Zeitgeist
Gendergerechte Sprache: «Ist doch gut, wenn uns die Jungen korrigieren»
- Text: Stephanie Hess
- Bild: Stocksy
Die Schweizer Professorin Claudia Schmellentin Britz sagt, Sprache könne nie neutral sein. Und rät beim Gendern vor allem: Schön locker bleiben.
Es tobt ein Krieg der Sternchen. Der Linien, Striche, Punkte. Die Schlacht wird in Zeitungen und Magazinen ausgetragen, in Kommentarspalten und auf Social Media. Sie spaltet manche Freundeskreise, Familien, oft auch Generationen. Gekämpft wird um im Grunde simple, aber dennoch sehr weitreichende Fragen: Wie werden wir künftig kommunizieren? Und wer darf darüber entscheiden?
Die Professorin Claudia Schmellentin Britz wird eine davon sein. Als eines von neun Schweizer Mitgliedern sitzt sie im Rat für deutsche Rechtschreibung. Also in jenem länderübergreifenden Gremium, das darüber mitbefindet, wie Ämter in deutschsprachigen Staaten kommunizieren und welche linguistischen Regeln in der Schule gelehrt werden.
Claudia Schmellentin Britz sitzt in ihrem Büro an der Fachhochschule Nordwestschweiz, wo sie die Professur für Deutschdidaktik und ihre Disziplinen leitet. Durch die schräg gestellten Storen drücken dünne Sonnenstrahlen, als sie sich an diesem Vormittag zum Videointerview zuschaltet. Sie trägt ihre grauen Haare halblang, ein Headset darüber, einen gemusterten Schal um den Hals.
annabelle: Claudia Schmellentin Britz, die gendergerechte Sprache beschäftigt die Menschen wie kaum eine andere Sprachveränderung in den letzten Jahrzehnten. Gibt es eigentlich einen Punkt, den man als Start der Gender-Debatte markieren könnte? Claudia Schmellentin Britz: Die Debatte in der Queer-Community läuft seit Längerem, in grossen Teilen der Gesellschaft angekommen ist sie aber wohl erst durch das geschichtsträchtige Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts 2017. Es entschied, dass die Zweiteilung der Menschen in Frauen und Männer diskriminierend ist. Eine dritte Option im Geburtsregister und in Stellenanzeigen sei nötig: Die Bezeichnung «divers». Per Gerichtsentscheid wurde also festgestellt, dass neue Wege gefunden werden müssen, wie alle Menschen in die Sprache inkludiert werden können. Seither hat sich die Debatte intensiviert.
Wie beurteilt man diese neuen Sprachformen im Rat für Rechtschreibung? Der Rat hat beschlossen, dass man die Diskussionen beobachtet und das Thema erst 2022 behandeln wird. Wir haben es aber natürlich äusserst kontrovers und sehr emotional diskutiert. Allerdings hat der Rat nicht über sprachliche Veränderungen zu befinden, er gibt nur Empfehlungen ab zur schriftlichen Umsetzung.
Wird der Rat darüber entscheiden, wie wir künftig gendern werden? Was der Rat beschliesst, gilt nur für die staatlichen Institutionen. Und auch da erst, nachdem die einzelnen Staaten unsere Vorschläge abgesegnet haben. Wie die Menschen privat miteinander kommunizieren, darüber kann und soll der Rat selbstredend nicht entscheiden. Das zeigte sich auch schon bei der letzten Rechtschreibreform 1996. Damals wurden Empfehlungen zur abgekürzten Verschriftlichung der männlichen und weiblichen Doppelformen eingeführt. Der Rat legte mit Klammern und Schrägstrich mehrere Möglichkeiten fest. Das Binnen-I hatte man explizit nicht in diesen Katalog der Möglichkeiten mitaufgenommen, genutzt wurde es trotzdem. Es war auch meine bevorzugte Form.
Es war fast präsenter als die anderen Formen. Zeitungen wie die Schweizer «WOZ» benutzten es. Die «WOZ» hat das Binnen-I verwendet, weil sie dem ideologischen Umfeld nahesteht, aus dem das Binnen-I entstanden ist. Die feministische Linguistin Luise Pusch hatte es in den 1980er- Jahren aufgebracht und es hat sich eher im linken Milieu durchgesetzt. Selbstverständlich nutzte es die «NZZ» nicht. Dort legt man auf andere Sprachlichkeiten Wert, etwa «placieren» statt «platzieren», was die Nähe zum Bildungsbürgertum verdeutlichen soll.
«Die sprachliche Freiheit ist zentral. Sie besteht und wird auch weiterhin bestehen»
Sie sagen also, wir alle können weiterhin schreiben, wie wir wollen? Die sprachliche Freiheit ist zentral. Sie besteht und wird auch weiterhin bestehen. Ich fand es in diesem Hinblick auch absurd, dass Autor:innen von Zeitungen und Verbänden befragt wurden, wie sie es mit der gendergerechten Sprache halten, um daraus Regelungen abzuleiten. Literaturschaffende bearbeiten die Sprache so, wie sie es für richtig befinden, und das sollen sie unbedingt auch weiter tun. Sie müssen sich an keine Sprachregeln halten.
