Leben
Gefangen von Guantanamo: Das berüchtigtste Gefängnis der Welt
- Text: Helene Aecherli, Foto: James Nachtwey
Guantanamo steht für das berüchtigtste Gefängnis der Welt. Die Frau, die der Abrechnung mit 9/11 ein Gesicht gibt, ist Gerichtszeichnerin Janet Hamlin. Unsere Reporterin Helene Aecherli begleitete sie auf den kubanischen US-Stützpunkt. Ein Trip der Extreme.
Schulter an Schulter reihen sich die Männer der Wand entlang auf, über zwei Dutzend durchtrainierte Typen, den Blick auf den Gerichtsaal gerichtet, die Arme verschränkt. «MP» steht auf ihren Uniformen: Militärpolizei. Die Szene erinnert an einen Opernchor, der sich am Bühnenrand für seinen Einsatz positioniert, doch lässt die routinierte Grimmigkeit in den Gesichtern keinen Zweifel daran, dass es bei dieser Präsentation körperlicher Übermacht vor allem um eines geht: die Entschlossenheit der USA zu demonstrieren im Gerichtsverfahren gegen Khalid Scheich Mohammed und vier weitere mutmassliche Drahtzieher der Terroranschläge vom 11. September 2001 mit über 3000 Todesopfern. Einer der Wachmänner zieht ein Fläschchen aus der Jackentasche, reibt sich die Hände mit Desinfektionsmittel ein. Es ist hier, in Guantanamo Bay, fast überall zu finden und riecht pudrig-süss wie billiges Parfum.
8.15 h
Fünfundvierzig Minuten vor Beginn der Anhörung. Janet bringt sich in Position, den packpapierbraunen Skizzenblock auf ihren Knien, die Schachtel Pastellstifte neben sich. Sie sichtet die Bühne, die sich langsam mit Akteuren füllt: Staatsanwalt Army Brigadier General Mark Martins in üppig dekorierter Uniform. David Nevin, der professoral wirkende Zivilverteidiger des 9/11-Mastermind Khalid Scheich Mohammed, KSM genannt. Cheryl Borman, die Anwältin des Jemeniten Walid bin Attash, der beschuldigt wird, ein Al-Kaida-Traningscamp in Afghanistan geleitet zu haben, in dem einige der späteren Flugzeugentführer ausgebildet wurden. Aus Rücksicht auf ihren Mandanten trägt Cheryl Borman Hijab und Abaya, ein schwarzes Übergewand, das vom Hals bis zu den Füssen reicht. Für ihre Kritiker reine Anbiederung. Unter dem Umhang lugen trotzig ein paar beige-goldene Highheels hervor.
Janet Hamlin macht mit ausschweifenden Bewegungen die ersten Striche. Hält in Braun das Richterpult fest, die Wappen von Army, Air Force, Marines und Navy, die Anordnung der Bankreihen, die Position der Anwälte. Es ist wichtig, sagt sie, ohne ihren Blick abzuwenden, als Erstes das Ganze zu erfassen, «the big picture». Danach könne sie darauf reagieren, was im Gerichtssaal passiert, das Bild redigieren. «Visual journalism», sagt sie.
Janet und ich begegnen uns erstmals am Virginia Gate der Andrews Air Force Base bei Washington DC. Sie trägt Jeans und T-Shirt, ist ungeschminkt; doch was mir besonders auffällt, ist ihre mädchenhafte Ausstrahlung und ihre fast betörend melodische Stimme, die während der ganzen Woche, in der ich Janet begleite, nie ihr mildes Timbre verlieren wird. Obwohl die Gerichtszeichnerin ein Guantanamo-Routinier ist, wirkt sie angespannt. Das hier, sagt sie, fordere einen jedes Mal aufs Neue. Man wisse nie, was auf einen zukommt. «Ich habe gelernt, das Unerwartete zu erwarten.»
