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Frauen mit ADHS leiden oft lang und leise

Frauen mit ADHS leiden oft lang und leise

  • Text: Stephanie Hess; Illustration: Stuart Bradford

Frauen mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung sind unruhiger und vergesslicher als andere. Sie leiden oft lang und leise. Wissen sie endlich, was ihnen fehlt, überraschen manche mit Wagemut und unkonventionellen Ideen.

Bernadette * sagt: «Ich wollte mir in diesen Ferien wirklich Mühe geben, dass ich für einmal nichts verliere, nichts vergesse und pünktlich bin. Ich riss mich extrem zusammen. Doch schon am zweiten Tag fand ich das Wochenticket für die Metro nicht mehr.» Eveline * sagt: «Warum können andere einen ganzen Nachmittag lang an einem Familienfest sein und ich werde nach einer Stunde schon unruhig?» Bernadette sagt: «Ich bekomme es einfach nicht auf die Reihe, mich auf eine Aufgabe zu fokussieren. Ich könnte stundenlang, wirklich stundenlang aus dem Fenster schauen.» Eveline sagt: «Ich nehme die emotionalen Bedürfnisse von anderen so intensiv wahr, als wären es meine eigenen.» Bernadette sagt: «Menschenaufläufe machen mich nervös.» Eveline sagt: «Wenn mich etwas nicht interessiert, kann ich es nicht aufnehmen.» Eveline und Bernadette wussten lang nicht, weshalb sie so viel Energie aufbringen müssen, um Dinge auf die Reihe zu bekommen, die für andere Menschen selbstverständlich sind. Warum sich ihr Lebensweg manchmal anfühlt wie mit Leim ausgestrichen oder voller Glatteis. Erst als Erwachsene erfuhren sie, dass sie nicht einfach etwas faul, überempfindlich oder unbedacht sind – so, wie ihnen das bisweilen attestiert wurde. Sondern dass ihr Hirn anders funktioniert als das eines Durchschnittsmenschen. Bernadette und Eveline haben eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS).

Bei Eveline kommt eine Hyperaktivitätsstörung (ADHS) dazu. ADS oder ADHS – diese Buchstabenfolgen überschwemmten in den letzten zwei Jahrzehnten Fernsehsendungen, Buchläden und Publikumspresse. Meistens steht das Kürzel in Verbindung mit hyperaktiven Buben. Nicht aber mit gestandenen Frauen wie der 53-jährigen Lehrerin Bernadette. Ihre Haare sind braun und wild, unter den Fransen blitzen wache Augen. Oder der 48-jährigen Eveline, der Treuhänderin und Sozialbegleiterin mit akkurater, blonder Pagenfrisur. Der enge Fokus auf die männlichen Zappelphilippe ist gemäss Doris Ryffel-Rawak, Fachärztin für Psychiatrie und Psychologie, ein Grund, weshalb die Störung bei Frauen oft nicht als Aufmerksamkeitsdefizit erkannt wird. «Sie wird bei Mädchen und Frauen bis heute weniger abgeklärt, diagnostiziert und therapiert als bei Männern», schreibt sie in ihrem Buch «ADHS bei Frauen – den Gefühlen ausgeliefert». Dies, obwohl man weiss, dass das Vorkommen zwischen den Geschlechtern fast gleichmässig verteilt sein muss. Man geht davon aus, dass die Störung in rund achtzig Prozent der Fälle vererbt wird, sie kann aber auch nach Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen auftreten.

