politik bleibt ein Generationenprojekt.

annabelle: Mit der Grünliberalen Tiana Angelina Moser, mit Marianne Binder, Mitte, und der SP-Politikerin Franziska Roth ziehen nach den zweiten Wahlgängen gleich drei Frauen neu in die kleine Kammer ein. Wie laut hat Helvetia gejubelt?
Kathrin Bertschy: Wir haben uns natürlich sehr gefreut. Diese zweiten Wahlgänge in den Ständerat sind aus Frauensicht erfreulich. 16 der insgesamt 46 Sitze im Ständerat, also 35 Prozent, sind nun in weiblicher Hand – das ist ein historischer Rekordwert und relativiert das Resultat der vergangenen Nationalratswahlen. Doch es gibt auch schmerzliche Verluste, zum Beispiel die Nicht-Wiederwahl von Lisa Mazzone in Genf, auch eine Projektträgerin von «Helvetia ruft!».

Blenden wir kurz auf die Wahlen im Oktober zurück: War der Frauenanteil im Nationalrat 2019 noch von 32 auf 42 Prozent gestiegen, liegt er nun neu bei 38,5 Prozent. Da bleibt einem doch nichts anderes übrig, als zu sagen: In diesem Fall ist Helvetias Ruf nach mehr Frauen in der Politik kläglich verhallt – oder?
Überhaupt nicht. Zwar hätte man angesichts der Verschiebung der Parteienstärke erwarten können, dass der Frauenanteil im Nationalrat noch mehr zurückgeht. Doch das ist nicht passiert – auch wenn die Grünen, die Partei mit dem höchsten Frauenanteil, Mandate verloren und die SVP, jene Partei mit dem tiefsten Frauenanteil, die meisten Sitze gewonnen hat. Im 200-köpfigen Nationalrat sitzen nun 77 Frauen. Vor der Wahl waren es aufgrund von Rücktritten noch 78. Dass ihr Anteil fast gleich hoch geblieben ist, zeigt, dass die politischen Gremien hinsichtlich der Vertretung von Frauen robuster geworden sind. Das ist auch auf die paritätische Listengestaltung der Parteien zurückzuführen: Auf den insgesamt 147 Hauptlisten standen 595 Frauen und 729 Männer. Das ist gegenüber früheren Wahlen ein Riesenfortschritt.

Doch war etwa eben die Abwahl der jungen Genfer Ständerätin Lisa Mazzone, die für die Grünen in der kleinen Kammer sass, ein so überraschend wie herber Verlust.
Das bedaure ich sehr. Sie war sehr profiliert, hat einen grossen Leistungsausweis. Die Konstellation war aber sehr schwierig. Trotzdem, dieser Verlust ist umso schmerzhafter, als dass der Weg in den Ständerat für Frauen traditionell steinig ist. So konnten etwa seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 erst zwei Frauen den Kanton Aargau im Ständerat vertreten – Marianne Binder-Keller ist nun die dritte. Im Kanton Solothurn gab es in den letzten 52 Jahren sogar erst eine Ständerätin – mit Franziska Roth folgt endlich die zweite. Petra Gössi, die langjährige FDP-Nationalrätin und frühere Parteipräsidentin, wurde am 22. Oktober zur ersten Ständerätin des Kantons Schwyz überhaupt gewählt – notabene in einem Kanton, der mit 13 Prozent den schweizweit tiefsten Frauenanteil in seinem Parlament hat. Ein Schlusslicht ist auch das Tessin: SP-Politikerin Marina Carobbio Guscetti war die bisher erste und einzige Ständerätin in seiner Geschichte.

Interessant ist aber nun: Während bei den Nationalratswahlen vor allem linke Frauen durch rechte Männer ersetzt wurden, mussten sich nun rechte Männer, ausser eben im Kanton Tessin, im Rennen um den Einzug in den Ständerat von Frauen geschlagen geben. Welche Dynamik liegt diesem Phänomen zugrunde?
Nun, Ständeratswahlen sind Majorzwahlen, Mehrheitswahlen. Da gilt es grundsätzlich, über das eigene Lager hinaus zu mobilisieren. Dafür braucht es herausragende Persönlichkeiten mit einem grossen Leistungsausweis, die breit wählbar sind und Allianzen schmieden können. Darüber hinaus muss aber auch die parteipolitische Zusammenarbeit stimmen, sodass sich Leute zugunsten einer Kandidatin oder eines Kandidaten aus dem Wahlkampf zurückziehen können. Mittlerweile setzen Parteien in Majorzwahlen vermehrt auf profilierte Politikerinnen. Denn Frauen – sowohl als Politikerinnen wie als Wählende – sind zu einem Machtfaktor geworden. Das hat man am vergangenen Sonntag gesehen: Die Wählerinnen haben sich parteiübergreifend hinter die Politfrauen gestellt und ein klares Statement abgegeben, wer für sie die richtige Vertretung in Bern ist.