Die Logistik in Guantanamo kostet Unmengen
Auf dem gleissenden Rollfeld der Air Force Base steht ein Airbus von Delta Airlines. «No photography at any time!», wird uns schon hier eingetrichtert. Früher wurden Journalisten mit einer Lockheed C-130 Hercules nach Guantanamo geflogen, einen gigantischen Militärtransporter. Seit kurzem aber werden für den knapp dreistündigen Flug Linienflugzeuge eingesetzt, die die Regierung für 90 000 Dollar pro Strecke chartert. Unser Airbus ist bis auf den letzten der 132 Plätze besetzt, an Bord die gesamte Truppe, die sich später im Gerichtssaal und auf der Zuschauertribüne wieder zusammenfinden wird. Da die Anhörungen nur etwa alle zwei Monate stattfinden, muss das Gerichtspersonal immer wieder neu aufgeboten und eingeflogen werden. Eine logistische Parforceleistung. Nur schon aus diesem Grund sind Stimmen laut geworden, die das Gerichtsverfahren in die USA verlegen wollen. Doch ist ein Transfer derzeit undenkbar: Der US-Kongress hat es für illegal erklärt, auch nur einen Dollar für die Überführung von Guantanamo-Häftlingen auf amerikanischen Boden zu investieren.
Man wolle, so die Begründung, diese Menschen nicht im eigenen Haus.
Honour Bound to Defend Freedom», moralisch verpflichtet, die Freiheit zu verteidigen, heisst es sinnigerweise auf einem vergilbten Schild beim Ankunftsterminal in der Naval Station Guantanamo Bay. Wir befinden uns hier in der südöstlichen Provinz Oriente, im äussersten Zipfel Kubas. Es ist heiss, die Luft riecht nach frischen Blüten, aufgewühltem Meerwasser und Regen. Eine halbstündige Fährenfahrt bringt uns zum Hafen der Bucht. Der Stützpunkt, mit gut 117 Quadratkilometern so gross wie Paris, existiert seit 1896. Die USA leasen ihn für einen jährlichen Betrag von 4085 Dollar bei der kubanischen Regierung (welche die Checks aber angeblich nie einlöst), die Versorgung funktioniert weitgehend autark. Es gibt eigene Süsswassergewinnungsanlagen und Windturbinen. Telefoniert wird über ein spezielles Naval-Station-Netz mit uralten Handys, die hier ausgeliehen werden können, oder über den Festnetzanschluss der Basis. Es sei denn, man ist im Besitz einer Schweizer SIM-Karte, die im Gegensatz zu den amerikanischen so Castro-kompatibel ist, dass sie einem freundlich mitteilt: «Willkommen bei Cubacel.»
Der Stützpunkt diente einst den Schiffen von US-Navy und Küstenwache als Lade- und Tankstation. Heute ist er vor allem eine Logistikbasis, von der aus Hilfsgüter bei Naturkatastrophen wie etwa 2010 beim Erdbeben in Haiti verschifft und ausgeflogen, aber auch illegale Flüchlingsströme überwacht und Drogenschmuggler verfolgt werden. Rund 5000 Menschen – Armeeangehörige, ihre Familien und ziviles Personal – leben zurzeit auf Guantanamo. Sähe man nicht überall Flecktarn und schepperte nicht jeden Morgen um Punkt acht Uhr die Nationalhymne aus unzähligen verborgenen Lautsprechern gnadenlos über die Navy Base, könnte dieses Stück Land irgendwo in Amerika sein: Es gibt «McDonald’s», «Subway»-Sandwichs und «Starbucks». Im Irish Pub O’Kelly’s trifft man sich zu Bier und Bingo, der Officers Club (zu dem wir zugelassen sind, weil Journalisten den Rang eines Offiziers innehaben) veranstaltet Versteigerungen von Militärkitsch zu wohltätigen Zwecken und mittwochs ein mongolisches Barbecue. In der Marina kann man Schnorchelboote und Velos mieten, im Geschenkshop neben dem Einkaufszentrum Guantanamo Navy Exchange hängen «Welcome to Paradise»-T-Shirts, das Openair-Kino präsentiert Blockbuster. An einem Abend steht «Captain America» auf dem Programm, eine Comicverfilmung, deren Held sein Land vor monströsen Feinden rettet. Wir sehen ihn uns an, auf unseren Knien XXL-Kübel mit buttertriefendem Popcorn.
