Body & Soul
«Wir leben so was von normal»
- Text: Simone Meier; Foto: Getty Images, Dominique Meienberg
Schreibt unsere lesbische Autorin Simone Meier. Doch bis zu diesem Punkt war es ein sehr weiter Weg – und er ist noch nicht zu Ende.
Es ist noch nicht so lang her, da sagte eine sehr liebe Arbeitskollegin, die selbst kurz vor der Pensionierung stand: «Simone, kannst du nicht mal darüber schreiben, wie ihr Lesben so lebt? Ich stell mir das wahnsinnig aufregend vor.» Im Grunde ihres guten Herzens wusste sie genau, dass ich und meine Freundin recht ähnlich lebten wie sie und ihr Mann: vom Journalismus, ohne Kinder, mit einem Hang zu feinen Beizen und schönen Reisen. Ganz normale Hedonistinnen also, die nachts schlafen, bei Tage arbeiten und zwischendurch den Haushalt machen. Aber meine Kollegin stellte sich irgendwas Besonderes vor. Vielleicht, dass wir uns vor dem Einschlafen in Hosenanzügen von Jil Sander aus den Romanen von Virginia Woolf vorlesen? Ich musste sie da leider enttäuschen. Wir leben so was von normal.
Ich bin jetzt 47. Und ich weiss, dass meine Freundin die eine ist. Die grosse Liebe, mit der ich im Altersheim einmal ein Pärchenzimmer teilen möchte. Wir sind schon viele Jahre zusammen, und bis jetzt haben sie sich angefühlt wie lange, glückliche Sommerferien. Aus anderen Abteilungen des Lebens mag auf mich eingedroschen werden, aber sie und ich sind gut füreinander. Es ist nicht so, dass die Männer, mit denen ich in meinen heterosexuellen Phasen zusammen war, schlecht zu mir waren, es mangelt mir ganz einfach an Geduld und Interesse, die Welt eines Mannes dauerhaft zu meiner zu machen.
Zum ersten Mal in eine Frau verliebt war ich mit 21. Und das war alles andere als normal. Ich war es nicht gewohnt, «darüber» zu sprechen. Ich hatte mich «damit» noch nie befasst. Ich kam vom Land. Und das Einzige, was ich dort zum Thema lesbisch schon gesehen hatte, war ein uralter Artikel in der «Brigitte» über Martina Navrátilová. Nicht, dass dort irgendwo das Wort «lesbisch» vorgekommen wäre, aber der Artikel suggerierte auf irrsinnig umständliche Art, dass es zwischen der Tennisqueen und dem weiblichen Geschlecht eine besondere Art von Nähe geben könnte. Und sonst?
Restlos jedes der 5000 Bücher, die ich als Teenie gelesen hatte, beschränkte die Liebe auf etwas zwischen Mann und Frau. Nein, halt! In «Jane Eyre» von Charlotte Brontë gab es diese eine Szene, in der Jane sich im Waisenhaus zu ihrer typhuskranken Freundin Helen ins Bett legt, und die beiden reden miteinander, als wären sie ein Paar. Als Jane am nächsten Morgen erwacht, ist Helen tot. Und dann gab es auch noch den Film «Mädchen in Uniform», in dem sich Romy Schneider in ihre Lehrerin verliebt und einen Selbstmordversuch unternimmt. Und den Film «Infam», in dem sich Shirley MacLaine in Audrey Hepburn verliebt und sich umbringt. Das faszinierte mich alles ganz ungeheuer, aber meine Fantasien über die ideale romantische Beziehung richteten sich damals noch auf Jungs und schwankten so zwischen «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» und «Schwanensee». Hauptsache Melodram.
Und dann hatte ich plötzlich diese beste Freundin in Berlin, die ich so viel cooler, kühner und klüger fand als mich selbst. Nach einem Jahr, in dem wir uns dreimal die Woche in langen Briefen über die unfassbare Beschissenheit unserer Männerbeziehungen ausgetauscht hatten, schrieb ich mit dem ganzen Pathos unserer jungen Jahre: «Entweder gehe ich jetzt ins Kloster, oder ich werde lesbisch.» Gemeinsam entschlossen wir uns zu Letzterem. Es machte mehr Spass. Nein, es war natürlich fürchterlich kompliziert. Wir taten zuerst, als ahnten wir nicht, wo es enden würde. Wir redeten uns in die völlige Erschöpfung und wussten doch, dass jedes weitere Wälzen von Möglichkeiten und Theorien nur ein weiterer Schritt der Annäherung war. Und dann kam es, quasi das zweite erste Mal. Ich sags mal so: Es fühlte sich an, als würde ich nach Jahren in Ikea-Baumwolle zum ersten Mal in teurer Satinbettwäsche schlafen. Doch kaum hatte der Spass begonnen, widmete sie sich wieder den Männern. Und ich stand da und wusste: Das Jetzt gefiel mir definitiv besser als das Vorher. Aber wohin sollte ich bloss mit dieser Erkenntnis? Zu meinen Eltern sicher nicht. Mein neues Glück tat ihnen weh. Sie hofften, dass ich eines Tages mit einem netten Mann, herzigen Kindern und einem schönen Einfamilienhaus ankommen würde. Ihr Ideal war die Familie. Ich verstand ihre Sehnsucht damals nicht. Ich fühlte mich radikal und war viel zu ungeduldig mit ihnen. Heute tut mir das leid.