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«Wer die Anliegen und Lebensrealitäten von Frauen übersieht, hat es schwer an der Urne»

Was haben die Frauen im Wahlkampf anders gemacht als die SVP-Männer?
Sie haben es besser geschafft, über ihre Parteigrenzen hinaus Vertrauen aufzubauen und sich politisch breiter aufzustellen. Die SVP-Kandidaten hingegen vermochten ausserhalb ihres eigenen Lagers kaum mehr zu mobilisieren. Die Wahl hat auch gezeigt, dass ein paar traditionelle Verbände, in denen Männer das Sagen haben und die Frauen zum Rückzug drängten, Frauen als Kandidatinnen und Wählerinnen übersehen haben. Sie haben zu wenig verstanden, dass Wählende sich eine eigene Meinung bilden und sich nicht einfach stramm danach richten, welche Wahlempfehlung ihnen vorgegeben wird. Kurz: Wer die Anliegen und Lebensrealitäten von Frauen und auch von immer mehr in Familien- und Gleichstellungsfragen engagierten Männern übersieht, hat es schwer an der Urne.

Trotz des Wahlerfolgs der Frauen ist die Mehrheit der Mitglieder im Ständerat noch immer männlich – und konservativ. Ganz nüchtern betrachtet: Welchen Einfluss werden die 16 Ständerätinnen ausüben können?
Die allermeisten der Ständerätinnen haben einen grossen Leistungsausweis und sind mit der überparteilichen Zusammenarbeit bestens vertraut. Das kann besonders bei jenen Themen fruchten, bei denen die Frauen über die Parteigrenzen hinweg ähnliche Anliegen haben, weil sie als Frauen überdurchschnittlich und anders davon betroffen sind, etwa die Prävention von häuslicher Gewalt, die Gender-Medizin oder der Gender Gap in den Sozialversicherungen. Es ist gut möglich, dass sie sich durchsetzen und die Weichen im Ständerat anders stellen als bisher. Ausserdem dürfte sich mit 16 Ständerätinnen – über ein Drittel der Ratsmitglieder – die Unternehmenskultur im Rat zunehmend verändern. Zum Beispiel dahingehend, welche Themen wie lange besprochen werden oder wer wie viel Redezeit hat. Gemäss ungeschriebenen Regeln wurde den jüngeren Ständerätinnen in der Vergangenheit nicht selten zu verstehen gegeben, ihre Wortmeldung sei nun ausreichend lang geraten, derweil ältere männliche Ratsmitglieder gerne einmal über längere Zeit dozierten. Solche Gepflogenheiten werden wohl langsam, aber sicher verschwinden.

Welche politischen Anliegen werden in der kommenden Legislatur im Zentrum stehen?
Das hängt von der internationalen Lage und der Schwerpunktsetzung des Bundesrats ab. Auf dem Programm stehen dürften unter anderem das Verhältnis Schweiz/EU, insbesondere der Rahmenvertrag und die bilateralen Abkommen, der Ausbau der Stromversorgung und erneuerbare Energien, das Gesundheitswesen und je nachdem eine weitere Reform der Altersvorsorge. Zudem erwarten wir den Entscheid über die Einführung der Individualbesteuerung und das Kita-Gesetz sowie Debatten über die Migration, zur Ökologie und Landwirtschaft, zu den Bürgerrechten, zur Demokratie-Initiative und zu Wohnraum und Mietpreisen.

Sie sagen, die egalitäre Vertretung von Frauen in der Politik bleibt ein Generationenprojekt. Was bedeutet das für die Bewegung «Helvetia ruft!»?
Helvetia wird weiter rufen. Die Geschichte lehrt uns, dass der Weg des Fortschritts selten linear erfolgt, sondern mit Rückschlägen gepflastert ist. Die überparteiliche Bewegung zählt aber mittlerweile viele aktuelle und angehende Politikerinnen, die sich gemeinsam dafür einsetzen, dass Frauen und Männer dereinst zu gleichen Teilen politische Entscheidungen treffen und die Schweiz eine wirklich gute, repräsentative Demokratie wird. Denn der Anteil der Frauen an der Schweizer Bevölkerung liegt nicht bei 39 Prozent, wie im Nationalrat, und noch weniger bei 35 Prozent, wie aktuell im Ständerat, sondern bei gut 50 Prozent. Das bedeutet aber auch, dass wir die Parteien weiterhin mit humorvollem, aber hartnäckigem Druck in die Pflicht nehmen. Sie sind gefordert, diese Aufbauarbeit ebenso zu leisten und Frauen als Kandidatinnen auf allen Ebenen für politische Ämter aufzustellen. Denn die Kantonsrätinnen von heute sind die Stände- und vielleicht sogar die Bundesrätinnen von morgen.

Kathrin Bertschy, 44, ist Berner GLP-Nationalrätin und Co-Initiantin der überparteilichen Bewegung «Helvetia ruft!».

«Helvetia ruft!» – für mehr Frauen in der Schweizer Politik – ist eine überparteiliche Bewegung, initiiert von alliance F, dem Dachverband der Schweizer Frauenorganisationen. «Helvetia ruft!» motiviert Frauen für die politische Arbeit. Zentrale Aktivitäten sind Mentorings und Medientrainings, die Frauen stärken und sie dabei unterstützen, ein Netzwerk aufzubauen.

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