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«Frauengefängnisse in Venezuela sind die Hölle auf Erden»

Leben

«Frauengefängnisse in Venezuela sind die Hölle auf Erden»

In Venezuelas völlig überfüllten Gefängnissen kämpfen die Insassinnen ums nackte Überleben. Viele sind schwanger, krank, mangelernährt oder alles auf einmal. Vor allem sind sie arm. Sonst sässen sie nicht hier.

Als Ana María Arévalo Gosen erkannte, dass es für sie in ihrer Heimat keine Zukunft mehr gab, war sie zwanzig Jahre alt. Sie feierte ausgelassen in einer Bar, ein Freund hatte Geburtstag. Da kam ein Angreifer mit einer Waffe und erschoss vor ihren Augen einen der Gäste. Es war nicht das erste Mal, dass Arévalo Gosen mit brutaler Gewalt konfron- tiert wurde, schon länger fühlte sie sich in ihrem Land nicht mehr sicher. «Doch nach dieser Erfahrung war ich so traumatisiert, dass ich es in Venezuela einfach nicht mehr aushielt.»

Die heute 31-Jährige wanderte nach Toulouse aus, wo sie Politikwissenschaften, Journalismus und Fotografie studierte. Anschliessend zog sie nach Hamburg, inzwischen lebt sie als freie Fotografin in Bilbao. 2017 kehrte Arévalo Gosen nach Venezuela zurück, um an der Hochzeit einer Freundin teilzunehmen. Sie war schockiert darüber, wie sehr sich ihre Heimat in den Jahren ihrer Abwesenheit verändert hatte. «Das Land war komplett heruntergewirtschaftet. Alles war kaputt.» In ihrem Elternhaus gab es kein Wasser mehr und oft auch keinen Strom, «ausserdem war es plötzlich unglaublich teuer, in Venezuela zu leben, viel teurer als in Europa».

Ab 1999 hatte der sozialistische Autokrat Hugo Chávez die heimische Erdölindustrie verstaatlicht, um mit den Erträgen seine Politik zu finanzieren. Als der Ölpreis zusammenbrach, stürzte Venezuela in eine gigantische Wirtschaftskrise. 96 Prozent der Bevölkerung leben heute unter der Armutsgrenze. Auch das Justizsystem ist vollkommen marode. Die Arrestzellen im Land seien eigentlich für 3700 Gefangene ausgelegt, schreibt die Menschenrechtsorganisation «Una Ventana a la Libertad» («Fenster zur Freiheit»). Doch inzwischen werden dort etwa 19 000 Menschen untergebracht – eine Überbelegung von mehr als 500 Prozent.

Ana María Arévalo Gosen beschloss, die unmenschlichen Zustände in den Strafanstalten zu dokumentieren. Sie fotografierte in zwei Staatsgefängnissen, wo die bereits verurteilten Straftäterinnen einsitzen, und in 13 sogenannten Detention Centers, wo Verhaftete eingesperrt werden, bis die Justizbehörden ihren Fall untersucht haben und zu einem Beschluss gekommen sind, ob der Häftling vor Gericht gestellt wird oder unschuldig ist und freikommt. Laut Gesetz dürfte das nicht länger als 45 Tage dauern. Doch viele der Frauen auf Arévalo Gosens Bildern sitzen seit Monaten, manche seit Jahren ein – ohne Gerichtsurteil. An Resozialisierung ist unter solchen Umständen nicht mehr zu denken. «Wenn wir hier rauskommen – falls wir jemals rauskommen –, werden wir schlechtere Menschen sein», sagte die 33-jährige Insassin Ayarí zu Arévalo Gosen.

annabelle: Ana María Arévalo Gosen, Sie haben Ihr Fotoprojekt «Dias eternos» genannt – ewige Tage. Weil sich die Zeit im Gefängnis anfühlt, als wäre sie stehen geblieben?
Ana María Arévalo Gosen: Ja, es gibt in diesen Haftanstalten keinerlei Programm. Von morgens bis abends dämmern die Häftlinge auf engstem Raum vor sich hin. Meist gibt es kein Tageslicht, sondern nur eine trübe Funzel an der Decke. Schwangere Frauen und gebrechliche Alte werden mit Junkies zusammengesteckt, die gerade auf Entzug sind. Manche flippen aus und prügeln sich. Es ist heiss da drin, es riecht nach verfaulten Lebensmitteln, nach Schweiss, Erbrochenem, Exkrementen und Verzweiflung. Es ist die Hölle auf Erden.