Die unbestimmte Zeit der Gefängnisse
Doch ein Guantanamo als Suburbia existiert nicht im kollektiven Bewusstsein. Denn seit die Joint Task Force Guantanamo nach dem 11. September 2001 hier Terrorverdächtige ohne Anklage auf unbestimmte Zeit festzuhalten begann, ist Guantanamo zum weltweiten Symbol einer ethikfreien Zone geworden, eines finsteren Amerika, das zwar das Einhalten von Menschenrechten predigt, es selber damit aber nicht ganz so genau nimmt. Noch immer sind 154 Männer auf Guantanamo eingekerkert. Die Gefängnisse, Camps genannt, befinden sich einige Meilen vom Zentrum entfernt am Fuss eines dicht bewachsenen Hügels. Die Gefangenen sind von der Aussenwelt isoliert, das Gros unter ihnen ohne klaren Grund inhaftiert. Aus Protest dagegen sind letzten Sommer über hundert Männer in den Hungerstreik getreten. Da aber keiner weiss, wohin mit ihnen und, wie es eine Journalistin formuliert, «kein Politiker das Risiko eingehen will, seine Unterschrift auf die Entlassungspapiere eines Häftlings zu setzen, der sich dann möglicherweise im Empire State Building in die Luft sprengt», bleiben die Männer, wo sie sind. Dass die Gefängnisse in absehbarer Zeit geschlossen werden – das war auch ein Wahlversprechen Präsident Obamas –, davon spricht kaum einer mehr. Immerhin: Das Motto der Gefängnisbetreiber lautet «sicher, human, gesetzestreu und transparent». Die Insassen, die als wenig gefährlich eingestuft werden, dürfen Fussball spielen, Mal- und Sprachkurse besuchen. Spanisch sei derzeit besonders populär.
8.30 h
Khalid Scheich Mohammed wird in den Gerichtssaal gebracht, als erster der fünf Angeklagten. Rasch schreitet er durch das Spalier der Militärpolizisten, das sich sekundenlang öffnet und dann wieder nahtlos schliesst; inmitten seiner vier Bewacher wirkt er mit seinen 165 Zentimetern Körpergrösse wie ein Gnom. Die Bewacher tragen zum Schutz vor Angriffen durch die Topterroristen schwarze Chirurgenhandschuhe: Splashing-Attacken, bei denen Körperausscheidungen jeglicher Art – Kot, Spucke, Blut, Urin – als Waffen eingesetzt werden, sind unter den Gefangenen Guantanamos ein gängiges Mittel, ihrem Hass auf das Wachpersonal Ausdruck zu verleihen.
Doch KSM gibt sich gesittet, fast schon staatsmännisch, als hätte er Spass daran, wieder einmal Publikum um sich zu haben. Er und seine Komplizen sind im berüchtigten Camp 7 inhaftiert, einem Camp, das so geheim ist, dass es offiziell nicht existiert; ein Ort der extremen Isolation, an dem die Männer 23 Stunden pro Tag von jeglichem menschlichen Kontakt abgeschottet sind. KSM präsentiert sich in weissem Turban und grün gefleckter Militärjacke, ein Standardmodell der US-Armee aus den Achtzigerjahren; ein klares Fashionstatement, wie Janet Hamlin kommentiert: KSM wolle sich als Krieger darstellen, als Kämpfer Gottes, der ausgezogen ist, um die islamische Welt von der westlichen Besatzung zu befreien. Auch sein Bart werde immer röter, bemerkt sie und greift zu einem hellen Hennarot in ihrer Farbschachtel. Anscheinend färbe er ihn mit Fruchtsäften; nach dem Vorbild des Propheten Mohammed, als Zeichen seiner Frömmigkeit.
Die Angeklagten werden entsprechend dem Schweregrad ihrer Taten hintereinander platziert. In der ersten Reihe: Khalid Scheich Mohammed, der sich damit brüstet, 9/11-Stratege zu sein und dem US-Journalisten Daniel Pearl vor laufender Kamera den Kopf abgetrennt zu haben. Sorgfältig legt er seinen Koran auf den Tisch. Schüttelt seinen Anwälten die Hand. Setzt sich seine schwarze Brille auf. Greift in seine Plastikbox, die von einem der Wächter in den Saal getragen worden ist und alles enthält, was er für die Anhörung benötigt: Ordner mit Dokumenten, ein Lexikon, einen Gebetsteppich, der zu den islamischen Gebetszeiten im Gerichtssaal ausgerollt werden darf.
