Die WM geht an unserem Autor Frank Heer spurlos vorbei. Manchmal wundert er sich, woher sein Desinteresse rührt. Ist es angeboren? Selbstverschuldet? Eine Selbstanalyse.
Wer mit mir über Fussball reden will, braucht starke Nerven. Ich verstehe nichts davon und ich gebe mir auch nicht die geringste Mühe. Kurz: Ich bin ein hoffnungsloser, unbekehrbarer Fall. Das gilt auch für andere Sportarten, selbst für lustige wie Frauentragen oder Nackt-Rugby.
Möglich, dass meine Stumpfheit in Sachen Sport auf einem Gendefekt basiert. Irgendeine Chromosomenmutation, mit dem Effekt, dass körperliche Hochleistung in mir nichts auslöst. Das wäre zumindest eine Erklärung, denn ich entstamme einer sportlichen Familie. Vor allem Fussball interessiert mich «wie eine geplatzte Currywurst im ostfriesischen Wattenmeer» (um ein Zitat des deutschen Trainers Dieter Eilts aus dem Zusammenhang zu reissen). Selbst beim Thema Hooligans, Fifa oder Ablösesummen kommt bei mir null Empörung auf. Da konzentriere ich mich lieber auf andere Probleme. Die meisten Menschen, die sich nicht für Fussball interessieren, bemühen sich um ein gewisses Anstandswissen (Soccer for Dummies), um wenigstens bei wichtigen Spielen mitreden können. Nicht ich. Ich bin bekennender Nicht-Fussballer, auf dem Platz wie vor dem Fernseher. Selbst bei der WM schalte ich konsequent auf stur: Mit Arte gegen den Rest der Sender. Oder ich setze mich in ein leeres Kino.
Fussball war für mich schon immer eine Strafe Gottes. Die elfte Plage. Und natürlich war ich früher im Turnen stets der Letzte Mohikaner, der in eine Mannschaft gewählt wurde. Aha, werden Sie jetzt denken, da haben wir ja das Problem: eine posttraumatische Belastungsstörung durch Kränkung! Aber als Freund der Indianer empfand ich den Umstand, dass mein Name als letzter aufgerufen wurde, nie als Demütigung, sondern als Respekt gegenüber meinem verkümmerten Ballgefühl. Um Schlimmeres zu verhindern, wurde ich – Klassiker! – ins Goal verbannt: für mich ein Privileg. Besonders auf dem grossen Rasen war mir die Stellung auf verlorenem Torposten die optimalste aller möglichen Stellungen. Hier konnte ich tatenlos herumstehen und in der Nase bohren, während meine Kameraden gellend und schwitzend über das Feld hetzten. In der Turnhalle, mit den kleinen, fiesen Toren, verhielt es sich anders. Die Gefahr, vom Ball getroffen (oder auch nur gestreift) zu werden, war beträchtlich und musste unbedingt vermieden werden. In brenzligen Situationen verrenkte ich mich zu kunstvollen Pirouetten, um dem harten Leder auszuweichen, dazu schnitt ich Grimassen der Angst. Oho, werden Sie jetzt denken, er fürchtet sich vor dem Ball! Schon möglich, doch damit konnte ich gut leben, denn natürlich wusste ich ausserhalb der Turnstunde durchaus zu punkten. Ich war zum Beispiel ein ausgewiesener Experte in Sachen Wilder Westen. That’s right: Mein Fachwissen hatte ich mir durch die Lektüre von gut zwei Dutzend Karl-May-Bänden einverleibt. Dazu muss man wissen: Die meisten meiner Schulfreunde kannten «Winnetou» und «Schatz im Silbersee» nur aus den Filmen. Ich hingegen trumpfte mit den Originalen. Ausserdem spielte ich Cello. Da konnten Querflöten, kratzende Geigen und Handorgeln einpacken. Das Cello ist ein romantisches Instrument, das merkten vor allem die Mädchen. Trotzdem verströmten Ton und Erscheinung selbst bei denen Ehrfurcht, die sich Krokus- und Status-Quo-Stickers auf die Jeansjacke gebügelt hatten.
