Leben
«Freiheit für die Frauen ist auch eine neue Freiheit für die Männer»
- Interview: Barbara Achermann; Fotos: Daniel Hofer
Marie Leuenberger spielt die Hauptrolle in «Die göttliche Ordnung», dem neuen Film über das Schweizer Frauenstimmrecht. Die Dreharbeiten haben ihr Denken über Frauen verändert. Und damit ihre Sicht auf sich selber. Wir haben die Schweizer Schauspielerin in Berlin getroffen und mit ihr über Gleichberechtigung, Sexszenen und das Altern gesprochen.
Marie Leuenberger hatte eine Partie Tischfussball in einer Berliner Kneipe vorgeschlagen. Doch dann bekam ihr Sohn nachts Fieber, sie konnte ihn nicht in die Krippe bringen und lud deshalb in ihre Wohnung am Prenzlauer Berg ein. Etwas unwohl sei ihr zwar schon dabei, sagt sie, weil ihr das Setting jetzt eigentlich zu privat ist. Ihr Vierjähriger schaut auf dem Handy «Pumuckl», während wir uns an einen Holztisch setzen. Marie Leuenberger schiebt Brotkrümel in eine Spalte. Es ist dieser unangenehme Moment, bevor das Interview anfängt, in dem man sich der Künstlichkeit der Gesprächssituation bewusst wird. Sie blickt auf und lächelt unsicher. «Ein Gesicht wie nackt» hat ein Kritiker einst geschrieben. Tatsächlich hat man den Eindruck, man könne darin lesen. Auch deshalb schaut man ihr so gern zu – im echten Leben wie im Kino.
Im Film «Die göttliche Ordnung» spielt sie eine Hausfrau, die durch und durch Schweizer Mittelmass ist, aus der Marie Leuenberger aber eine komplexe Heldin macht. Wie Nora im gleichnamigen Theaterstück von Henrik Ibsen ist auch diese Appenzeller Nora nur dem Anschein nach glücklich. Es sind die frühen Siebzigerjahre, Nora wäscht Socken, bringt dem Schwiegervater das Bier und liest den Söhnen die Gutenacht- geschichte vor. Eigentlich ist alles in Ordnung, bloss, sie möchte wieder arbeiten gehen. Nicht nötig, findet ihr Mann und macht sie schelmisch darauf aufmerksam, dass sie von Gesetzes wegen seine Einwilligung dafür braucht. Eher zufällig trifft sie auf Aktivistinnen, die fürs Frauenstimmrecht werben. Zunächst schrecken sie diese lauten Feministinnen ab, doch allmählich beginnt auch Nora aufzumucken.
annabelle: Marie Leuenberger, bis 1971 durften die Frauen in der Schweiz weder abstimmen noch wählen. Was löst diese Jahreszahl bei Ihnen aus?
Marie Leuenberger: Es ist eine Zeit vor meiner Zeit, ich bin erst neun Jahre später auf die Welt gekommen. Und so denke ich an Fotos von meinen Eltern aus jenen Jahren, wie sie rauchend und mit langen Haaren im Vorlesungssaal der Universität diskutieren. 1971 ist weit weg – und doch nah. Denn wenn ich mir überlege, dass damals die Frauen in der Schweiz keine politischen Rechte hatten, dann sind 46 Jahre eine kurze Zeit.
Sie spielen Nora, keine rebellische Studentin, sondern eine unpolitische Hausfrau, die gleichwohl beginnt, sich fürs Frauenstimmrecht einzusetzen. Was macht sie zur Vorreiterin?
Ihr ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit. Und ihre friedliche Beharrlichkeit. Ich habe mich mit einer Methode der New Yorker Schauspiellehrerin Susan Batson auf die Rolle vorbereitet. Sie fordert die Schauspieler dazu auf, ihrer Figur ein Tier zuzuordnen und sich dann die passenden Bewegungen anzueignen. Ich habe mir lange überlegt, was für ein Tier Nora sein könnte, bis ich gemerkt habe: Nora ist eine Pflanze. Eine Blume, die still, aber unablässig wächst, bis sie durch den Asphalt bricht.