Janet Hamlin streckt sich von ihrem Stuhl hoch, um ihn besser sehen zu können. «Ich glaube», sagt sie dann, «KSM hat abgenommen.» Als sie ihn das letzte Mal sah, hatte er einen richtigen Bauch, «a real pot-belly». Vermutlich hat er trainiert. Denn KSM ist eitel. Nie wird Janet vergessen, wie er einst ihre Zeichnung zurückwies, weil er fand, sie habe ihm eine zu grosse Nase gemacht. «Ich habe gesehen, wie er die Zeichnung in der Hand hielt und missbilligend den Kopf schüttelte», erzählt sie. «Dann liess er mir ausrichten, ich solle mir doch bitte im Internet das FBI-Foto von ihm anschauen und seine Nase anhand dieser Vorlage neu zeichnen.» Das Bild zeigte KSM kurz nach seiner Verhaftung in Pakistan, er war zerzaust und dicklich, doch war die Nase tatsächlich schmaler als jene auf Janets Zeichnung. Sie tat, wie ihr geheissen und überarbeitete die Nase.
8.45 h
Die Tribüne beginnt sich zu füllen. Hinter uns Journalisten sitzen Vertreter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Prozessbeobachter, Jusstudenten, auf der anderen Seite, durch einen Vorhang vor fremden Blicken geschützt, eine Gruppe Angehöriger von Opfern der Terroranschläge. Die US-Regierung lädt jeweils fünf Hinterbliebene mit je einer Begleitperson an die Hearings ein, die Teilnahme wird durch das Los entschieden. Diesmal, flüstert mir Janet zu, scheinen es fast ausschliesslich Angehörige zu sein, die mit ihren Kindern gekommen sind. Trotzig starrt ein Mädchen vor sich hin, ihr Gesicht aschfahl, ihre Mutter gezeichnet vom Kummer. Die beiden, so erfahren wir später, kommen aus Atlanta. Sie trauern um Schwester und Tante, die im Flugzeug sass, das über dem Pentagon zum Absturz gebracht wurde. Ein älterer Mann blickt finster auf seine Knie. Er verlor beim Terroranschlag seine Frau, die Mutter seiner vier Kinder. Sein jüngster Sohn, der nun an seiner Seite sitzt, um die Mörder seiner Mutter zu sehen, war zehn, als die Flugzeuge in die Twin Tower krachten. Nervös knetet der junge Mann seine Hände.
Damals, am 11. September 2001, stand Janet Hamlin auf dem Dach ihres Hauses in Brooklyn und sah fassungslos zu, wie die Zwillingstürme in Manhattan in sich zusammenfielen. Unwillkürlich dachte sie dabei an ihre knapp zweimonatige Tochter, die sie aus China adoptiert hatte, fragte sich bang, in welche Welt sie dieses Mädchen bloss geholt hatte; gleichzeitig realisierte sie, wie es plötzlich Papierfetzen zu regnen begann. Ein absurder Moment. «Ich weiss noch», erzählt sie, «wie ich dachte: Wie kann es sein, dass so fragile Dinge wie Papierfetzen überleben, Menschen aber sterben?»
Von den USA nach Guantanamo
Fünf Jahre später wurde sie vom Art Director von Associated Press (AP) zum ersten Mal nach Guantanamo geschickt mit dem Auftrag, den jungen kanadischen Häftling Omar Khadr zu zeichnen. Eine ungeahnte Herausforderung. Sie hatte sich zwar als Illustratorin bereits einen Namen gemacht, doch Guantanamo war furchteinflössend – nicht, weil sie hier wieder mit dem Grauen der Terrorattentate konfrontiert wurde. Sondern wegen des Drucks, den sie verspürte, die einzige Zeugin zu sein, die aus dem Innern dieses Gerichts, wo jegliche Foto- und Filmaufnahmen verboten sind, Bilder hervorbringen sollte. Doch sie bestand die Premiere. Ein Jahr darauf porträtierte sie den australischen Guantanamo-Häftling David Hicks, gab ihm erstmals ein Gesicht. 2008 hielt sie für CNN Khalid Scheich Mohammed und seine Mitangeklagten fest. Eine weitere Premiere. Denn nach seiner Verhaftung in Pakistan 2003 war KSM aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Die CIA hatte ihn drei Jahre lang in geheimen Gefängnissen festgehalten, sogenannten Black Sites, und 183 Mal dem Waterboarding unterzogen: eine Foltermethode, die das Ertränken des Gefangenen simuliert und bereits nach wenigen Sekunden Todesangst verursacht. 2006 wurde Khalid Scheich Mohammed nach Guantanamo überstellt. «Als KSM vor Gericht erschien, trug er ein langes weisses Gewand», erinnert sie sich. «Er war unglaublich dünn, sein Bart grau-schwarz. Wir waren überrascht, wie alt er aussah.
