Leben
Queere Literatur: «Die Menschen in der Schweiz sind zu verkrampft»
- Text: Flavia von Gunten
- Bild: Ursina Völlm, Huy Do
Die Zürcher Autorin Ivona Brđanović gibt ein das einzige queere Literaturmagazin auf Deutsch heraus. Obwohl sie bedauert, dass Texte jenseits der Heteronormativität spezielle Labels brauchen.
Ivona Brđanović ist angespannt. Sagt sie. In zwei Tagen starten die Dreharbeiten ihres ersten Kurzfilmes. Eine ältere Frau und ein jüngerer Mann begegnen sich während drei Nächten, keine Liebes-, sondern eine Freundschaftsgeschichte, frei nach der Novelle «Weisse Nächte» von Fjodor Dostojewski.
Seit letztem September studiert sie Drehbuch an der Zürcher Hochschule der Künste. Bereits während ihrer Ausbildung am Literaturinstitut Biel vor fünf Jahren hatte sie Lust darauf, wollte aber zuerst Schreiberfahrung sammeln. Als sie spürte, dass bald Ruhe einkehren würde in ihr Leben, wusste sie, dass der Moment gekommen ist. «Ich stagniere nicht gerne.» Schreiben für den Film unterscheide sich stark vom prosaischen Schreiben: weniger einsam, weniger konzeptuell, weniger verkopft. Es komme ihr vor, als verfasse sie eine Gebrauchsanweisung. Dass die Zürcherin heute als Künstlerin lebt, darüber staunt sie selber. Geboren in Bosnien und Herzegowina, kam sie als Siebenjährige in die Schweiz. Machte eine Lehre als Medizinische Praxisassistentin, hängte die Matura an und begann ein Studium in Umweltingeineurwesen. Naheliegend sei diese Wahl gewesen, denn wenn sie – das Arbeiterkind – schon das Privileg geniesse, studieren zu dürfen, dann sicher nichts Brotloses.
Doch ihr Herz rebellierte gegen die Vernunftsentscheidung. Statt Vögel und Pflanzen auswendig zu lernen, was sie langweilte («so unkreativ!»), surfte sie auf der Website des Literaturinstituts Biel. Informierte sich über die Zulassungsvoraussetzungen. Bereits die Vorstellung, sich zu bewerben, geschweige denn mit sowas ihr Leben zu finanzieren, habe «viel Mut» gebraucht. Eine Freundin bestärkte sie, sich zu entscheiden. Nach zwei Semestern brach Brđanović das Studium ab und jobbte auf dem Bau, in Bars und Fabriken. Daneben feilte sie an den Bewerbungstexten für Biel. Neu schreiben musste sie nicht viel, die meisten zog sie aus der Schublade. Lesen und schreiben prägten ihre Vergangenheit, und mit der Aufnahme in Biel auch ihre Zukunft.
Fortan publiziert sie Texte in Zeitungen und Magazinen, organisiert Schreibwerkstätten und Lesungen. Im Mai 2019 wurde am Stadttheater Bern ihr Stück «Jemandland» aufgeführt, eine Auseinandersetzung mit Identität, Machtverhältnissen und dem Leben als Baustelle. Für ihr Romanmanuskript «Grad» verlieh ihr der Kanton Zürich 2017 einen Werkbeitrag, zuletzt arbeitete sie im letzen Herbst daran. Wann der Roman erscheint, steht noch nicht fest. Verlage würden sich einige dafür interessieren, sie wolle aber noch nicht an das Endprodukt denken, das hemme sie nur beim Schreiben. Neben all dem Fachwissen nimmt Ivona Brđanović auch viele Freundschaften aus Biel mit. Etwa jene zu Donat Blum. Vor drei Jahren rief er sie mitten in der Nacht an und verkündete, dass er mit ihr ein queeres Literaturmagazin gründen wolle. Er schreibe einen Text, sie schreibe einen, und es solle «Glitter» heissen. «Ja eh, so machen wir das», antwortete sie, und sie machten es auch. «Glitter» ist das erste und einzige queere Literaturmagazin im deutschsprachigen Raum. Unter queer versteht Glitter «was künstlerisch anspruchsvoll mit Sprache umgeht und patriarchale, heteronormative und binäre Muster hinterfragt». Für die erste Nummer schrieben Blum und Brđanović und Antje Ravik Strubel je einen Text, seither redigieren sie solche von Autor*innen, die sie angefragt oder die sich selber beworben haben. Im letzten Dezember erschien die dritte Ausgabe mit Texten von über 30 Autor*innen.
annabelle: Glitter ist das einzige Literaturmagazin in deutscher Sprache, das Geschichten jenseits der Heteronormativität veröffentlicht. Wie bist du früher an queere Erzählungen gelangt?
Ivona Brđanović: Als Jugendliche hatte ich Bedarf nach Geschichten mit queeren Charakteren. Den Zugang zu solchen zu finden, war aber schwierig. Oft stöberte ich online und bestellte gebrauchte Bücher über Amazon zu Kollegen nach Deutschland, die sie mir nach Zürich weiterleiteten. Denn die Bücher waren vergriffen und Amazon lieferte noch nicht in die Schweiz. Die Auswahl in Buchhandlungen war dürftig. Einzig in der Eso-Abteilung gab es ein kleines Regal mit lesbischer «Literatur». Das waren aber entweder Tagebücher aus dem 19. Jahrhundert oder übersexualisierte Trash-Geschichten.
