Wie ist es eigentlich, 60’000 Menschen zu kündigen?
- Aufgezeichnet von Annik Hosmann; Bild: Freeimages.com
Matthias Mölleney (55), Leiter Center for Human Resources Management & Leadership an der Hochschule für Wirtschaft Zürich und ehemaliger Personalchef der Swissair, erzählt, wie es ist, 60'000 Menschen zu kündigen.
Ich habe selten schlaflose Nächte. Auch damals beim Grounding der Swissair und der darauffolgenden Massenentlassung habe ich trotz der enormen Belastung zum Glück nachts einigermassen schlafen können. Natürlich macht es traurig, wenn man die Verzweiflung der Leute sieht. Die Situation war für die Angestellten und auch für mich als Swissair-Personalchef extrem schwer, aber ich habe mich gefragt: Was kann ich tun, um diesen Menschen zu helfen? Ideen und Lösungsvorschläge nützen in solchen Fällen mehr als nur Mitleid. Das klingt hart, hat aber nichts mit Hartherzigkeit zu tun.
Ich sass gerade im Auto, als ich den Anruf bekam, der Worst Case sei nun eingetreten. Dass ich mit vielen Kündigungen konfrontiert werden würde, war mir klar, denn wir hätten auch ohne Grounding mehrere Tausend Stellen streichen müssen.
Damals musste ich die Verantwortung für 35 000 Kündigungen von Swissair-Mitarbeitenden auf der ganzen Welt übernehmen. Wie viele Kündigungsgespräche ich in jener Zeit selber geführt habe, weiss ich nicht mehr, aber es waren viele. Den Angestellten war jedoch bewusst, wie es um die Swissair stand und dass ich persönlich nicht schuld daran war. Sie haben mich deswegen auch nicht beschimpft. Trotzdem schämt man sich natürlich, wenn man vor weinenden Mitarbeitenden steht. Ich wusste, wenn ich den 350 Frühpensionierten, die da in der Kantine vor mir standen, mitteile, dass sie ab Ende Monat keine finanzielle Unterstützung mehr erhalten, werde ich sie verzweifelt zurücklassen – ratlos, wie es nun weitergehen soll. Und draussen vor der Tür warteten ja bereits andere, die etwas von mir brauchten. Zeit zum Reflektieren blieb mir während dieser Tage nicht.
Meine Familie hat mich nie verurteilt. Sie wusste, dass ich mein Möglichstes getan hatte. Auch die Tatsache, dass ich als einer der wenigen aus der Swissair-Konzernleitung nie angeklagt wurde, zeigt mir, dass ich keinen schlechten Job gemacht habe. Trotzdem: Am Anfang erhielt ich etwa ein halbes Dutzend Morddrohungen. Auch wenn ich die nicht wirklich ernst genommen habe, es gibt in solchen Situationen immer ein paar Verzweifelte, die Dampf ablassen müssen. Aber klar: Die Zeit war nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie schwierig.
Bereits vor dem Swissair-Grounding war ich mal mit einer Massenentlassung konfrontiert. Ich war damals bei der Lufthansa und hatte den Auftrag, bei der Restrukturierung einer Tochtergesellschaft zu helfen. 12 000 Menschen verloren ihren Job. Ich musste den Angestellten mitteilen, wie es nun für sie weitergeht – oder eben nicht. Ich sah den Schock, den Frust und die Wut in ihren Gesichtern. Aus dem Stegreif musste ich einen Plan entwickeln und vorstellen, allerdings ohne zu wissen, wie ich diesen umsetzen sollte. Die darauffolgende Nacht war eine der wenigen, in denen ich wach lag.
Mein Personalsaldo ist klar negativ: Ich musste in meiner ganzen Karriere die Verantwortung für etwa 60 000 Entlassungen tragen – das sind deutlich mehr, als ich je eingestellt habe. Es ist nicht so, dass ich mich gern unbeliebt mache, aber das ist Teil des Jobs als Personalchef. Ich bin durch Zufall ins Personalwesen gerutscht, eigentlich war das eine Funktion, in der ich nie tätig sein wollte.
Heute kann ich praktisch an keinen Anlass gehen, ohne jemanden zu treffen, mit dem ich einmal im Zusammenhang mit einer Entlassung zu tun hatte oder der jemanden kennt, den ich entlassen musste. Viele sagen mir, dass die Situation zwar schwierig war, die Art und Weise der Kündigung jedoch anständig und die Unterstützung gross. Das ist wohl das Positivste, was jemand zu einem sagen kann, nachdem man ihn entlassen hat. Auch deshalb gehe ich trotz allem mit einem guten Gefühl ins Bett. Meistens.