Wenn alles so frei ist, warum wird das Thema dann so emotional diskutiert? Sie sagten, dass sogar im Rat die Wogen hochgingen. Oh ja. In diesem Gremium gibts neben liberaleren auch starke konservative und sprachpflegerische Strömungen. Sprachwandel ist nun mal immer mit Emotionen verbunden. Seit es Sprache gibt, klagt irgendwer über den Sprachzerfall. Sprachpurist:innen wettern gegen Anglizismen, Französismen und Jugendsprache bei Erwachsenen. Zu den Hintergründen der aufgewühlten Gefühlslage rund ums Gendern kann ich nur Vermutungen anbringen. Vielleicht empören sich manche, die nun endlich halbwegs akzeptiert haben, dass Doppelformen verwendet werden, darüber, dass sie schon wieder mit einer Neuerung belästigt werden? Vielleicht können manche nicht akzeptieren, dass Minderheiten uns auffordern, unsere Sprache zu justieren? Vielleicht haben wir auch einfach Mühe mit Neuerungen? Gleichzeitig beobachte ich auf der anderen Seite, dass rund um diese Gendern-Debatte eine starke moralische Dimension mitschwingt, die nicht förderlich ist.
Wie meinen Sie das? Es ist ein Problem, wenn die Toleranz wegbricht. Wenn man Leute in Schubladen steckt, wenn sie eine Doppelform vergessen oder nicht die für die jeweilige Gruppe als korrekt befundene Sprechweise nutzen. Der Diskurs darf nicht so eingeengt sein.
Sie sprechen die aktuell aufscheinenden, dogmatischen Strömungen an. Stichwort: Cancel Culture. Abweichende Weltsichten werden verdammt und aus dem Diskurs verbannt. Beobachten Sie das auch in der Schweiz? Ich glaube, in der Schweiz müssen wir in diesem Fall viel mehr aufpassen, dass wir nicht von der Empörung aus Deutschland überrollt werden. Ich nehme den Aufruhr dort viel intensiver wahr als hier. Wohl auch, weil das generische Maskulinum in Deutschland stärker verbreitet war als hier.
Können Sie den Begriff «generisches Maskulinum» kurz erklären? Wenn die männliche Form als generisch bezeichnet wird, wird dieser die Fähigkeit zugeschrieben, für alle Geschlechter zu stehen. Vor wenigen Jahren sagten noch viele Frauen in Deutschland von sich: Ich bin Lehrer. Da hat es uns geschüttelt. Mit dem Gerichtsentscheid wurde da ein viel grösserer Wandel losgetreten. Zugleich haben die Deutschen die Tendenz, stärker zu normieren. In der Schweiz waren Doppelformen oder auch das Binnen- I schon breiter vertreten.
«Wenn sich die Welt ändert, ändert sich auch die Sprache, mit der wir die Welt darstellen»
Die Autorin Nele Pollatschek schreibt in einem viel beachteten Essay, dass Gendern «leider sexistisch» sei, weil damit das Geschlecht zur wichtigsten Identitätskategorie werde. Sie schlägt daher vor, das generische Maskulinum beizubehalten. Wie sehen Sie das? Meiner Ansicht nach können wir das in der Schweiz gar nicht, weil wir das generische Maskulinum bereits vor vierzig Jahren begraben haben. Im Zuge des Gleichstellungsartikels in den 1980er-Jahren hatte der Bundesrat beschlossen, auch gegen die sprachliche Ungleichheit vorzugehen. Man war sich einig: Das generische Maskulin inkludiert die Frauen nicht. Seither haben Verwaltungen, Schulen, aber auch die Privatwirtschaft mit Stelleninseraten und die Medien verschiedene Anstrengungen unternommen, um weibliche und männliche Nennungen zu etablieren. Natürlich wird damit sprachlich die Binarität der Geschlechter zementiert. Nun ist es an der Zeit, Formen zu finden, die diese wieder aufbrechen – was wir mit den aktuell laufenden Suchprozessen ja auch tun.
Wie gehen wir da vor, ohne uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen? Wenn sich die Welt ändert, ändert sich auch die Sprache, mit der wir die Welt darstellen. Das ist ein unheimlich kreativer Prozess, und wir sind mittendrin. Als Sprachwissenschafterin finde ich das enorm spannend. Ich rate also: Formen ausprobieren und vor allem gelassen bleiben, bei sich und anderen.
Aber wenn ich heute gendere, schwingt doch immer eine politische Haltung mit. Ist das nicht problematisch? Im Gegenteil, ich finde es gut, wenn sich die Leute mit der Wahl ihrer Sprachform positionieren können.