Die Abteilung hat inzwischen gewechselt. Zum Beispiel in meiner Lieblingsbuchhandlung steht gleich neben dem Eingang ein Regal mit LGBT-Literatur.
Ideal wäre es, wenn queere Literatur keine Nische mehr ist und kein gesondertes Regal mehr braucht.
Wäre es also besser, wenn diese Unterscheidung dahinfallen würde?
Das überlege ich schon sehr lange. Und finde keine abschliessende Antwort. Aktuell ist es sehr wichtig, queere Literatur gesondert zu präsentieren. Diese Auszeichnung führt zu Sichtbarkeit und ich will ja unbedingt, dass die Menschen über queere Themen sprechen.
Was diese ja immer wie mehr tun.
Genau, die Popularität von LGBTQ+-Stoffen steigt. Die Romane von Edouard Louis schlugen ein, oder auch Serien wie Sex Education. Doch das sind alles Übersetzungen. Die Menschen in der Schweiz sind zu verkrampft. Hier fehlt noch der Mut, eigene Formate zu produzieren. Dabei ist auch hier das Bedürfnis vorhanden. Die Auftritte von Carolin Emcke waren zum Beispiel alle ausverkauft. Und das, obwohl sie aus einem theoretischen Feld kommt.
«Queer bedeutet für mich auch eine Nähe zu Menschen, zu denen man nicht romantisch verbündet ist.»
Welchen Beitrag leistet Glitter zur öffentlichen Wahrnehmung von queeren Themen?
Wenn irgendwas für ein Umdenken in der Gesellschaft sorgen kann – neben der Politik – dann die Kunst, zum Beispiel eben Literatur. Glitter wirkt in zwei Richtungen, nämlich innerhalb der queeren Szene, aber auch gegen aussen. Zum Beispiel mit Geschichten in unserem Heft die zeigen, dass queere Leute ähnliche Struggles haben wie Heteros. Für die dritte Ausgabe hat eine Autorin eine klassische Liebesgeschichte geschrieben: es geht um Begegnung und Begehren, so was Menschliches. In dieser Erzählung spielt es keine Rolle, ob das zwischen Frau und Mann oder zwei Frauen spielt.
Und was löst Glitter in der queeren Szene aus?
Strukturell bedingt haben queere Menschen oft ein geringeres Selbstbewusstsein. Indem wir Geschichten zugänglich machen, Vorbilder zeigen, können wir das ändern. Zudem entstehen neue Freundschaften. Queer bedeutet für mich auch eine Nähe zu Menschen, zu denen man nicht romantisch verbündet ist. Nähe, Zeit und wahrhaftiges Zuhören zu anderen Queers ist sehr wichtig. Das ist eine weitere Beziehungsform, welche das heteronome Päärlitum in seiner angeblichen Exklusivität pervetiert.
Unter den 30 Autor*innen, die an der dritten Ausgabe mitgeschrieben haben, finden sich auch Menschen, die selber nicht queer sind. Was ist ihre Rolle?
Es ist schön, wenn sich so viele Menschen wie möglich mit Nischen-Stoffen auseinandersetzen. Natürlich nicht auf eine degradierende Art. Für die vierte Ausgabe wünsche ich mir, dass die Autor*innenschaft noch diverser wird. Dass zum Beispiel auch Migrant*innen mitschreiben. Erstens kann Glitter so noch mehr Menschen erreichen, zweitens gehören für mich Queerness und Migration zusammen.
Du bist in Bosnien und Herzegowina aufgewachsen und kamst als Siebenjährige in die Schweiz.
Meine Mutter ist Serbin, mein Vater war Kroate. In der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, war es viel schwieriger, mich als lesbisch zu outen. Es gibt wenig Menschen mit einem solchen Narrativ. Umso wichtiger ist es, dass jene, die angekommen sind, ihre Geschichten erzählen. Ich will das nicht nur machen, indem ich grosse Texte schreibe und diese auf die Bühne bringe oder einen Film drehe, sondern auch im Alltag. Deswegen stört es mich auch nicht, wenn mich jemand fragt, woher ich komme. Ich spüre, mit welcher Haltung mir diese Frage gestellt wird. Es ist mir wichtig, über meine Herkunft zu sprechen. Auch wenn ich höre, dass jemand was sagt, das vielleicht nicht rassistisch gemeint ist, aber eben doch rassistisch ist, schalte ich mich ein. Ich fühle mich verpflichtet, Aufklärungsarbeit zu leisten. Genauso gegen Sexismus und bei Homo- oder Transphobie.
Das klingt angstrengend.
Das ist es, und nicht immer habe ich die Energie dazu. Dr. Bitch Ray hat das auf einem Podium in Berlin gut auf den Punkt gebracht: Es ist ein Unterschied, ob ich mit einer Person spreche, die keinen Zugang zu solchen Themen hat, oder mit einem 40-jährigen Professor, der sich selber bilden könnte. Bei letzterem denke ich jeweils «lies selber!». Da habe auch ich echt keinen Nerv mehr.