Leben
Fotografin Liva Tresch: «Ich war schwul und wusste es nicht»
- Text: Klaus Petrus
- Bild: Klaus Petrus
Liva Tresch fotografierte in den 1960er- und 1970er-Jahren das Leben in den Zürcher Lesben- und Schwulenbars. Was bedeutet es für die heute 88-Jährige, dass wir demnächst über eine Ehe für alle abstimmen?
So schön sei sie gewesen, Silvia, mit ihrem kurzen, dunklen Haar und den grossen, braunen Augen, die ganze Nacht habe sie diese Frau anschauen, mit den Augen streicheln müssen, während sie neben ihr schlief. Als Silvia am nächsten Morgen aufwachte und zu ihr sagte «Hatte ich also doch recht, du bist schwul!», da sei sie auf und davon.
Was für ein Schafseckel der liebe Gott doch ist, habe sie gedacht, jetzt hat auch er mich hintergangen. «Ich war immer schon der Aussatz, das Letzte von allem, unehelich, dumm und jetzt auch das noch: schwul. Am liebsten wäre ich nach Sisikon gefahren und hätte mich von der Axenstrasse in den Urnersee geworfen, das hätte wenigstens keine Sauerei gegeben. Aber ich hatte ja nicht mal Geld für den Bus.»
Den Begriff «Lesbe» kannte sie damals nicht
Das war 1955, Liva Tresch war 22, und so richtig wusste sie nicht, was das ist: schwul. Den Begriff «Lesbe» kannte sie damals nicht. Von anderen hörte sie bloss, die seien ein «gruusiges Saupack», abartig und krank. Auch Liva Tresch ging zum Pfarrer nach dieser Nacht mit Silvia und später zu einem Psychiater, sie wollte wieder «normal» sein.
«Die können doch nicht schwul sein, so hübsch und nett und gepflegt, wie sie sind!»
Als sie im selben Jahr zum ersten Mal den «Blauen Himmel» im Zürcher Niederdorf besuchte – das heutige Restaurant Turm – und all diese Männer sah, da dachte sie bei sich: Die können doch nicht schwul sein, so hübsch und nett und gepflegt, wie sie sind!
Keine beschwingte Kindheit
Das Männerbild der jungen Frau war geprägt von Erfahrungen aus ihrer Kindheit, die keine beschwingte war. Geboren in einem Fürsorgeheim in Hergiswil kannte Liva Tresch Zeit ihres Lebens den eigenen Vater nicht. Die Mutter, hochintelligent und schön, musste viel arbeiten für wenig Geld.
So kam Liva Tresch schon ein Jahr nach ihrer Geburt nach Flüelen zu den Portmanns. Der Pflegevater war ein Grobian, er soff, machte anderen Frauen den Hof und versprach der kleinen Liva fünfzig Rappen, wenn sie ihm zwischen die Beine fasste.
Mit diesem Geld konnte sie im Bus von Flüelen nach Altdorf zu den Pfadfindern. Irgendwann erzählte sie ihrer liebsten Pfadifreundin davon, und Lisebethli sagte zu Liva: «Wie gruusig, ich werde dich nie wieder berühren.» Von da an ging sie dem Portmann aus dem Weg.
Weisse Röckchen und Schläge
Mit sechs Jahren kehrte Liva Tresch zu ihrer Mutter nach Gurtnellen, Kanton Uri, zurück, die inzwischen den verwitweten Bauer Butzensepp geheiratet hatte. Sie wurde eingeschult, sollte ordentlich erzogen werden. Nach aussen wurde der Schein gewahrt – Liva trug weisse Röckchen und einen Bändel im Haar –, daheim aber teilte die Mutter, hoffnungslos überfordert, Schläge aus.
Einer der Söhne vom Butzensepp, er brachte sieben Kinder in die Ehe, wollte immer mit Liva «vögeln», er packte sie, doch sie konnte ihm entwischen. «Dann sind sie halt über die Hühner und Schafe her, so war das auf diesen Höfen», sagt die heute 88-Jährige. «Für mich waren alle Männer Hurenböcke, die von uns Mädchen nur eines wollten.»