Wie viele Frauen müssen sich eine Zelle teilen?
Das ist unterschiedlich, doch allen Gefängnissen ist gemein, dass sie total überfüllt sind. Besonders schlimm ist die Situation in El Valle, einer Haftanstalt in Caracas, in der sehr viele Frauen auf ihren Prozess warten. Hier gibt es eine vielleicht 45 Quadratmeter grosse Zelle, in der etwa sechzig bis hundert Frauen hausen. Wer ein bisschen Geld hat, um die Polizisten zu bestechen, kommt nach nebenan, in einen Raum namens «The Strawberries» – die Erdbeeren. Dort haben die Insassinnen Betten, Mobiltelefone, einen Fernseher und eine kleine Küche.

Es hängt also von den eigenen finanziellen Mitteln ab, wie schlimm die Haft wird?
Natürlich, das Justizsystem in Venezuela ist durch und durch korrupt. Nur die Armen landen überhaupt in diesen Gefängnissen. Wer Geld hat, kauft sich frei – in Dollars, denn unsere Landeswährung Bolivares ist nicht einmal mehr das Papier wert, auf das sie gedruckt ist.

Venezuela steckt in einer verheerenden Wirtschaftskrise mit Hyperinflation. Selbst Grundnahrungsmittel sind für viele Menschen unerschwinglich geworden. Gibt es in den Haftanstalten genug zu essen?
Hier werden überhaupt keine Mahlzeiten ausgegeben. Die Häftlinge sind ganz und gar davon abhängig, dass ihre Familien sie versorgen. Für die Angehörigen ist das wie eine Form der Sklaverei: Sie wissen, dass ihr Familienmitglied im Gefängnis verhungert, wenn sie es nicht schaffen, das Geld für den Bus aufzutreiben und das Schmiergeld für die Polizei, die sie sonst nicht einlässt. Dabei ist die Krise in Venezuela mittlerweile so krass, dass viele Familien sich keine täglichen Malzeiten mehr leisten können.

Oft gibt es nur einen einzigen Wasserhahn für Hunderte von Frauen. Leichtes Spiel für das Coronavirus?
Wenn eine es hat, haben es bald alle. Das gilt auch für andere Infektionskrankheiten. Viele leiden hier unter Tuberkulose, Aids, Krätze, schweren bakteriellen Infektionen und Mangelerscheinungen. Auch zu Schwangerschaften kommt es, weil männliche und weibliche Häftlinge in gewissen Gefängnissen aus Platzmangel gemeinsam eingesperrt werden.

Sind die Schwangerschaften eine Folge von Vergewaltigungen?
Nicht immer, es gibt auch einvernehmlichen Sex. Schrecklich ist, dass trans Frauen stets zu den Männern gesteckt werden. Sie werden sehr häufig vergewaltigt und missbraucht.

Was tun die Frauen, um selbst unter diesen Umständen einen Rest Würde zu wahren?
Oh, Frauen sind so stark! Das ist meine wichtigste Erkenntnis aus diesem Projekt. Da drinnen gesund zu bleiben, ist so gut wie unmöglich. Trotzdem schliessen die Häftlinge Freundschaften, reden miteinander über ihre Probleme, umarmen sich gegenseitig, um sich Mut zuzusprechen und teilen ihr Essen, damit keine verhungert. In Venezuela gibt es einen starken Beauty-Kult. Wir kümmern uns sehr um unser Aussehen. Das tun die Frauen auch im Gefängnis, um sich ein Stück Normalität zu bewahren. Sie machen einander die Haare und tauschen Make-up-Tricks aus. Sie dekorieren auch ihre Zellen, zeichnen die Wände voll oder malen Graffiti, um sich ein bisschen mehr wie zuhause zu fühlen.

So gut wie alle Frauen sind Mütter. Können sie ihre Kinder sehen?
Wenn ein Angehöriger sie vorbeibringt und das Schmiergeld bezahlt, ja. In den Staatsgefängnissen, wo die verurteilten Straftäter sitzen, dürfen Mütter sogar mit ihren Kindern zusammenleben, sofern sie nicht älter sind als drei Jahre. Deshalb bekennen sich viele Mütter schuldig, auch wenn sie es gar nicht sind. So können sie wenigstens wieder mit ihrem Baby zusammen sein. Da fällt mir die Geschichte von Betania ein …