Rund vier Prozent der gesamten Bevölkerung soll gemäss diversen Studien betroffen sein. Das heisst: eine oder einer von 25. Die öffentliche Wahrnehmung ist eine andere: «Heute hat ja jeder ADHS», heisst es gern, wenn das Thema aufkommt. Nicht selten wird die Störung als Erziehungsschwäche der Eltern, als Modediagnose, als Zeiterscheinung abgetan. Dies, obwohl die Existenz der Hirnfunktionsstörung in mehreren medizinischen Studien und auch mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen wurde und exakte internationale Kriterien bestehen, wie sie definiert wird. «Natürlich gibt es zum Störungsbild immer auch Meinungsverschiedenheiten», sagt Ursula Davatz. Sie ist als Psychiaterin auf ADHS spezialisiert und behandelt seit dreissig Jahren betroffene Männer und Frauen in ihren Praxen in Baden und Zürich. Sie ist zudem Vizepräsidentin von Adhs20+, der Schweizerischen Info- und Beratungsstelle für Erwachsene mit ADHS. «Meist wird das Störungsbild bei Frauen seltener erkannt, weil ihre Symptome leiser sind», sagt Ursula Davatz. «Während Buben und Männer oft durch expressives Verhalten auffallen, also tendenziell aggressiv und laut werden, träumen weibliche Betroffene eher vor sich hin, ziehen sich in Krisensituationen zurück und richten ihre Aggression gegen innen», sagt sie.

Ursula Davatz: «Menschen mit
ADS oder ADHS haben viele
Stärken. Sie können über Grenzen
hinausgehen. Unter ihnen
finden sich Künstlerinnen, Erfinder,
Wissenschafterinnen,
waghalsige Unternehmer»

 

Laut der Psychiaterin liegen dem hormonelle Ursachen ebenso zugrunde wie gesellschaftliche Rollenbilder. «Einerseits bringt der hormonelle Grundhaushalt Frauen eher zu sozialen Kompromissen und Anpassung.» Andererseits würden Mädchen in der Erziehung auch heute noch stärker gezähmt als Buben. «Von Mädchen wird noch immer eher erwartet, dass sie sich anpassen, brav sind.» Brav und angepasst musste Eveline als Mädchen nicht sein. «Ich kletterte auf Bäume, prügelte mich mit Jungs, zettelte Schneeballschlachten an.» In der Pubertät aber, als sie die Schule wechselte, kam sie mit ihrer Energie nicht mehr zugange. Sie, die einst so viele Freundinnen hatte, die es liebte, im Mittelpunkt zu stehen, zog sich zurück – und begann zu hungern. Zehn Jahre lang kämpfte sie mit einer Essstörung. Sie ging zu mehreren Psychologinnen, fühlte sich nirgends verstanden. Niemand sprach von ADHS. «Ich dachte, ich sei halt einfach etwas komisch.» «Essstörungen sind sehr typisch für Frauen mit ADS oder ADHS», bestätigt Ursula Davatz. Als Versuch, die überbordende körperliche Energie, die Unrast im Innern, zum Erliegen zu bringen. Zu den typischen Begleiterkrankungen gehören auch Selbstverletzungen wie Ritzen oder das stetige Unterdrücken der Persönlichkeit – was zu einer Angststörung oder Erschöpfungsdepression führen kann. Letztere, sagt Ursula Davatz, beobachte sie oft bei Frauen um die fünfzig. In ihrer Praxis erzählen sie, dass sie nach all den Jahren der Anpassung keine Energie mehr haben. «Die Frauen haben einen jahrzehntelangen Aufreibungskampf und nicht selten eine Therapie-Odyssee hinter sich», sagt Ursula Davatz.

