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«Die Gewalt ist gleichbleibend hoch»

Leben

«Die Gewalt ist gleichbleibend hoch»

  • Interview: Viviane Stadelmann; Foto: iStock

Die Debatte um Gewalt gegen Frauen wird in der Schweiz hitzig geführt. Corina Elmer, Geschäftsführerin der Beratungsstelle sexuelle Gewalt gegen Frauen, über die Schuldfrage, den Einfluss von #metoo auf junge Frauen und was man als Frau tun kann, wenn man Gewalt erlebt.

annabelle: Corina Elmer, Sie sind Geschäftsführerin der Beratungsstelle für sexuelle Gewalt gegen Frauen in Zürich. Sind Sie froh, dass die Debatte um Gewalt gegen Frauen endlich in aller Öffentlichkeit geführt wird?
Corina Elmer: Durch die aktuelle Diskussion in der breiten medialen Öffentlichkeit wird das Thema wieder ins Bewusstsein vieler Leute gebracht. Es löst Fragen aus, es wird diskutiert. Besonders wenn es auf sachliche und differenzierte Weise geschieht, dann sehe ich darin eine gute Möglichkeit, einen Grossteil der Bevölkerung auch wirklich auf die Gewalt an Frauen sensibilisieren zu können. Mit einem solchen öffentlichen Aufschrei schwingen jedoch auch immer Gefahren mit.

Wo sehen Sie die Nachteile des aktuellen Medienrummels?
Die Gefahr ist, dass anhand solch extremer Fälle gewisse Aspekte skandalisiert werden. Sind es Täter mit Migrationshintergrund, wird schnell pauschalisiert und das als ein Problem der «Fremden» abgestempelt. Dabei sind sexuelle Übergriffe ein alltägliches Problem, das zuhauf vorkommt.

Gerade diese Schuldzuweisung spaltet aktuell die Schweiz. Die Linken sind in der Kritik, sie würden sich der Realität verwehren, wenn sie sich weigern über die Zusammenhänge der Nationalitäten der Täter zu sprechen, dem rechten politischen Lager wird vorgehalten, sie seien voreilig und verallgemeinernd. Wie stehen Sie dazu?
Dieser Debatte soll und darf man sich nicht verwehren. Man muss hinschauen, aber mit einem anderen Blickwinkel. Eine Häufung der Gewaltbereitschaft der Täter ist nicht auf die  Nationalität, sondern auf patriarchale Einstellungen zurückzuführen. Da gibt es überdurchschnittlich viele junge Männer mit Migrationshintergrund, die aus Gesellschaften mit rigiden patriarchalen Einstellungen kommen. Das betrifft aber längst nicht alle Migranten. Wichtig ist auch zu betonen, dass sich frauenfeindliche Rollenvorstellungen nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränken. Auch sehr konservative oder rassistische Einstellungen begünstigen die Ausübung von Gewalt gegen Frauen. Am Ende kommen individuelle, familiäre und soziale Einflüsse zusammen, eine Verallgemeinerung greift zu kurz.

Gewalt gegen Frauen ist nicht erst seit gestern ein Thema. Wo sehen Sie die Gründe, dass die Debatte grad jetzt so laut geführt wird? 
Einige Ereignisse der letzten Zeit haben das sicherlich begünstigt. Da war die Silvesternacht in Köln, dann kam der Aufschrei, dann #metoo. Jede Welle schien nach und nach etwas aufzubröckeln. Ich glaube, die Frauen haben einfach genug. Sie wollen solches Verhalten nicht länger dulden, wollen keine Opfer mehr sein.

Der Dialog scheint oft nur unter Frauen geführt zu werden. Dabei gibt es neben der Täterschaft genauso Gewaltangriffe gegen Männer.
Das war schon immer eine einseitige Kommunikation. Wenn es um sexuelle Gewalt oder Ausbeutung geht, dann ist das scheinbar ein Thema, das nur Frauen etwas angeht. Aber es geht die Männer genauso viel an. Männer, die beteiligt sind und Männer, die gar keine Gewalt ausüben, sie müssten ebenfalls hinschauen, etwas tun. Das darf man nicht vergessen. Trotzdem: Wenn man nicht gleich betroffen ist, interessiert es einen einfach weniger.