Aber das wirkt doch spaltend auf eine Gesellschaft, wenn jede Gruppe über die gewählte Sprache ständig verdeutlicht, wie sie die Welt sieht. Das sehe ich anders. Wie man spricht, das ist und war schon immer abhängig davon, wo man dazugehört und wie man sich positionieren will. Die Jugendlichen mit der Jugendsprache, die Geisteswissenschafter:innen mit ihren langen Sätzen und komplizierten Wörtern, die Informatiker:innen mit den englischen Begriffen. Sprache hat immer etwas, das einerseits Gemeinschaft schafft, andererseits exkludiert.
Unsere Realität schlägt sich in unserer Sprache nieder – inwiefern hat Sprache das Potenzial, Realität zu schaffen? Die Sprache hat einen Einfluss auf die Wirklichkeit und umgekehrt. Das zeigen zahlreiche Untersuchungen zum generischen Maskulinum: Frauen und andere bewerben sich viel weniger auf Stellenausschreibungen, die in rein männlicher Form formuliert sind, als wenn sie inklusiv getextet wurden. Das generische Maskulinum war sowieso schon immer ein löchriges Konstrukt. Noch im Duden 1996, ich habe es extra gestern überprüft, hat man nur den Begriff «Kindergärtnerin» aufgeführt. Vom Wort Kindergärtner keine Spur – von wegen generisches Maskulinum! Und als Frauen Ende des 19. Jahrhunderts das Stimmrecht erkämpfen wollten, fand noch niemand, dass sie sich vom in der Verfassung stehenden Wort «Bürger» mitgemeint fühlen sollen.
Das Bundesgericht lehnte sogar eine Klage explizit mit dieser Begründung ab, dass mit diesem Wort nur Männer gemeint seien. Was halten Sie grundsätzlich vom Mitmeinen von Gruppen? Ich glaube, es ist ganz einfach: Eine Gruppe lässt sich schlicht nicht mitmeinen, wenn sich diese nicht mitgemeint fühlt. Alle sprachlich zu inkludieren, hat mit Respekt zu tun. Ich selbst habe das nicht sofort erkannt. Als das Gendersternchen aufkam, sagte ich: Ist ja dasselbe wie das Binnen- I, das ich schon nutze. Erst danach realisierte ich, dass sich queere Menschen damit nicht mitgemeint fühlen, auch weil es so stark von der feministischen Bewegung geprägt ist.
«Wir können das Gendern lernen»
Wie reagierten Sie? Mir war klar, dass ich mein Binnen-I aufgeben muss, was ich übrigens nicht leicht fand. Ich entschied mich aus der bis anhin verwendeten Gendervielfalt aus Doppelpunkt, Gap und Stern für Letzteren, mit dem ich am Anfang ästhetisch etwas Mühe hatte. Ich musste ihn auch immer suchen auf der Tastatur. (lacht) Aber ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in den 1980er- Jahren meinen Vater korrigierte, wenn er die Weiblichkeitsformen nicht nutzte oder Wörter wie «Fräulein» verwendete. Nicht weil er sich nicht korrekt hätte ausdrücken wollen, es entsprach einfach noch nicht seinem Sprachgebrauch. Und jetzt ist es mein Sohn, der mich korrigiert, wenn ich sage: Der ist aber speziell angezogen. Dann berichtigt er mich: Du meinst, diese Person ist speziell angezogen. Ich werde immer wieder Fehler machen. Ist doch gut, wenn uns die Jungen korrigieren.
Es ist unheimlich anstrengend, seine Sprache umzuformen. Warum sollten wir das denn überhaupt tun? Natürlich ist es mit Aufwand verbunden, so zu sprechen und zu schreiben, dass sich alle Menschen mitgemeint fühlen. Aber wenn wir dies als demokratische Gesellschaft wollen, müssen wir diesen Preis zahlen. Ich glaube zudem, dass er nicht so hoch ist, wie manche vielleicht meinen. Wir Menschen lernen ständig neue Wörter, Namen etwa oder neue Fachbegriffe. Wir können das Gendern lernen, wir können uns daran gewöhnen. Natürlich braucht das Zeit. Und wie gesagt, es werden viele Fehler passieren, dafür müssen alle eine gewisse Toleranz entwickeln.
Wie gendern Sie selbst? Wenn ich offiziell schreibe, verwende ich weiterhin das Sternchen. Privat mag ich das Ausrufezeichen.
Das Ausrufezeichen? Ja, es stammt wiederum von Luise Pusch, die schon das Binnen-I aufbrachte. Ich finde es perfekt, weil da einerseits der Gap, aber auch noch die Idee des Binnen-I mitschwingt, das ich ja so mochte. Im Moment gefällt mir diese Form am besten. Im Moment. Womit ich sagen will: Es ist im Fluss. Und das ist gut so.