Bernadette entdeckte ihre Hirnfunktionsschwäche, bevor sie an ihr erschöpfte. Einer ihrer Söhne liess sich abklären, weil er an der Universität die nötige Konzentration nicht aufbringen konnte. Sein Bruder tat es ihm gleich. Beide erhielten die Diagnose ADS. «Ich sagte, dass ihr Vater ihnen das vererbt haben müsse. Doch sie schauten mich nur bedeutungsvoll an», erzählt Bernadette und lacht, frei und hell. So, wie sie oft lacht, wenn sie von «ihrer ADS» spricht. Heute kann sie das, Sprüche klopfen. Darüber etwa, dass sie so vergesslich ist, so viel Mühe mit Pünktlichkeit hat. «Ich muss immer auf den Zug rennen. Immer.» Früher jedoch litt sie. «Ich glaubte lang, dass mir vieles schwer fällt, weil ich schlicht etwas dümmer bin als die anderen. Erst die Diagnose gab mir einen neuen Blick auf mich selber. Und nahm mir viel Groll.» Eveline erhielt ihre Diagnose, nachdem sie als Treuhänderin beim Zentralsekretariat der ADHS-Betreuungsstelle für Kinder zu arbeiten begonnen hatte. Da fiel ihr auf, dass sie als Mädchen – der hyperaktive Rabiator, der sie war – ganz ähnlich getickt hatte. Ursula Davatz sagt: «Bei vielen löst allein die Diagnose Erleichterung und einen ersten Verbesserungsschub aus.» Eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung kann auf verschiedene Arten behandelt werden: mit Psychotherapien, mit Neurofeedback – einem computergestützten Hirnwellentraining –, mit diversen Methoden der Alternativmedizin wie Akupunktur oder medikamentös, beispielsweise mit Ritalin. Bernadette ging nie in eine Therapie, Eveline stoppte ihre nach kurzer Zeit. «Es gibt viele Leute, die gut und ohne Unterstützung mit ADS oder ADHS leben», sagt Ursula Davatz. Deswegen betrachtet sie, anders als viele Medizinerinnen und Mediziner, ADHS auch nicht als Krankheit. Sondern definiert sie als einen von mehreren neurobiologischen Typen, die in der Menschheit vorkommen. Der jedoch im Vergleich zum Durchschnitt weit empfänglicher ist für Folgekrankheiten wie Essstörungen, Depression, Borderline, Drogensucht, Schizophrenie.

Nicht selten wird die Störung
als Erziehungsschwäche der Eltern,
als Modediagnose, als Zeiterscheinung
abgetan.

 

Ihre Essstörung hat Eveline in den Griff bekommen, indem sie ihr Leben an die ADHS anpasste. «Ich weiss heute, dass mir schnell langweilig wird, dass ich Wachstumsmöglichkeiten brauche.» Sie hat darum inzwischen zwei Jobs: Einerseits arbeitet sie als Treuhänderin. Daneben ist sie als Fachstellenleiterin in Lenzburg und Zürich in der von ihr gegründeten Schweizerischen Info- und Beratungsstelle für Erwachsene Adhs20+ tätig. Zuvor hatte sie ein Waisenhaus in Afrika aufgebaut. «In meiner Arbeit suchte ich immer ebenso nach Sinn wie nach Stabilität.» Auch Bernadette hat gelernt, ihr Leben so zu strukturieren, dass sie sich darin wohl fühlt: «Ich plane Freiräume ein.» Zeiten, in denen sie mal tagträumen, einen Nachmittag lang aus dem Fenster schauen darf. Und sie sagt Freundinnen, wenn ihr gewisse Dinge schwerfallen: allein durch ein Restaurant gehen beispielsweise. Dass sie ADS hat, vertraut sie hingegen nur wenigen an. «Ich höre, wie im Lehrerzimmer über betroffene Schülerinnen und Schüler gesprochen wird. Es existieren sehr viele Vorurteile.» Auch gegenüber Ritalin. Bernadette setzt in bestimmten Situationen auf das Medikament. Eine beschreibt sie in einem Mail, das sie einen Tag nach dem Interview schickt: «Ich wollte nach dem Gespräch in einen Shop gehen, um mich über ein Tablet zu informieren. Als ich reinschaute, merkte ich, dass mich die vielen Leute im Laden und diese Technik, die ich nicht kenne, überfordern. Ich wollte gleich umkehren.» Doch dann schluckte sie eine halbe Ritalin-Tablette und konnte schliesslich reingehen. Bernadette stand dem stimulierenden Pharmazeutikum Ritalin lang kritisch gegenüber. «Als mein Sohn es nahm, fand ich das schrecklich. Ich gab meinen Kindern nie Chemie. Wir gingen immer zu Naturärzten.» Doch dann sah sie, wie gut es ihm half, probierte es selber und merkte, wie in ihrem Kopf alles ruhig und klar wurde. Wie alles plötzlich an den richtigen Ort fiel. Wie sie auf einmal Dinge schaffte, die sie vorher nicht für möglich gehalten hatte. In einen Laden voller Menschen zu gehen beispielsweise. Oder an einen Kurs mit lauter Unbekannten, in einer Stadt, die sie nicht kennt.