Seither ist die 52-jährige Illustratorin aus New York immer wieder nach Guantanamo gereist. Zum 26. Mal zeichnet sie nun schon hier, vielleicht auch zum 27., so genau kann sie es nicht sagen. Letztes Jahr erschien von Janet Hamlin «Sketching Guantanamo», ein Bildband, in dem sie ihre wichtigsten Zeichnungen von 2006 bis 2013 dokumentiert. Ein grossartiges Werk. Doch hebt man zu einer Laudatio an, winkt sie ab. Sie mag es nicht, wenn man sie auf einen Sockel stellt. Sie sei nur ein Vehikel, sagt sie schlicht. «Dies hier ist der wichtigste Prozess in der Geschichte der USA. Ich bin froh, dass ich meine Fähigkeiten für ein derart historisches Geschehen einsetzen kann.»
8.55 h
Die Spannung auf der Tribüne steigt. Eine dreifache Schicht kugelsicheres Glas schirmt das Geschehen im Gerichtssaal ab. Keine Worte dringen heraus, keine Emotionen hinein. Erst zum Start der eigentlichen Anhörung wird der Ton zu uns übertragen, wenn auch mit vierzig Sekunden Verzögerung. Eine Massnahme zur Wahrung der nationalen Sicherheit, wie es heisst. Sollte im Gerichtssaal etwas zur Sprache kommen, das nicht nach draussen dringen darf, kann der Richter die Tonübertragung sofort unterbrechen. «Manchmal ist es, als befändest du dich in einem schlecht synchronisierten Film», meint Janet. «Ich konzentriere mich deshalb vor allem auf Gesichter, Mimik und Körpersprache – versuche, wie eine menschliche Kamera zu sein.»
Camp Justice nennt das Pentagon das Areal, das dem Militärtribunal im Verfahren «United States v. Khalid Shaikh Mohammad et al.» als Arena dient: Camp der Gerechtigkeit. Es liegt auf einem ehemaligen Flugfeld der Navy Base, dem McCalla Field, und umfasst einen alten Holzhangar, das heutige Medienzentrum sowie eine Siedlung aus Armeezelten, wie sie auch im Irak und in Afghanistan erstellt worden sind. Pro Zelt gibt es acht Schlafräume mit je Bett, Kommode, Stuhl, Glühbirne und Stoffpflanze. Überraschend komfortabel, wären da nicht die eisigen Winde und der ohrenbetäubende Lärm der Klimaanlagen. Ein junger Public Affairs Officer, ein PAO, erklärt mir grinsend, das Dröhnen der Klimaanlagen habe, als er in Afghanistan diente, sogar das Dröhnen in seinem Kopf übertönt. Es habe ihm geholfen einzuschlafen. Ein Effekt, auf den ich vergebens hoffe. Obwohl es auf der Navy Base auch Hotels gibt, werden Journalisten und NGO-Vertreter meist in dieser nachempfundenen Kriegszone untergebracht – sei es aus logistischen Gründen oder, wie auch gemunkelt wird, um ihnen damit zu suggerieren, dass sie hier zu einem Teil werden im Krieg Amerikas gegen den Terror.
Und so liegt das Zeltlager denn auch unmittelbar unterhalb vom neuralgischen Punkt des Camps, dem Expeditionary Legal Complex: Ein 12 Millionen Dollar teurer Barackenkomplex, umzäunt von hohen, mit schwarzen Stoffplanen verdeckten Gittern und Stacheldrahtrollen. In seinem Innern: das Gerichtsgebäude, Zellen, Sitzungsräume. Tagt das Gericht, werden die vier Wachtürme des Complex hinaufgefahren, die dann grotesk verzerrten Fröschen gleich auf das Camp herunterstarren. Der Zugang zum Epizentrum des Geschehens führt in Begleitung einer Militäreskorte durch ein tunnelartiges Zelt und seinen Parcours aus Metalldetektoren und Soldaten, die die Namen auf den Badges akribisch mit jenen auf der Liste der akkreditierten Besucher vergleichen und darauf hinweisen, dass man ausser Pass, Block und Kugelschreiber nichts auf sich tragen darf, sobald man diese Schleuse durchschritten hat.
