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Gewalt an Frauen:

Gewalt an Frauen: "Warum schützt die Schweiz uns nicht?"

Der öffentliche Druck zeigt Wirkung: Der Ständerat sprach sich gestern für die geforderten Mittel zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen aus. Doch wie ist es möglich, dass wir uns eine zusätzliche Million zum Schutz von Frauen auf der Strasse erkämpfen müssen? Ein Kommentar.

Es war schon spät, als der Nationalrat am Montagabend über die eine Million abstimmte, die zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen bestimmt war – eine Summe, die viel zu reden gab und weiter zu reden geben wird. Man möchte sagen: Es war zu spät. Zu spät für die 27 Frauen, die in der Schweiz allein in diesem Jahr ihr Leben liessen, weil sie vor ihren gewalttätigen Ehemännern, Expartnern, Brüdern und Vätern nicht ausreichend geschützt wurden.

Obwohl in der Schweiz Tötungsdelikte in der Partnerschaft rund einen Drittel aller Morddelikte ausmachen, auch wenn zehntausende Frauen und Kinder hierzulande häusliche Gewalt erleben und sexualisierte Gewalt zur Alltagserfahrung vieler Frauen und Mädchen gehört: Die Mehrheit des Parlaments zeigte sich überzeugt, dass eine zusätzliche Million Franken zur Bekämpfung dieser Missstände falsch investiert wäre.

Zwar kann das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) sein Budget für die angekündigte Präventionskampagne gegen häusliche, sexualisierte und geschlechterbezogene Gewalt um 1,5 Millionen auf drei Millionen Franken aufstocken. Aber eine weitere Million, die für die Umsetzung der Massnahmen der Istanbul-Konvention bestimmt war, lehnte der Nationalrat ab.

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"Sind in der Schweiz selbst schwarze Schafe besser geschützt als Frauen?"

Zur Einordnung: Verabschiedet wurde in der Wintersession ein Bundesbudget im Umfang von rund 90 Milliarden Franken. Der Nationalrat gab im Zuge der 13-stündigen Budgetdebatte 3,5 Millionen Franken für den Herdenschutz von Schafen frei. Weitere 10 Millionen sprach er für die Unterstützung der Schweizer Winzer:innen. Doch eine zusätzliche Million zum Schutz von Frauen? Abgelehnt. Sind in der Schweiz womöglich selbst schwarze Schafe besser geschützt als Frauen?

Ich würde an dieser Stelle gern schreiben, dass der Aufschrei gross war. Doch die Wahrheit ist, dass kaum jemand davon erfahren hätte, wenn nicht die Linke, allen voran SP-Nationalrätin Tamara Funiciello das Abstimmungsresultat schnell publik gemacht hätte. Ihr Instagram-Post ging viral, innert kürzester Zeit entstand eine Petition, auf der bis heute über 400'000 Menschen den Ständerat aufforderten, auch die zusätzliche Million freizugeben – und das Geschäft damit zurück in den Nationalrat zu schicken.

Während am Dienstag die Nachricht auf Instagram verbreitet wurde, sorgten in den Zeitungen und auf Newsportalen die Nachtzüge nach Malmö für Schlagzeilen, die vom Bund nicht gefördert werden. Im Ticker von SRF, der live «über alles Wichtige aus dem Parlament» auf dem Laufenden halten will, waren die zusätzlichen Mittel für den Schweizer Wein Thema, nicht aber die abgelehnte Million für den Kampf gegen Gewalt an Frauen. Es brauchte eine aufgebrachte Politikerin, der ihre Empörung nur zu gern als Polemik oder «Polit-Marketing» ausgelegt wird, eine Community im Netz und hunderte Menschen, die sich spontan zur Demo auf dem Bundesplatz versammelten, um das Problem überhaupt als solches zu benennen.

Eine Million Franken schien den Medien nicht der Rede wert, um darüber zu berichten. Und sie haben ja Recht. Eine Million ist im Kampf gegen die strukturelle Gewalt an Frauen tatsächlich nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Umso bezeichnender ist es, dass die Symbolkraft eines solchen Abstimmungsresultats nicht erkannt wurde. Nicht von der Presse und offenbar auch nicht von den Parlamentarier:innen selbst.

Doch wie ist es möglich, nicht zu erkennen, welches Zeichen man damit sendet? Oder sollte die Botschaft genauso lauten, wie sie verstanden wurde: Wir nehmen die Not der Frauen in Kauf, denn wir haben andere Prioritäten. Zum Beispiel die Sicherheit, die nationale Sicherheit versteht sich, nicht diejenige der Frauen. Damit im Einklang forderte die sicherheitspolitische Kommission des Ständerates erst vor wenigen Wochen, Soldat:innen sollten die Taschenmunition wieder zu Hause aufbewahren. Diese Praxis war 2007 abgeschafft worden, nachdem die Skirennfahrerin Corinne Rey-Bellet von ihrem Ehemann mit der Militärwaffe ermordet wurde. Der Ständerat lehnte das Anliegen ab.

Die Dringlichkeit der Lage ist längst klar: Die Zahl der Femizide steigt in der Schweiz Jahr für Jahr an, Frauenhäuser sind überlastet und chronisch unterfinanziert. Bald zehn Jahre nach der Ratifizierung der Istanbul-Konvention sind auch minimale Massnahmen wie die Schaffung einer nationalen Hotline für gewaltbetroffene Frauen nicht umgesetzt.

2022 hat der Bundesrat einen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen verabschiedet. Im Sommer war Bundesrat Beat Jans aus Spanien zurückgekehrt mit der Erkenntnis, dass die Gewalt an Frauen ein strukturelles Problem sei und es Massnahmen gäbe, die Abhilfe schaffen können. Spanien hat es vorgemacht.

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"Diese Woche hatten die Frauen ihre Lobby: nicht im Parlament, sondern auf der Strasse"

Doch selbst wenn der politische Wille da sei, scheitere es oft an der Finanzierung, sagte Gian Beeli, Co-Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann gegenüber annabelle. Der Schutz der Frauen steht nicht selten weit oben auf der Prioritätenliste, bis es um die Verteilung von Ressourcen geht. Dann fehlt den Frauen in den kantonalen und nationalen Parlamenten oft einfach die Lobby.

Diese Woche hatten die Frauen ihre Lobby gefunden, nicht im Parlament, sondern auf der Strasse. Dort, wo Frauen keine Minderheit sind.

Es ist zu spät, um die Opfer zu heilen oder sie zurück ins Leben zu holen. Doch es ist nicht zu spät, um die Schweizer Frauen zu schützen oder ihnen zumindest mit der Freigabe einer bescheidenen Million zu zeigen, dass sie gesehen werden. Und es ist nicht zu spät, um Fehler einzugestehen. Der Ständerat hat dem Nationalrat eine zweite Chance gegeben, am Montag wird sich zeigen, ob er sie nutzt.

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