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«Das ist das Prinzip der Brotherhood»

Leben

«Das ist das Prinzip der Brotherhood»

  • Interview: Kerstin Hasse; Foto: Unsplash/Desi Mendoza

Die Schweiz ist ein Festivalland – so weit, so toll. Doch schaut man sich die Programme an, scheint Diversität kein Thema zu sein. Woran liegt es, dass noch immer so wenige Frauen auf und hinter der Bühne stehen? Wir haben bei der Koordinationsstelle Helvetiarockt nachgefragt. 

annabelle.ch: Yvonne Meier, Regula Frei, mit der sogenannten Keychange-Initiative, die 2017 lanciert wurde, will die britische PRS Foundation ein Zeichen setzen. Bis 2022 soll international auf und hinter Konzertbühnen Gender-Gleichheit herrschen. Wie sieht die Situation in der Schweiz im Hinblick auf den kommenden Festivalsommer aus?
Yvonne Meyer: Eher schlecht! Es gibt Leuchttürme, etwa das B-Sides-Festival, das Blue Balls oder das Bad Bonn. Da achten die Veranstalterinnen und Veranstalter auch auf eine ausgeglichene Vielfalt auf der Bühne.

Und bei den grossen Festivals?
Regula Frei: Da ist es noch immer schwierig. In manchen Jahren ist es besser, in anderen schlechter. Das Openair St. Gallen hat zum Beispiel in diesem Jahr ein paar junge Künstlerinnen dabei, tolle Neuentdeckungen, aber von einer konsequenten Quote sind wir noch weit entfernt.

Woran liegts?
Meyer: Für mich hat das auch mit Mut zu tun. Bei vielen Festivals sind die Tickets ausverkauft, bevor das Programm überhaupt bekannt ist. Das heisst, es sind nicht in erster Linie die Headliner, die die Leute dazu bringen, ein Ticket zu kaufen. Es geht dem Publikum um das Erlebnis, um den Event und das Zusammensein. Die Leute würden auch kommen, wenn das Programm diverser wäre. Und manchmal braucht es den Mut, gewissen Musikerinnen und Musikern eine Bühne zu geben, die vielleicht noch nicht so gross sind. 

Ist es denn so schwierig, ein diverses Programm auf die Beine zu stellen?
Frei: Natürlich nicht, aber es bedeutet für viele einen Mehraufwand. Man muss es wollen, man muss recherchieren. Was heisst es denn, einen Headliner zu buchen, bei dem Frauen auf der Bühne stehen? Dass die Band eine Sängerin haben muss? Nein, eben nicht. Es gibt auch Bands mit Frauen an den Instrumenten. Doch um das herauszufinden, braucht es Zeit und Willen.

Meyer: Das Problem beginnt schon früher im System. Wer wird vom Management gepusht, wer wird gebucht – das sind alles Faktoren, die entscheiden, ob es jemand auf eine Showcase-Bühne schafft. Auf diesen Bühnen ist der Frauenanteil zum Beispiel schon viel tiefer, und entsprechend weniger sichtbar sind diese Künstlerinnen dann. 

Keychange fordert, dass bis 2022 50 Prozent der Festivalschaffenden weiblich sind. Ist das ein machbares Ziel in der Schweiz?
Frei: Es ist sportlich. Wir würden sagen, dass mindestens 30 Prozent ein Muss sind. Aus der Minderheitsforschung weiss man, dass alles, was darunterliegt, das Ziel verfehlt. Dann wird man nur auf das Merkmal reduziert, das diese Minderheit ausmacht. Man ist die Frau auf der Bühne und nicht die Schlagzeugerin. 50 Prozent zu 50 Prozent muss das Ziel sein.

Wie viele Schweizer Festivals sind Teil dieser Initiative?
Frei: Bis jetzt meines Wissens eines, das B-Sides-Festival. Aber die Initiative hat etwas ausgelöst. Plötzlich merken Veranstaltende: Shit, wir sollten wirklich etwas machen.

Meyer: Wir dürfen nicht vergessen: Die Schweiz hat eine hohe Dichte an Festivals – dafür sind wir bekannt. Und damit stehen wir in der Verantwortung. Es wäre eine wichtige Plattform für die Szene, es kommen so viele Besucherinnen und Besucher zusammen, und alle Festivals werden medial begleitet. Umso wichtiger wäre es, dass mehr als ein Schweizer Festival Teil dieser Initiative werden.

Ein Argument, das oft in dieser Debatte fällt, lautet: Solang der Sound gut ist, spielt es doch keine Rolle, ob eine Frau oder ein Mann auf der Bühne steht.

Meyer: Das hören wir dauernd. Der Anspruch an Qualität ist richtig, aber Qualität hat nichts mit dem Geschlecht zu tun. Unsere Gesellschaft ist divers und sollte auch entsprechend auf den Bühnen abgebildet sein. Dies gilt auch für die Strukturen dahinter.

Frei: In der Popmusik finde ich es besonders wichtig, dass es eine Vielfalt gibt, weil junge Leute sich sehr an dieser Musik orientieren. Sie achten auf die Texte und beobachten genau, wer sich wie auf der Bühne gibt. Dort, finde ich, haben Clubs und Festivals eine hohe Verantwortung, die sie zum Teil einfach nicht wahrnehmen.