Die fast paranoid anmutende Angst vor Daten- oder Informationslecks bestimmt Handeln und Denken um uns herum, rund um die Uhr: So weiss jeder Armeeangehörige nur so viel, wie er für seine Aufgabe wissen muss, Compartmentalization lautet das Stichwort. An Pressekonferenzen, wo gefilmt oder fotografiert wird, müssen die Fotobadges, die wir um den Hals tragen, verdeckt werden, damit niemand «da draussen» auf die Idee kommt, die Ausweise zu kopieren. Journalisten dürfen nur genau definierte Ausschnitte der Basis fotografieren und die Armeeangehörigen bloss vom Hals abwärts. Jeden Abend werden die Fotos kontrolliert und im Zweifelsfall gelöscht. Operational Security nennt sich das, Op Sec im Army-Jargon. Und was für Fotoapparate gilt, ist auch für die menschliche Kamera Pflicht: Janet darf den Gerichtssaal erst verlassen, wenn der Court Security Officer ihre Zeichnungen visioniert und als Zeichen seines Okay mit einer Etikette versehen hat. Würde sie eine Zeichnung wissentlich ohne diesen Sticker veröffentlichen, wäre ihre Karriere als Gerichtszeichnerin in Guantanamo vorbei.
9.10 h
Richter James L.Pohl tritt ein. «Bitte erheben Sie sich!», schnarrt die Stimme des Gerichtsdieners in Echtzeit durchs Mikrofon. Sekunden später folgt das «Bitte setzen Sie sich!» KSM streicht sich über den Bart, macht sich eifrig Notizen. Der Richter wartet, bis im Saal Ruhe einkehrt, dann setzt er zur Eröffnungsrede an. Die Erwartungen an diese Woche sind gross. Seit sechs Jahren dümpelt das Verfahren vor sich hin, man hofft, dass es endlich vorwärtsgeht. Ein junger Prozessbeobachter hatte mir die Liste der Motionen gezeigt, die in dieser Woche behandelt werden sollten. Es waren Dutzende von Anliegen, darunter die Forderung der Rechtsanwälte, Einsicht in die Geheimdokumente der CIA zu erhalten, um zu erfahren, was mit ihren Klienten in den Black Sites, den Kerkern der CIA, geschehen ist. Doch wird nichts von alldem zur Sprache kommen. Nur knapp zehn Minuten nach Eröffnung verlangt die Verteidigung, die Anhörung zu vertagen. Man habe herausgefunden, erklärt ein Anwalt zerknirscht, dass das FBI Mitglieder ihrer Teams ausspioniere – was eine sofortige Untersuchung erfordere. Janet Hamlin zieht die Augenbrauen hoch, während sie unbeirrt weitermalt, auf ihrem Bild treten die Konturen des Richters hervor, das Profil Khalid Scheich Mohammeds. «Was habe ich gesagt? Das ist nun das Unerwartete.»
Der Richter gibt dem Antrag auf Vertagung auf den nächsten Morgen statt. Hinter uns leert sich die Tribüne. Wir bleiben sitzen. «Wir werden so lange ausharren», sagt Janet, «bis man uns rausschmeisst.» Denn für ihre Arbeit zählt jede Minute. Draussen aber, vor dem Gerichtssaal, herrschen Wut und Verwirrung. In Grüppchen stehen die Angehörigen der 9/11-Opfer zusammen, sie machen aus ihrer Enttäuschung über die Verzögerung des Verfahrens keinen Hehl, fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen. «Ich fürchte, es wird die Aufgabe unserer Kinder sein, den Prozess bis zum Ende zu begleiten», sagt die Mutter aus Atlanta zitternd und legt den Arm um ihre Tochter. «Sie werden dafür sorgen müssen, dass der Schmerz unserer Familien gesühnt wird.» Die Tochter nickt.