Meinen heterosexuellen Freundinnen und Freunden ging ich mit meinem neuen, übergrossen Mitteilungsbedürfnis sicher ziemlich bald auf den Sack. Aber ich konnte doch nicht stillhalten! Schliesslich hatte ich nicht nur die Frauen und die Liebe, sondern geradezu die Welt neu entdeckt! Wohin konnte ich mich also wenden? Ich lebte damals in Basel und Berlin, ich suchte Zuflucht in der Szene, in Lokalen, die genau so dunkel und klandestin waren, wie sie hiessen – zum Beispiel «Anal» –, ich wohnte ein paar Monate lang in einer WG, die Männer nur betreten durften, wenn sie Verwandte oder Handwerker waren. An der Uni konnte man sich neu in die Genderstudies stürzen, Judith Butlers akademischer Weltbestseller «Gender Trouble» überstrahlte alles, was seit Jahren gedacht worden war, meine Bubble war komplett, und mir war darin so wohl wie noch nie irgendwo in meinem Leben.
Draussen war es ein bisschen anders. Da flog plötzlich ein Blumentopf an meinem Kopf vorbei, als ich mit einer Freundin ausnahmsweise Hand und Hand durch eine Kreuzberger Strasse ging. Und in New York rannte uns ein Mann hinterher und rief: «Ich hab noch nie Lesben in echt gesehen!» Inmitten einer Welt aus Privilegierten sah ich mich plötzlich als Teil einer Minderheit. Ich fand das spannend. Ich befand mich im Zustand erhöhter Widerstandsromantik. Und dann gab es wieder die Bubble und die seligen Sonntagabende, an denen Ulrike Folkerts im «Tatort» die Kommissarin Lena Odenthal spielte. Die Folkerts war damals jung und schön und die begehrenswerteste Lesbe im deutschsprachigen Raum. Ich wollte ihre Frisur. 1994 machten die Sängerin K. D. Lang und das Supermodel Cindy Crawford eine erotische Fotostrecke in «Vanity Fair». Wir flippten kollektiv aus. 1996 wurde Tanja in der «Lindenstrasse» lesbisch. Allerdings auch sehr, sehr böse. Es waren rare, frivole Brosamen einer Schaffung von öffentlichem Bewusstsein.
Und dann hatte die US-Schauspielerin und -Talkerin Ellen De Generes 1997, vor genau 20 Jahren, ihr Coming-out in ihrer Sitcom «Ellen». 42 Millionen schauten ihr dabei zu. Viele applaudierten ihr. Und viele stellten die Frage, die ich selbst auch dutzendfach gehört habe: «Ich hab ja nichts gegen Leute wie euch, aber wieso könnt ihr euer Privatleben nicht für euch behalten?» Nun, behalten die Heteros ihr Privatleben jemals für sich? Verschweigen sie ihre Partner, ihre Ehen, ihr Familienleben? Kein bisschen! Selbst wenn alle andern dankbar wären für ein bisschen Zurückhaltung. Ellen sagte bloss: «Ich hab es satt, mich zu verstecken.» Und auch wenn wir Lesben damals wussten, dass Ellens Coming-out weder den Welthunger besiegen noch den Mars bewohnbar machen würde, fühlten wir uns, als hätten wir die Revolution gewonnen. Es war Empowerment pur. Ausgerechnet Ellen, so blond, so brav geföhnt. Wahrscheinlich war ihr Coming-out der erste deutliche Hinweis darauf, dass wir Teil einer Normalität und Mainstream wurden.
Wieso ich das alles so ausführlich beschreibe? Weil es erst 20 Jahre zurückliegt und doch bereits enorm historisch ist. Zürichs Stadtpräsidentin ist lesbisch. Zürichs Schauspielhausintendantin ebenfalls. Hollywoodsuperstar Kristen Stewart ist eine wahre Frauenheldin, und ich freu mich ganz simpel über die glückliche Verliebtheit, die Model Tamy Glauser und ihre Ex-Miss-Schweiz Dominique Rinderknecht bei jeder Gelegenheit aus dem Gesicht springt. In Deutschland wurde über Nacht und ohne Proteste die Ehe für alle eingeführt, es sprach ganz einfach kein vernünftiger Grund mehr dagegen.
Wir sind einen sehr weiten Weg sehr schnell gegangen. Wie die ganze LGBTQ-Bewegung. Nicht überall, nur in ein paar glücklichen Toleranzkapseln. Und auch dort könnten wir noch weiter sein. Geh ich mit meiner Freundin Hand in Hand durch die Strasse? Am ehesten in einer Stadt, aber eher nicht in einer katholischen.
Ich setze deshalb auf all die wundervollen jungen Leute von heute, die Geschlecht als eine Frage unendlicher Fluidität verstehen. Sie werden die Zukunft noch viel freier machen. Auch wenn jede neue Facette von Freiheit zunächst einmal den Fächer der Verletzbarkeit und Gefährdung vergrössert. Die Angriffe bleiben nicht aus. Aber die Vorbilder, an denen man sich aufrichten kann, werden immer stärker. Vor der Kraft einer Chelsea Manning, der US-Whistleblowerin, kann ich mich nur staunend verneigen. Doch was auch immer geschehen mag: Die Frage, wie wir lieben und wen das aus uns macht, bleibt eine der grundsätzlichsten, die das Leben an uns stellt.
Simone Meier ist Journalistin bei «Watson.ch» und Autorin. Kürzlich ist ihr Roman «Fleisch» im Verlag Kein & Aber erschienen.