Wie kann das geändert werden?
Frei: Es handelt sich um ein dynamisch-komplexes System, das wie ein Mobile funktioniert. Daran hängen verschiedene Teile, unterschiedlich positioniert, die sich bei einer Veränderung mehr oder weniger stark und schnell bewegen. Es kann sich nicht nur ein Teil bewegen, es braucht sie alle. Sich zu bewegen bedeutet, die Strukturen zu hinterfragen und zu verändern: Welche Entscheidungsgremien gibt es, wer bestimmt? Wenn man hinschaut, sind es zu 80 bis 90 Prozent weisse, ältere Männer, die entscheiden. Da muss man ansetzen. Wer sich nicht bewegt, blockiert das gesamte System.

Und diese Männer buchen lieber Männer, weil Männer einfach gern Männern zuhören?
Frei: Männer verhandeln oft mit Männern. Das ist das Prinzip der Brotherhood.

Es gibt eine Brotherhood in der Schweizer Musikszene?
Frei: Klar! Frauen kommen in diesen Netzwerken kaum vor, es gibt wenige Ausnahmen. Das passiert nicht absichtlich, aber es ist frappant. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass viele Männer in der Gleichstellungsdebatte überfordert sind. Sie merken, es ist nicht gut, wie es ist, aber sie wissen auch nicht richtig, was sie tun können, um etwas zu ändern. Sie sind genauso betroffen von dieser Ungleichheit. Doch anstatt sich zu überlegen, was es bräuchte für eine Gleichstellung, bringen sich viele Männer in eine Kampfposition. Selbstverständlich gibt es auch viele Frauen, welche mit der Thematik nicht viel bis gar nichts am Hut haben. Schön ist, dass sich immer mehr Personen, darunter auch viele Männer, bei Helvetiarockt melden, um beraten zu werden.

Dieses Sich-nicht-Wohlfühlen der Männer spiegelt sich auch darin, dass sich manche beklagen, sie würden von Frauen angefeindet. Wird der Diskurs von Frauen zu angriffig geführt?
Meyer: Das finde ich nicht – solang der Diskurs auf einer sachlichen und konstruktiven Ebene stattfindet. Wir von Helvetiarockt führen den Diskurs stetig und versuchen, mit Projekten und Workshops die Leute zu sensibilisieren. Missstände gehören kritisiert, und positive Beispiele sollen sichtbar werden.

Frei: Die ganze Branche muss sich seit einigen Jahren neu erfinden, weil kaum mehr Tonträger verkauft werden und Musik oft kostenfrei konsumiert wird. Man ist also schon gestresst, und jetzt kommen noch die Frauen und wollen einem das wenige Wasser, das noch bleibt, abschöpfen. Aber wir müssen einfordern. Wir sagen – freundlich, aber bestimmt, mit einem Lächeln im Gesicht: So geht es nicht mehr. 

Meyer: Es geht um Gleichstellung, es geht nicht darum, das Pendel zu kehren. Und damit sich etwas verändert, muss Verantwortung übernommen werden. Es ist halt ein Business, es geht um Geld, und das macht es nicht einfacher. Wir werden weiterhin kritisieren und konstruktiv an Lösungen arbeiten. Wir setzen uns für einen ausgeglichenen Anteil von Frauen und Männern in den Strukturen der Arbeitsfelder im Musikbusiness, in Gremien, Juries, Panels, Kommissionen und natürlich auf den Bühnen ein.

Helvetiarockt gibt es seit bald zehn Jahren. Wie hat sich eure Arbeit über die Jahre hinweg verändert?
Frei: Heute ist eine andere Stimmung als noch vor fünf oder sechs Jahren. Schon damals gab es einige Leute, die unsere Arbeit toll fanden, aber wirklich ernst genommen wurden wir nicht. Heute kommen Organisationen auf uns zu, und wollen unseren Rat. Die Sensibilisierung ist viel mehr da, und das ist schön. Wenn die Keychange-Initiative greift, dann kann sich auch das System Musikbranche Schweiz schneller bewegen. Aber es gibt noch viel zu tun.

Meyer: Unser Ziel ist es, dass es Helvetiarockt irgendwann nicht mehr braucht. Dass eine Gleichstellung in der Musikbranche Selbstverständlichkeit ist, dass die Objektivierung von Frauen aufhört und dass die Geschlechterhierarchie überwunden wird.

Frei: Und dass jede Organisation ihre Strukturen überprüft und hinterfragt und sich ein Ziel für die nächsten vier oder fünf Jahre setzt. Wir sind eine kleine Organisation, und wir versuchen seit zehn Jahren die Szene aufzumischen, aber wir haben keine fixen Gelder für unsere Arbeit und kratzen so einiges zusammen. Wir können nicht alles machen. Wir betreiben aktiv Nachwuchsförderung, wir motivieren, wir haken nach, wir nerven und leisten Grundarbeit – aber wir haben begrenzte Mittel. Deshalb müssen alle Beteiligten in die Verantwortung genommen werden und handeln.

 

Yvonne Meyer (links) konzipiert den Empowerment Day von Helvetiarockt, davor war sie langjährig als Co-Geschäftsleiterin des Konzertveranstalters Bee-flat in Bern tätig. 

Regula Frei ist Leiterin der Geschäftsstelle von Helvetiarockt, sie moderiert Workshops und leitet verschiedene Projekte. 

Helvetiarockt ist eine Vernetzungs- und Koordinationsstelle für Frauen in Jazz, Pop und Rock. Die Organisation setzt sich für mehr Präsenz von Frauen auf der Bühne ein und fördert junge Musikerinnen mit Bandworkshops und Camps. Sie organisiert ausserdem im Rahmen des Empowerment Day Podien, Referate und Workshops in der Schweiz, um einen Veränderungsprozess in Sachen Gleichstellung und Diversität in der Branche anzukurbeln.