Der FBI-Skandal
Die «FBI-Interview-Issue» oder die Causa 292, wie sie in den Akten verzeichnet wird, hat den Wochenplan auf den Kopf gestellt. Anstatt im Gerichtssaal zu sitzen, diskutieren wir nun darüber, inwiefern die unsichtbare Hand der US-Regierung in diesem Militärtribunal mitmischt – und wie es wohl bis zu unserem Abflug in vier Tagen weitergeht, hier in Guantanamo Bay. Doch der FBI-Skandal hat auch seine positive Seite – für uns zumindest. Denn die unerwartete Verzögerung gibt uns die Gelegenheit, das Camp X-Ray zu besuchen, den Ort, wo im Jahr 2002 die ersten Gefangenen in Käfigen festgehalten wurden. Immer wieder hatte ich unsere Militäreskorte gefragt, ob es nicht möglich sei, einen Trip dorthin zu organisieren und damit argumentiert, dass man dieses Camp sehen müsse, um die neuere Geschichte Guantanamos zu verstehen. Nein, lautete die Antwort stets, während der Hearings sei die Zeit zu knapp dafür.
Nun wird ein Van für uns organisiert. Man rät uns, Mückenschutzmittel aufzutragen und lange Hosen anzuziehen.
Das Camp liegt in der Nähe der kubanischen Grenze in einer Talsohle, eingebettet in üppiges Grün und sanfte Hügel. Von der Strasse aus ist es kaum sichtbar, erst wenn man näher kommt, treten Gitterzäune, morsche Wachtürme und wuchtige Stacheldrahtspiralen hervor, die versehen sind mit rasiermesserähnlichen Klingen, Razor Wire im Fachjargon. Unser Begleiter, ein junger Staff Sergeant, schliesst das Tor auf. Vor uns erstreckt sich ein flach getretener Graspfad, der schnurgerade zwischen den Käfigen hindurchführt: quadratische Gehege mit Gitterdach, Betonboden und – jeweils auf Hüfthöhe montiert – eine Art umgedrehte Taschenlampe: das Pissoir. Auf etwa ein Dutzend Zellen kommen drei Duschen, auch sie in Käfigen eingelassen. Hinter der Käfigsiedlung sind fünf Blockhäuser zu sehen, die aus der Ferne fast idyllisch wirken. Dorthin wurden die Gefangenen zu den «Interviews» geführt, wie das offiziell heisst. Es waren auch Folterräume.
Die Vögel zwitschern frenetisch, Grillen zirpen, die Sonne taucht die Landschaft in gleissendes Abendlicht. Neunzig Tage lang ist das Camp X-Ray in Betrieb gewesen, so lange, bis die neuen Gefängnisse fertiggestellt waren; ein groteskes Konstrukt, das nur als eine unmittelbare Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu erklären ist, sagt Janet Hamlin; als Ausdruck der Angst, Wut und Orienierungslosigkeit, die damals herrschten. Camp X-Ray soll als Beweismaterial erhalten bleiben, doch scheint es der kubanische Dschungel eilig zu haben, X-Ray unter seinem wuchernden Grün zu vergraben. Schon ranken sich Blüten um die Rasiermesserklingen, klettern Schlingpflanzen über Dächer und Duschhähne, auf dem Boden der Käfige häuft sich der Kot von Bananenratten. Anhand seiner plastifizierten Karte versucht der Staff Sergeant herauszufinden, wo die Stelle ist, an der das Bild von den Gefangenen im orangen Overall und mit Mundschutz entstand, die nebeneinander knieten, gefesselt, mit verbundenen Augen und gesenktem Kopf; das Bild Guantanamos, das sich auf ewig ins Weltgedächtnis eingebrannt hat. Er war damals, vor zwölf Jahren, eben in die Armee eingetreten. «Ich kann kaum glauben, dass wir das hier getan haben», sagt er leise. Und eilig betont er, dass den Gefangenen nur ein Mundschutz angelegt worden war, um zu verhindern, dass sie sich mit Tuberkulose ansteckten.
