Das Schweizer Topmodel Nadine Strittmatter suchte in einem Schweige- und Meditationsseminar nach dem Weg aus ihrer Krise. Protokoll eines Höllenritts zur Erleuchtung.
«Letztes Jahr schrieb ich mich für einen zehntägigen Vipassana-Schweige- und Meditationskurs in Israel ein. Ich hoffte, der Kurs würde mir etwas bringen, was mir in jenem Moment in meinem Leben gefehlt hatte. Seit Monaten war ich paralysiert von der Angst, etwas Neues auszuprobieren. Ich studierte zwar Kunstgeschichte und kreatives Schreiben, was mir gefiel – aber ich rang dabei um jede Minute Konzentration. Gleichzeitig fand ich es total irrelevant, wie bisher in der Modebranche zu arbeiten. Ich musste aus dieser Sackgasse herausfinden.
Man sagt, Buddha habe durch Vipassana-Meditation zur Erleuchtung gefunden. Ein burmesischer Geschäftsmann namens S. N. Goenka erlernte die Technik von Mönchen, ursprünglich weil er damit seine Migräne überwinden wollte. Er war derart fasziniert davon, dass er sich zum Meditationslehrer ausbilden liess und es sich zur Vision machte, solche Kurse für alle weltweit gratis zugänglich zu machen. Unter all den anderen, teils bizarren Workshops, die man so ausgeschrieben findet, kam mir Vipassana wie die Königsdisziplin vor.
Mein erster Eindruck nach der Ankunft in Israel war beruhigend: keine weiss gekleideten Alt-Hippies mit Tamburinen, die im Kreis sitzen oder tanzen, wie ich befürchtet hatte. Stattdessen: Anwältinnen, Internet-Start-up-Leute, Immobilienmaklerinnen, eine Hausfrau aus Jordanien, eine russische Interieur-Designerin. Mit den Männern habe ich es leider versäumt zu sprechen, bevor die Schranke im Esszimmer und Garten hochgezogen wurde. Frauen und Männer sind im Retreat getrennt. Man sieht sich nur in der grossen Meditationshalle – wobei «sehen» zu viel versprochen wäre, weil man dort die ganze Zeit die Augen zu hat.
Der Kulturschock war gross. Kaum jemand sprach ein Wort, alle waren sehr in sich gekehrt. Beim Essen starrte man auf den Teller, aus dem Fenster – oder an die Wand. Blickkontakt war so verpönt wie Reden. Sehr deprimierend! Als wäre ich an einem Club-Lunch, zu dem ich als Nichtmember nicht eingeladen war. Singende Hippies wären lustiger gewesen.
Das Meditationsgelände befindet sich bei Tiberias, im Norden Israels. Man sah im Osten auf Jordanien und im Norden auf die Golanhöhen, hinter denen manchmal Schwärme von tieffliegenden Militärhelikoptern auftauchten. Meiner Mutter hatte ich erzählt, dass ich in ein abgelegenes Yoga-Retreat fahren würde – mit schlechtem Handy-Empfang. Ich wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machte.
Am Morgen konnte man wählen, ob man in seinem Zimmer meditieren wollte oder gemeinsam mit den anderen in der Meditationshalle. Weil ich mich nach dem «Steh-auf-Gong» morgens um vier eher fürs Wieder-Einschlafen als fürs Meditieren entschieden hätte, schleppte ich meinen Körper jeweils unter die Dusche und in die Halle. Die ersten Tage verbringt man elf Stunden in Dauermeditation – allein auf seinen Atem konzentriert. Vom stundenlangen Gerade-Sitzen tat mir mein Rücken derart weh, dass ich irgendwann meine Beine nicht mehr spürte. So hatte ich mir das nicht ausgemalt.
Am vierten Tagen wurde uns die Vipassana-Technik beigebracht. Sie besteht darin, seinen Körper «mit seiner inneren Aufmerksamkeit zu scannen». Indem man sowohl den Schmerz als auch die Fliege, die einem ständig um die Ohren saust, ignoriert, trainiert man sein Bewusstsein, nicht blindlings auf Reize zu reagieren.
Das letzte Mal, als ich in einer so grossen Halle sass und mich fragte, was ich hier eigentlich genau tue, war backstage bei einer Modeschau. Wenigstens waren dort alle einigermassen gut angezogen. Der Anblick hier war eher suspekt: Ich mag keine thailändischen Stoffhosen mit Elefanten drauf. Und Leute, die sie tragen, verstehe ich nicht.
Von nun an war auch dreimal am Tag eine «Hour of Strong Determination» angesagt: Da durfte man sich eine Stunde lang gar nicht bewegen. Pech hatte, wen es juckte oder wen gerade eine Mücke stach …
Ich hatte mir geschworen, nicht aufzugeben. Unter keinen Umständen. Also sass ich weiter einfach nur da – unter einer merkwürdigen Glocke aus Kindheitserinnerungen, Tagträumen, Zukunftsfantasien und der Vorfreude aufs Mittagessen oder auf den Tee und die Frucht: die letzte ‹Mahlzeit› um 17 Uhr, bevor man weitermeditiert, bis man sich um 21.30 Uhr schlafen legt. Nach fünf Tagen war der körperliche Schmerz nicht mehr so vordergründig alarmierend. Primär schmerzte nun die Aussicht auf die Monotonie der kommenden Tage.
Weckte mich morgens um 4 Uhr der Gong, war mir beim Aufstehen schwindlig und ich befürchtete, auf dem Weg in die Meditationshalle in Ohnmacht zu fallen. Obwohl ich wusste, dass ich einen eher tiefen Bludruck habe, zweifelte ich an meiner Wahrnehmung, hatte ich doch inzwischen gelernt, nicht auf jeden Reiz zu reagieren. Vielleicht alles nur ein Hirngespinst, fragte ich eine Lehrerin. Sie schaute mich liebevoll, aber durchdringend an – und verordnete mir zwei weitere Mahlzeiten pro Tag und einen Gesundheitscheck beim Arzt des Hauses. (Der Doktor zuhause meinte: alles in Ordnung, aber der tiefe Blutdruck wird wohl bleiben.)
Ich suchte die Lehrerin noch zwei-, dreimal auf, auch mal unter Tränen. Rein ihre Präsenz half mir sehr – mehr jedenfalls als ihre Antworten, die mich nur noch mehr verwirrten: Konzentriere dich auf die Atmung. Zu viele Gedanken? Einfach nicht darauf eingehen …
Es fühlte sich komisch an, am zehnten Tag wieder sprechen zu dürfen. Ich wusste nicht, mit wem zuerst. An manchen Tagen hatte ich mich gefühlt, als würde ich in einem Sumpf mit einem Borstenschwein ringen. Doch unterdessen hatte sich der Sumpf in eine Art Blumenwiese verwandelt. Und das Schwein? Es war weg. Oder vielleicht sah ich es vor lauter Blumen einfach nicht mehr. Dieser Kampf der letzten zehn Tage war auf jeden Fall das Schwierigste, was ich in meinem Leben je bewerkstelligt, ja gemeistert habe.
Egal, welches Unbehagen, welcher Schmerz, welches ‹Schwein› mich künftig jagen wird – es gibt nun einen Ort, an dem das alles keinen Zutritt hat: tief in mir drin.»