Wie sind Sie weiter vorgegangen?
Ich habe viel recherchiert. Bilder von damals angeschaut und Fernsehaufnahmen. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Frauen damals kaum gestikulierten, ja dass sie beim Reden meist ganz still standen. Sie wirkten introvertierter und weniger selbstbewusst. Auch habe ich mir eine Biografie für Nora ausgedacht, mir vorgestellt, wie sie ihren Mann kennen lernte. Oder mir Gesten überlegt, die sie macht, wenn sie mit ihrem Mann allein ist, zum Beispiel dass sie ihm durch die Haare fährt, bevor sie ins Bett gehen. Beim Spielen brauche ich diese Geste dann vielleicht gar nicht, aber sie füllt die Fantasie für den Charakter.
Welche Szene ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Als Nora in Zürich in einen Orgasmus-Workshop geht. Aber meine Erinnerung hat weniger mit Nora zu tun als mit mir selber. Beim Dreh mit all diesen tollen Statistinnen entstand eine ganz besondere Stimmung. Wir sassen eng beisammen, ein Raum voller Frauen, als Schauspielerin Sofia Helin («Die Brücke») ein Plakat hochhielt, auf dem verschiedene Formen von Vaginen abgebildet waren. Und dann machte sie diese eine Geste (Marie Leuenberger steht auf, legt sich die Hände zwischen die Beine und formt mit den Fingern ein Dreieck). Sie sagte: «Yoni power, we all have it.» Ich fand das so irre, ich weiss jetzt gar nicht recht, wie ich das beschreiben soll, ich dachte: Wir sind wir. Wir müssen aufhören, uns über die Männer zu definieren.
Ihre Überlegungen erinnern an die Feministin Simone de Beauvoir. Dort drüben liegt ihr Buch «Das andere Geschlecht».
Ich habe es aus der Bibliothek ausgeliehen und bin noch nicht weit. Der Dreh hat einiges bei mir ausgelöst, ich habe angefangen, mehr über die Rolle der Frau nachzudenken. Simone de Beauvoir schreibt, dass der Mann sich als das Absolute setzt. Er ist das Subjekt, während der Frau eine unterlegene Rolle zugewiesen wird. Sie formuliert das viel besser als ich, aber es geht ihr auch darum, dass die Frau das zugelassen hat, dass der Mann sie zum Objekt machte.
Der Film macht diese Zweitrangigkeit der Frau deutlich. Und auch dass es nichts mit Männerhass zu tun hat, wenn man sich davon befreien will. Nora liebt ihren Mann, sie will nicht gegen ihn kämpfen. So geht es auch heute vielen Frauen, die sich für Chancengleichheit einsetzen.
Genau, denn die Bewegung funktioniert ja nur mit den Männern zusammen. Damals wie heute. Es muss ihnen klar werden, dass sie selber auch davon profitieren. Denn die neu gewonnene Freiheit für die Frauen ist auch eine neue Freiheit für die Männer. Auch sie können ihre Rolle neu definieren.
Es wird in «Die göttliche Ordnung» keine Schwarzweiss-Welt entworfen, in der die Frauen gut sind und die Männer böse. Die vehementeste Gegnerin des Frauenstimmrechts ist eine einflussreiche Unternehmerin. Bis heute gibt es Stimmen, die sagen, die grössten Verhinderer der Frauen sind die Frauen selber.
Ich bin mir da nicht so sicher. Aber es stimmt, dass längst nicht jede Frau solidarisch ist. Ich kenne das aus dem Theaterbetrieb. Da gibt es Regisseurinnen, die null Rücksicht nehmen auf Mütter und nur Leute wollen, die rund um die Uhr zur Verfügung stehen, während sie gleichzeitig auf der Bühne aufzeigen, wie gefangen die Frauen sind und wie wichtig Veränderungen wären. Da denk ich dann, nein, das kann nicht sein. Wir müssen doch zusammenhalten.
Beim Dreh waren die wichtigsten leitenden Funktionen mit Frauen besetzt. Wie war das, mit so vielen Frauen zu arbeiten?