Wo muss der Hebel angesetzt werden, damit die Gewalt gegen Frauen abnimmt?
Das ist eine schwierige Frage. Ich bin jetzt über 50 Jahre alt und begann Ende der 80er in einem Frauenhaus zu arbeiten. Schon damals setzten wir uns für die gleichen Dinge ein: gegen Gewalt an Frauen, für Gleichstellung. Damit etwas passiert, muss auf mehreren Ebenen gleichzeitig angesetzt werden. Nicht nur bei den Opfern, sondern auch im Umfeld und bei den Tätern selber bis hin präventiven Massnahmen an Schulen, in Betrieben, in Gesellschaft und der Politik. Alle müssen an einem Strang ziehen, um sich für ein egalitäres Verhältnis zwischen den Geschlechtern einzusetzen.

Merken Sie bei Ihrer Tätigkeit bei der Frauenberatungsstelle einen Unterschied seit #metoo, dass die Frauen sich schneller trauen, bei Ihnen Rat zu suchen?
Von meinen Mitarbeiterinnen weiss ich, dass sich mehr Frauen einmalig bei uns melden, wenn es kurz zuvor zu einer solchen medialen Aufmerksamkeit gekommen ist. Oft sind dies Kurzzeitberatungen für sogenannte Bagatelldelikte. Die Frauen reagieren zwar, aber nach unserem Gesetz sind solche Fälle strafrechtlich nicht verfolgbar. 

Wann sind sie verfolgbar?
Ab einer gewissen Schwere, z. B. wenn die sexuelle Gewalt übers Verbale hinausgeht und eine Körperverletzung besteht, die Frau geschlagen, vergewaltigt oder genötigt wird.

Gemäss Polizeistatistik ist die Zahl der Gewalt gegenüber Frauen gesunken, von 15 731 im Jahr 2009 waren es 2016 noch 14 477 und im letzten Jahr 2017 14 345. Merken Sie davon etwas?
Nein, wir merken keinen Rückgang. Die Fälle, die wir bearbeiten, nehmen sogar zu. Die Gewalt ist gleichbleibend hoch und es gibt eine grosse Dunkelziffer.

Wo erleben die Frauen, die zu Ihnen kommen, die meiste Gewalt: zu Hause oder auf der Strasse?
Rein statistisch gesehen ist das Risiko, vom eigenen Partner, einer bekannten oder verwandten Person Gewalt zu erfahren, drei bis viermal grösser als durch eine fremde.

Gibt es eine Frauengruppe, die besonders betroffen ist?
Bei uns melden sich die jungen Frauen (18 bis 29) am häufigsten, darauf folgen die 29-35 Jährigen. Zusammen machen sie bei uns über 60 Prozent der Fälle aus. Das hängt mit der sexuellen Aktivität zusammen. Bei häuslicher Gewalt dürfte in diesem Alter auch die Belastung durch Kinder eine Rolle spielen.

Was kann eine Frau tun, wenn ihr sexuelle Gewalt widerfährt?
Der erste und wichtigste Schritt ist, sich Unterstützung zu suchen, darüber zu sprechen und den Vorfall zu melden, auch um allfällige Spuren zu sichern für die Beweislast. Sehr häufig haben Frauen Schuldgefühle, schämen sich oder ordnen den Vorfall als nicht so schlimm ein und merken erst später, welche Folgen es für sie hat. Am besten soll die Frau sich von einer Vertrauensperson begleiten lassen oder eine Operberatung kontaktieren, bevor sie Anzeige macht.

Wenn eine Freundin sexuelle oder häusliche Gewalt vermutet, merkt, dass etwas nicht stimmt, aber die Frau blockt ab. Kann man trotzdem helfen?
Die Freundin sollte nicht wegschauen, sie immer wieder ermuntern, Hilfe zu suchen, zum Beispiel an einer Opferhilfestelle. Es hilft, wenn sie anbietet, die Freundin zu begleiten, mitzukommen, anzurufen, für sie da zu sein. Ihr zu zeigen, dass sie nicht die einzige Betroffene ist – aber damit auch nicht allein gelassen wird.

Corina Elmer, Geschäftsführerin der Beratungsstelle sexuelle Gewalt gegen Frauen