Als ihre Mutter sie einmal fast bewusstlos schlug, kehrte Liva Tresch nach gut einem Jahr zu den Portmanns zurück. Dort musste sie immerhin keinen Hunger leiden. Und sie bewunderte ihre Pflegemutter, wie sie das Leben meisterte neben diesem Mann, der seine Finger nie bei sich behalten konnte.
Der Körper einer Frau als Heimat
Und sie mochte es, wenn ihr Frau Portmann mit ihren weichen, warmen Händen das Kleid am Rücken zuknöpfte. Oder den Waschlappen holte und sie einseifte. Ansonsten waren Berührungen rar. «Ich war ja die Uneheliche, eine Unreine, die man nicht anfasst», erinnert sich Liva Tresch.
Bei Zärtlichkeiten dachte sie stets an eine Mutter, die sie so nicht hatte, liebevoll und nachsichtig. Und so wurde der Körper einer Frau für Liva Tresch zu ihrer Heimat.
«Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es einer Freundin gefallen könnte, mich zu berühren»
Dass sie homosexuell ist, war ihr noch als junge Erwachsene nicht bewusst. «Ich habe offenbar schwul gelebt, ohne es gewusst zu haben. Ich hatte ja keinen Begriff dafür. Ich wusste nur: Es ist eine bestimmte Sehnsucht nach Nähe in mir, die ich nur mit Frauen stillen konnte. Mit Sexualität hatte das nichts zu tun», sagt sie rückblickend.
Sich selbst nicht hingeben
Sexualität, so ihre bisherige Erfahrung, machte alles kaputt. Dachte sie daran, hatte sie dieses grosse, harte, widerliche Ding vom Pflegevater Portmann vor Augen. Auch später wird Liva Tresch ihre Freundinnen streicheln und verwöhnen, ohne sich selbst hinzugeben.
«Ich hatte in meinem Leben nur einmal einen Orgasmus bei einer Frau, ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es meinen Freundinnen gefallen könnte, mich zu berühren.»
Jahre später – nach einem Aufenthalt im Tessin und diversen Jobs – fand Liva Tresch in Zürich eine Stelle in einem Fotogeschäft, sie verbrachte nebenher viel Zeit in Schwulenbars und wurde schon bald zur Szenefotografin.
Dokumentarin des Zürcher Milieus
Als eine der wenigen dokumentierte sie das Zürcher Milieu der Schwulen und Lesben in den 1960er- und 1970er-Jahren. Liva Tresch fühlte sich wohl dort, sie gehörte dazu, tanzte, trank. Die Szene war ihre Ersatzfamilie. Mit einer Frau ins Bett wollte sie zu jener Zeit aber nicht. «Fast jede machte mit jeder rum, das hat mich abgestossen.»
Meist waren die Bars gemischt, Männer und Frauen. Manche lebten ihre Homosexualität offen und selbstbewusst aus, andere wollten sich bedeckt halten, weil sie verheiratet waren oder Angst davor hatten, sozial ausgegrenzt oder angefeindet zu werden.
Das Homosexuellenregister
Für Frauen gab es wenig Raum für Lebensformen abseits des bürgerlichen Ideals der Ehefrau und Mutter. Umso wichtiger war Verschwiegenheit, und die Fotografin Liva Tresch genoss grosses Vertrauen. Manchmal kamen irgendwelche feine Herren auf sie zu und boten ihr viel Geld für gewisse Bilder, wohl, um die darauf Abgebildeten zu denunzieren.
Oder es tauchte die Polizei bei ihr auf, um das sogenannte Homosexuellenregister mit Infos aufzufüllen. Dieses wurde erst 1978 offiziell abgeschafft (und inoffiziell weitergeführt). Denunziert wurde allerdings auch in den eigenen Kreisen, erinnert sich Liva Tresch. «Oft war nicht das gesellschaftliche Umfeld das Problem, der eigentliche Feind hockte in der Szene: Missgunst, Eifersucht, der fehlende Respekt voreinander, das hat viel kaputtgemacht.»