Später entdeckte ich die elektrische Gitarre und gründete eine Band. Das kam bei beiden Geschlechtern gut an und lenkte davon ab, dass ich eine sportliche Niete war. Richtig, das nennt man «aus der Not eine Tugend machen». Jeder Aussenseiter weiss, wovon ich rede. Zwar bezahlte ich diese Extravaganz mit einem Tinnitus, doch der scheint mir weitaus erträglicher als die lädierten Bandscheiben, Kreuzbandrisse und künstlichen Hüftgelenke, mit denen sich viele meiner in die Jahre gekommenen Freunde herumplagen müssen, weil sie sich früher an Grümpelturnieren zu sehr verausgabt haben. Ich sage es ohne Schadenfreude, doch mit erhobenem Zeigefinger: Sport kann die Gesundheit ruinieren!
Kürzlich sprach ich mit jemandem, der gerade die Oper für sich entdeckt hatte. Er sagte, er verstehe nichts von der Musik, aber er möge das Ambiente. Vor allem in den Pausen. Ich dachte für eine Sekunde: Vielleicht ist mein Desinteresse am Fussball ja selbstverschuldet. Wäre doch nett, wenn auch ich mich wenigstens ein bisschen fürs Ambiente in einem Stadion begeistern täte. Ein wenig Mühe geben könnte ich mir ja: einfach mal reinschauen, mitgrölen, Testosteron einatmen und in der Pause das Ambiente geniessen. Dann fiel mir ein Erlebnis ein, das viele Jahre zurückliegt. Ein Freund hatte mich zu einem «Plauschturnier» eingeladen, und zwar als Spieler. Sie lesen richtig: als Spieler. MICH. «Du weisst, dass ich eine Pfeife bin.» «Egal, wir haben trotzdem Spass!» Ich tat ihm den Gefallen. Es war an einem Sommerabend auf dem Sportplatz einer Kleinstadt, in der ich damals lebte. Mir wurde der Posten des Verteidigers zuteil. Der Rasen war frisch gemäht, die Stimmung aufgeräumt, die Sonne hing tief über dem Land. Ich schüttelte meine Beine, lockerte die Gelenke, trippelte munter auf und ab – bis ich den verdammten Ball in meine Richtung rollen sah, zugespielt von meinem Freund! Ja ist der Mann denn übergeschnappt? Will er mich provozieren? HAT ER SIE NICHT MEHR ALLE??? Natürlich verschoss ich seinen Pass aufs Gröbste, was den Freund dazu bewog, die Arme zu verwerfen, auf die Knie zu sinken und «NEEEIIIINNN» zu stöhnen. Als mich ein gegnerischer Stürmer austrickste und ein prächtiges Tor schoss, beschimpfte mich der Goalie mit Schaum vor dem Mund: «SCHLÄFST DU ODER WAS?!» So ging es weiter. Geschlagene neunzig Minuten. Je mehr ich mich anstrengte, umso grösser die Verachtung, die mir von meiner Mannschaft entgegenschlug. Dieses denkwürdige Ereignis steht symptomatisch für alle Freunde des Fussballsports: Wenn das Spiel losgeht, hört der Spass auf. Auf dem Platz wie in den Rängen eines Stadions. Jedenfalls für mich.
Mein Sohn ist vier Jahre alt. Neulich fragte er mich – Schreck lass nach –, ob ich mit ihm tschutten komme. Ich schluckte leer. (Sicher, das war zu erwarten. Und natürlich möchte ich ihm in seiner Entwicklung nicht im Wege stehen. Doch müssen es ausgerechnet Bälle sein? Reicht ihm die Ukulele nicht, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe? Sollte ich es mit einer Angelrute versuchen? Wie wärs mit Denksport?! Im Keller müsste noch ein Schachbrett liegen!) Nun denn. Mein Sohn holte zum Pass aus. Der Ball flog direkt vor meine Füsse. «Nicht schlecht», rief ich ihm zu, bevor ich den Ball im Blumenbeet versenkte. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit bis zu unserem ersten Stadionbesuch sein. Ich freue mich schon jetzt auf die Pause.
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Alternativprogramm zur WM
Die Schweiz ist im Fussballfieber. Die ganze Schweiz? Nein! Unsere Online-Chefin umschifft sorgfältig Bierduschen beim Public Viewing und Pausengespräche über Rundes im Eckigen. And she never walks alone: Denn ihre fünf WM-Alternativen gefallen sicher allen Fussballmüden.