Psychiaterin Ursula Davatz verschreibt Ritalin nur in bestimmten Situationen, etwa wenn eine Lernphase ansteht. Eveline sagt: «Es kann dabei helfen, sein Leben neu auszurichten. Ich glaube aber nicht, dass die ständige Einnahme sinnvoll ist, nur um sich in ein bestehendes System wie den Job einzufügen. Besser, man passt das System an sich an. Denn der Leidensdruck bei Menschen mit ADS oder ADHS ist oftmals so gross, weil sie sich zwingen, sich anzupassen.» Wenn sich das System an die Person anpassen lässt, dann ist ADHS nicht nur ein Kampf, ein zähes Schreiten auf einem mit Leim ausgekleisterten Weg oder ein Balancieren auf Glatteis. Sondern die Aufmerksamkeitsdefizitstörung macht das Leben auch reicher. Ursula Davatz sagt: «Menschen mit ADS oder ADHS haben viele Stärken. Sie können über Grenzen hinausgehen. Unter ihnen finden sich Künstlerinnen, Erfinder, Wissenschafterinnen, waghalsige Unternehmer.» Das bestätigt eine Studie eines Forscherteams der Technischen Universität München. Sie untersuchte, welchen positiven Einfluss die Symptome auf das unternehmerische Handeln haben. Es sind einige. Menschen mit ADHS sind risikobereit, draufgängerisch und verfügen – sofern sie in die richtigen Bahnen gelenkt wird – über mehr Energie als andere. Ein Beispiel dafür sind die beiden bekennenden ADHSler, Ikea-Gründer Ingvar Kamprad und Virgin-Gründer Richard Branson.

Eveline und Bernadette sehen ihre Störung nicht als Krankheit. Bernadette sagt: «Mit ADS oder ADHS hat man eine Superkraft – sofern das Setting stimmt. Im stressfreien Zustand kann ich schneller wahrnehmen als andere, wie es jemandem geht, was er braucht. Ich kann um Ecken denken, finde unkonventionelle Lösungen, auf die andere nicht kommen.» Eveline sagt: «Ich bezeichne ADS und ADHS als Lifestyle.» Eine etwas andere Art zu leben, die sie nicht mehr missen möchte. «Könnte ich heute wählen, ich würde mich bewusst für ADHS entscheiden.»

ADHS-Kriterien
Bei Erwachsenen mit ADHS werden seit rund 25 Jahren die Wender-Utah-Kriterien angewandt, um eine Aufmerksamkeitsdefizit( hyperaktivitäts)störung zu diagnostizieren: Neben den beiden zwingenden Kriterien Aufmerksamkeitsschwäche und Hyperaktivität/innere Unruhe müssen zwei weitere der folgenden Charakteristika erfüllt sein: Affekt-Labilität (schneller Wechsel zwischen normaler und niedergeschlagener Stimmung), desorganisiertes Verhalten, Affektkontrolle (andauernde Reizbarkeit), Impulsivität, emotionale Überreagibilität (Unfähigkeit, adäquat mit Stressoren umzugehen). Infos: adhs.plus

Buchtipps
Doris Riffel-Rawak: ADHS bei Frauen – den Gefühlen ausgeliefert. Hogrefe-Verlag, 176 S., ca. 33 Fr.  
Ursula Davatz: Wie emotionale Monsterwellen entstehen und wie sie behandelt werden. Edition Rüegger, 320 S., ca. 50 Fr.