«Lesbischsein hat mit Politik nichts zu tun»
Unter ihren Freundinnen waren einige politisch aktiv und gingen auf die Strasse, Liva Tresch dagegen wollte das nicht einleuchten: «Lesbischsein hat mit Politik nichts zu tun», fand sie damals.
Lesbische Frauen organisierten sich in Zürich bereits anfangs der 1930er-Jahre, eine politische Bewegung aber hat sich erst wieder ab 1970 formiert. In diese Zeit fällt auch die Gründung der Homosexuellen Frauengruppe in Zürich, die Liva Tresch miterlebt hat.
Engagement als Wegbereiter
«Mir waren diese Kreise zu abgehoben, zu elitär. Viel Gerede, wenig dahinter.» Heute sieht sie das anders. «Politische Prozesse brauchen Geduld, schliesslich kannst du einem grünen Apfel am Baum auch nicht sagen, ab heute bist du eine reife Berner Rose.»
Das Engagement der lesbischen Frauen in den 1970er- und 1980er- Jahren habe viel zu den Rechten der Homosexuellen beigetragen, wie sie heute im Gesetz verankert sind – und auch dazu, dass Bundesrat und Parlament die Parlamentarische Initiative «Ehe für alle» angenommen haben, über die jetzt abgestimmt wird.
Fotogeschäft und Liebesbeziehung
1968 eröffnete Liva Tresch zusammen mit Katrin in Zürich ein Fotogeschäft mit eigenem Labor. Sie hatte die Frau einige Jahre davor kennen und lieben gelernt. Die Beziehung hielt zwanzig Jahre, dann verliess Katrin sie wegen einer anderen Frau.
Sex wollte sie all die Jahre keinen, und Liva akzeptierte das, aus Respekt und aus Liebe. Die Jahre nach ihrer Trennung waren schwierig, heute aber haben sich die Frauen versöhnt, sie trinken am Morgen gemeinsam Kaffee.
Lebenslange Suche nach sich selbst
Als Katrin wegging, richtete sich Liva Tresch in ihrer Wohnung ein Fotostudio ein und arbeitete weiter – bis sie 1997 im Alter von 64 an einer Thrombose auf dem rechten Auge erkrankte und fast erblindete. Sie musste die Fotografie und damit auch das Geschäft aufgeben, verlor ihr Einkommen und den Mut. «Damals war ich noch einmal so richtig tief unten.»
«Ich habe mich versöhnt mit mir, mich lieben gelernt»
Fast ein ganzes Leben habe sie gebraucht, um zu sich selbst zu finden, sagt Liva Tresch. Um zu erkennen: Wer sich verleugnet, zerbricht daran. Vielen Homosexuellen sei das so ergangen, sie hätten sich mehr vor sich selbst versteckt als vor der Gesellschaft.
«Ich habe mich versöhnt mit mir, mich lieben gelernt. Und ich habe die Wut auf meine Widersacher, von denen ich in meinem Leben genug hatte, verloren.» Zu oft sei sie, die sich gern mit einer Alpenrose vergleicht, für die anderen nur Abschaum gewesen. Doch das sei vorbei.
«Ich kann anderen meine Liebe geben»
«Ich bin nicht mehr das Opfer, dieses Häuflein Elend, das man beschützen und bemitleiden muss.» Sie sei, inzwischen 88 Jahre alt, so glücklich wie nie zuvor, trotz all der körperlichen Beschwerden. Manchmal frage sie sich, was sie im Leben geleistet und was sie noch zu bieten habe.
«Meine Liebe», ist ihre Antwort. «Ich kann anderen meine Liebe geben, ich kann ihnen offen begegnen, achtsam und mit Respekt.» Liva Tresch hält hohe Stücke auf ein authentisches Leben, eines, das auf Selbstachtung baut und darauf, nur das zu tun, was im Einklang steht mit den eigenen Überzeugungen und Gefühlen.
Und so wird Liva Tresch in diesen Tagen an ihrem Haus eine Regenbogenfahne anbringen. «Dass wir überhaupt über eine Ehe für alle abstimmen müssen, ist unfassbar. Aber wichtig.»