Ich kann nicht sagen, dass es für mich anders ist, mit Frauen zu arbeiten, als mit Männern. Es kommt auf den einzelnen Menschen an und hat mit dem Geschlecht erst mal wenig zu tun. Mit einer Ausnahme: wenn es um Sexualität geht. Da fühle ich mich bei Frauen besser aufgehoben.
Inwiefern?
Nora erzählt den anderen Frauen, dass sie noch nie einen Orgasmus gehabt hat. Der Dialog wurde während des Drehs noch verändert, und ich hatte zunächst total Mühe damit. Ich dachte, meine Figur wird dadurch ganz schwach und unsexy. Ich hatte plötzlich Angst zu versagen, wenn sie so etwas ausspricht. Ich konnte aber meine Angst ablegen, weil ich Regisseurin Petra Volpe voll vertraue. Der Text kommt aus ihrem Kopf, er ist aus einer weiblichen Perspektive geschrieben. Auch bei der Sexszene, beim – wie sagt man – Cunnilingus? Also wenn er sie leckt, da fühl ich mich einfach wohler, wenn ich weiss, dass hinter der Kamera, die über meinen halb nackten Körper fährt, eine Frau steht. Bei einem Mann hätte ich sofort Vorurteile, dass er einen voyeuristischen Blick hat. Aber das hat mehr mit mir zu tun als mit der eigentlichen Person hinter der Kamera.
Madonna hielt Ende Jahr eine Rede, die sie mit dem Satz eröffnete: «Ich stehe vor euch als Fussmatte.» Sie erzählt, dass ihre Karriere von Sexismus und Frauenfeindlichkeit geprägt war. Haben Sie selber auch den ein oder anderen Fussabtretermoment erlebt?
Nein. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich wenig Busen und Hüfte habe. Aber was Madonnas Rede angeht, so bin ich über mich selber erschrocken. Ich hatte sogleich diesen Impuls zu denken: Schau doch mal, wie du rumläufst, wie du dich präsentierst. Ich ertappte mich also dabei, wie ich in die Sexismusfalle trat. Denn selbstverständlich darf sie sich kleiden und bewegen, wie sie will. Ihr Auftreten gibt einem noch lange nicht das Recht, sie mies zu behandeln. Deshalb fand ich es so gut, dass es ausgerechnet Madonna war, die das sagte.
Sie selber sind immer korrekt behandelt worden?
Das nun auch nicht. Aber es waren eher Kleinigkeiten. Zum Beispiel hat mich kürzlich ein Regisseur, den ich noch kaum kannte, am dritten Drehtag zur Begrüssung im Nacken gekrault. Ich dachte, huaa, was ist das denn? Und ich möchte das jetzt gar nicht Sexismus nennen. Ich weiss nicht, was es ist, aber es irritiert mich, ist unangenehm und passiert oft. Die Frage für mich ist: Wie soll ich darauf reagieren? Ihm zu sagen, nimm mal deine Finger da weg, wäre völlig unangebracht.
Wie haben Sie reagiert?
Ich hab ihn von da an einfach von fern gegrüsst. Neulich gab es noch so eine Situation, da traf ich mich mit einem Regisseur, um über eine Rolle zu sprechen. Er setzte sich dann so hin, mit breiten Beinen, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinterm Kopf. Machen Sie das mal.
Fühlt sich ungewohnt an.
Ja, nicht? Aber auch richtig stark. Und ich ärgerte mich über mich selber, denn ich wurde sogleich zum Mädchen, rutschte nervös auf dem Stuhl rum, schüttelte die Haare, verschränkte die Beine. Und da dachte ich so bei mir: Nein, Marie, so nicht. Setz dich gerade hin. Sei erwachsen. Und von da an war es dann auch ein normales Gespräch.
Es gibt Schauspielerinnen, die sich beklagen, dass es nur wenige spannende Frauenrollen gibt.
Beim Film trifft das für mich nicht zu. Aber am Theater war das schon so.
Sie hatten Ihr erstes Engagement am Münchner Residenztheater, einem traditionellen Haus, das sich am klassischen Theaterkanon orientiert.