Die Skizzen von Guantanamo
Janet Hamlin steht in sich versunken vor einem der Wachtürme, den Skizzenblock wie eine Rampe vor sich, konzentriert fährt ihr Stift über das Papier. Im Gegensatz zu anderen Guantanamo-Habitués ist sie frei von Zynismus und von jener Arroganz, die sich oft einschleicht, wenn die Routine überhandnimmt. Sie versuche, alles immer wieder von Neuem zu sehen, hat sie einmal gesagt, alles zu dokumentieren und dabei so neutral wie möglich zu bleiben. Sie ist eine Geschichtszeichnerin, die mit Farb- und Pastellstiften auch ein Zeichen gegen das Vergessen setzen will. Denn so, wie das Camp X-Ray langsam unter Gräsern und Stauden verschwindet, so werden mit jeder neuen Generation auch die Erinnerungen an die Terroranschläge von 9/11 verblassen – und mit ihnen irgendwann die Bilder von Guantanamo.
CHRONIK EINER VERGELTUNG
Am 13. November 2001, gut zwei Monate nach den Terroranschlägen, die als 9/11 in die Geschichte eingingen, beauftragte Präsident George W. Bush seinen Verteidigungsminister, «geeignete Orte» zu finden, an denen Nicht-US-Staatsbürger für unbestimmte Zeit und ohne Anklage gefangen gehalten werden können. Zudem entschied Bush, dass kein Taliban- oder Al-Kaida-Kämpfer als Kriegsgefangener anerkannt wird und sie nicht unter die Genfer Konvention fallen, die unfaire Gerichtsverfahren, Folter und grausame Behandlung verbietet. Anfang Januar 2002 wurden die ersten Gefangenen aus Afghanistan ins Camp X-Ray auf Guantanamo gebracht. Camp X-Ray war neunzig Tage lang in Betrieb. In dieser Zeit und bis 2006 entstanden sechs weitere Gefängnisse.
779 Männer waren bisher in Guantanamo inhaftiert, die meisten ohne Anklage. Aktuell sind es 154, fast die Hälfte Jemeniten. 2008 wurden 9/11-Chefstratege Khalid Scheich Mohammed und vier weitere mutmassliche Terroristen erstmals angeklagt. Die Regierung Obama stoppte das Verfahren und rollte es neu auf. 2012 verlas man den fünf erneut die Anklage. Den Angeklagten wird nun durch zivile Anwälte eine bessere Verteidigung zugestanden. Doch lässt auch die Regierung Obama keinen Zweifel daran, dass der Prozess «United States v. Khalid Shaikh Mohammad et al.» mit Todesurteilen enden wird.
2010 hat die Schweiz zwei unschuldige uigurische Guantanamo-Häftlinge aufgenommen.
1.
Dass sich der weltberühmte amerikanische Kriegsfotograf James Nachtwey und unsere Reporterin Helene Aecherli zur selben Zeit auf der US Naval Station Guantanamo Bay befanden, war purer Zufall. Er arbeitete dort für den französischen TV-Sender Canal+. Doch nach einem gemeinsamen Lunch mit Erdnussbutter-Sandwich erklärte er sich bereit, Zeit für annabelle zu investieren und Gerichtszeichnerin Janet Hamlin mit seiner Kamera zu porträtieren. Über eine Stunde lang fotografierte er Hamlin im einstigen Käfiglager Camp X-Ray.
2.
Das Übernachtungsangebot für Journalisten: Ein Schlafabteil mit Glühbirne im Camp der Gerechtigkeit
3.
4.
Im Officers Club ist einmal pro Woche mongolisches Barbecue angesagt. Auf Fotos, die in Guantanamo von Armeeangehörigen gemacht werden, dürfen die Köpfe nicht zu sehen sein
5.
6.
Staatsanwalt Army Brigadier General Mark Martins beantwortet im Media Operation Center die Fragen der angereisten Journalisten
7.
… nennt Janet Hamlin ihre Arbeit. Oben: Richter Pohl. Unten: Der rotbärtige KSM bespricht sich mit Anwältinnen (in Schwarz Cheryl Borman), die aus Rücksicht auf die Gefangenen verschleiert sind
8.
9.
Die Baracken, in denen die Häftlinge in der ersten Phase nach 9/11 verhört und auch misshandelt wurden
10.
Das Camp X-Ray, in dem die ersten Gefangenen gehalten wurden, soll als Beweismaterial erhalten bleiben
11.