Erzählen Sie.
Betania war schwanger, als sie verhaftet wurde. Sie bekam das Kind im Gefängnis und erhielt aus humanitären Gründen die Erlaubnis, es einmal täglich zu stillen, wenn die Schwiegermutter es vorbeibringt. Betanias Mann war ebenfalls in Haft, allerdings in einer anderen Stadt. Die Schwiegermutter musste sich also um das Baby kümmern, dazu jeden Tag einmal quer durch die ganze Stadt fahren, um Betania mit dem Kind im Gefängnis zu besuchen, und gleichzeitig ihren Sohn in einer anderen Stadt mit Essen versorgen. Nur ein Übermensch hätte das jeden Tag geschafft. Betania war depressiv, anämisch und so ausgehungert, dass ihr Körper keine Milch mehr produzierte. Bei jedem Besuch ihres Kindes erstarrte sie vor Angst, die Wärter könnten das bemerken. Denn dann hätte man ihr die Erlaubnis entzogen, das Baby zu stillen.

Welche Schicksale haben Sie sonst noch besonders berührt?
Jenes von Roxana, die ich in einer Haftanstalt in Valencia traf. Sie zeigte mir einen Abszess an ihrem Bauchnabel. Er sah aus wie verrottetes, von Maden befallenes Fleisch – so schrecklich, dass ich die Bilder davon niemals jemandem gezeigt habe. Ich besuchte sie nach ihrer Entlassung zuhause. Ihr Vater erzählte mir, dass sie adoptiert sei und sehr darunter litt, dass ihre leiblichen Eltern sie nicht haben wollten. Zudem war sie lesbisch, was in Venezuela noch immer ein grosses Tabu ist. Roxana hatte Aids. Sie war kokainsüchtig, hatte ihre Familie ausgeraubt, um die Sucht zu finanzieren. Lang lebte sie unter einer Brücke, wo sie der Vater jeden Tag mit Essen und ihren HIV-Medikamenten versorgte. Sie war die Art Frau, die quasi drehtürmässig ins Gefängnis rein und wieder raus kam. Und trotzdem hielt der Vater eisern zu ihr. Das hat mich sehr berührt.

Was müsste geschehen, damit sich die Verhältnisse in den Gefängnissen bessern?
Es müsste einen Regimewechsel geben und damit ein Ende der Diktatur. Dann müsste die neue Regierung der Korruption ein Ende setzen, neue Gefängnisse bauen und den riesigen Berg von Fällen abarbeiten, der sich über die Jahre aufgestaut hat. Doch ehrlich gesagt habe ich wenig Hoffnung, dass das passieren wird. Es brennt bei uns doch überall! Warum sollte ein neues Regime ausgerechnet die Gefängnisse prioritär behandeln? Häftlinge haben leider keine Lobby.

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1.

Die im achten Monat schwangere Jakelin wartet darauf, sich waschen zu können. Sie sitzt wegen Raubes ein. Für etwa hundert Gefangene gibt es nur ein improvisiertes WC.

2.

Eine trans Frau zeigt ihre Wunden. Sie wird gemeinsam mit den männlichen Gefangenen eingesperrt, die sie schlagen und missbrauchen.

3.

Die einzige Abwechslung im Gefängnisalltag bieten evangelikale Gottesdienste. Manchmal gibt es danach eine gemeinsame Mahlzeit oder ein religiöses Theaterstück.

4.

Der Raum für eheliche Besuche wird neu gestrichen. Mittendrin steht eine Zelle für sieben Insassinnen.

5.

Ein einziger Wasserhahn für Dutzende von Frauen: Leichtes Spiel für Krankheitserreger.

6.

Dichtestress in El Valle: Zum Zeitpunkt des Fotos teilten sich 58 Frauen diese Zelle. Heute könnten es schon hundert sein. Tageslicht gibt es keines. Alle Habseligkeiten sind an den Wänden aufgehängt, weil es in der Zelle nirgendwo sonst Platz dafür gibt.

7.

Trotz der Enge trösten und unterstützen sich viele Gefangene gegenseitig.

8.

In Venezuela herrscht ein ausgeprägter Beauty-Kult. Die Gefangenen machen sich gegenseitig die Haare, um einen Rest Würde zu wahren.

9.

Betania hat die Erlaubnis, einmal täglich ihr Kind zu stillen. Doch sie ist so ausgehungert, dass ihre Brüste keine Milch mehr produzieren.

10.

Maria küsst während der Besuchszeit ihre Tochter. Die 35-Jährige wurde wegen Raubes verhaftet. Sie geht dreimal in der Woche zur Therapie.