Ich fand es schrecklich. Dieses Theater lebte nicht, es war ein Museum, ganz konventionell mit strengen Hierarchien. Nach einem halben Jahr habe ich gekündigt, und keiner hat verstanden, dass ich dieses berühmte Haus verlasse.
Sie gingen nach Stuttgart und später ans Schauspielhaus in Hamburg. Bis zu Ihrem dreissigsten Geburtstag haben Sie fast nur kindliche Frauen oder sogar Kinder gespielt.
Ich sah immer sehr jung aus. Die Mädchenrollen zu spielen, das war für mich ganz normal. Ich fragte mich aber schon damals: Was ist in zehn oder fünfzehn Jahren? Die klassischen Angebote im Theater sind ja folgende: Erst spielst du die Hauptrollen, das Gretchen oder die Julia, dann bist du irgendwann die Geliebte oder die Mutter, und später kommt nur noch die Nebenrolle als Amme. In den meisten Ensembles gibt es entsprechend fünf Frauen unter vierzig und ein oder zwei Frauen über vierzig.
2010 gewannen Sie für Ihre Rolle als Standesbeamtin den Schweizer Filmpreis. Seither haben Sie nicht mehr Theater gespielt.
Ich habe viele Drehangebote bekommen und fühle mich beim Film viel freier als in einem festen Ensemble. Auch konnte ich mit dieser überdrehten, lauten Kunstwelt plötzlich nichts mehr anfangen.
Ist das Älterwerden beim Film auch einfacher?
Das weiss ich noch nicht, vielleicht. Aber ich finde, dass ältere Frauen im Film eine wichtigere Rolle spielen müssten. Die Gesellschaft wird älter, das Alter gewinnt an Bedeutung. Ich werde gern älter, denn ich komme immer mehr zu mir. Aber wenn ich an den Beruf denke, bin ich nicht mehr so entspannt, denn da muss man optisch schon mithalten können. Ich hoffe, dass ich schön altere. Als Mann hat man dieses Problem ja bekanntlich nicht, da findet man es interessant, wenn einer Falten hat.
Die Filmbranche gilt nicht gerade als Hort der Gleichberechtigung. In der Schweiz gehen achtzig Prozent der Filmfördergelder an Männer.
Das ist tatsächlich erschreckend. Man hat ja die Vorstellung, dass die Menschen im Kunst- und Kulturbetrieb fortschrittlicher denken. Aber das ist wohl nicht der Fall. Es gewinnt ja auch kaum je eine Regisseurin einen Preis.
Sie sind in Basel aufgewachsen und zogen mit 19 Jahren nach Deutschland. Sind die deutschen Frauen emanzipierter als die Schweizerinnen?
Hier in Berlin auf jeden Fall. Die arbeiten alle. Aber die Kinderkrippen sind auch viel günstiger als in der Schweiz, und die Eltern kriegen zusammen zwölf bis vierzehn Monate Elternzeit. Ich finde es haarsträubend, dass die Schweizer Väter nur einen Tag Urlaub bekommen. Rückständig ist das. Eine riesige Ungerechtigkeit finde ich auch den Lohnunterschied. Frauen verdienen im Durchschnitt zwanzig Prozent weniger als Männer.
Haben Sie weniger verdient als Ihre Kollegen?
Das Ding ist halt, ich weiss es nicht. Man spricht ja nicht darüber, was andere verdienen. Bei meinen ersten Gagenverhandlungen im Theater wurde so getan von wegen, wir haben jetzt was Gutes ausgehandelt, aber sags nicht den anderen. Für die Filme verhandelt meine Agentin. Aber auch hier, ich habe keine Ahnung, was mein Filmpartner Max Simonischek oder Sibylle Brunner bekommen haben.
Können Sie denn von den rund drei Filmen, die Sie pro Jahr drehen, leben?
Ja, gut, aber ich lebe relativ bescheiden. Ich brauche kein teures Auto und mache keine Wellnessferien. Mein Luxus ist, dass ich viel Zeit für die Familie habe.