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«Flüchtlinge haben es verdient, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet»

Leben

«Flüchtlinge haben es verdient, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet»

  • Text: Helene Aecherli; Bilder: Getty Images

Die Brandkatastrophe auf der griechischen Insel Lesbos macht klar: Wir sind gefordert, die Flüchtlingspolitik neu zu denken. «Wir müssen aus dieser Krise eine Chance machen», sagt Kilian Kleinschmidt. Das tönt erst mal abgedroschen. Doch der deutsche Krisenmanager hat das Zaatari-Camp in Jordanien, eines der grossen Flüchtlingslager der Welt, aus dem Elend gehoben. Eben war er auf Lesbos, um sich das neue Camp anzusehen. Kilian Kleinschmidt über Zeltlager, fehlende Psychiater und smarte Investitionen in Ausbildungsprogramme.

annabelle: Kilian Kleinschmidt, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie vom Brand im Flüchtlingslager Moria hörten?
Kilian Kleinschmidt: Ganz ehrlich gesagt, ich war nicht überrascht. Diese Katastrophe war absehbar. Sie hat mich an einen Vorfall erinnert, der 1999 in Bosnien geschah: Damals flohen aufgrund des Kosovo-Kriegs Tausende von Menschen nach Bosnien, man stellte eilends Notlager auf, ehe dann neue, bessere Lager errichtet werden konnten. Eines dieser neuen Lager, dass wir mit Mühe und viel Geld gebaut hatten, wurde niedergebrannt, Bewohner hatten das Feuer gelegt. Daraufhin machten sich viele Geflüchtete in Richtung Kroatien auf. Ihr Ziel war Deutschland, weil sie nicht Flüchtling in Bosnien sein wollten.

Das heisst also, die Geschichte wiederholt sich – auch wenn die Brandursache auf Lesbos noch nicht restlos aufgeklärt ist?
Ja und nein. Die Flüchtlingsproblematik ist im Verhältnis zu 1999 durch die zunehmende Mobilität komplexer geworden. Klimabedingte Migration, Urbanisierung und gesellschaftliche Veränderungen in vielen Regionen der Welt stellen die Definitionen von «Migrant» und «Flüchtling» infrage. Das Thema wird politisch von rechtskonservativen und rechtsradikalen Parteien instrumentalisiert und auch bewusst gesteuert. Zudem üben Russland und die Türkei Druck auf Europa aus und nutzen das Thema zur Destabilisierung der europäischen Solidarität.

Was wohl auch Grund ist, weshalb Europa mit seiner Flüchtlingspolitik in der Sackgasse steckt.
Genau. Deshalb kann man es erst mal vergessen, dass die EU aufgrund des Brands im Moria-Camp ein grosses Umsiedlungsprogramm macht. Auch ist die Forderung, Flüchtlinge aus Lesbos zu evakuieren, in Hinblick auf Tausende anderer, die unter ähnlichen oder gar schlimmeren Bedingungen anderswo vegetieren, ungerecht und kurzsichtig. Jetzt geht es in erster Linie darum, in Griechenland für geflüchtete Menschen gute Bedingungen schaffen zu wollen, und ich denke, wir haben jetzt die Chance, einen Strich zu ziehen und neu anzufangen.

Auf Lesbos fordern jedoch viele Geflüchtete – unterstützt von humanitären Organisationen – genau das: ihre sofortige Evakuierung aufs griechische Festland und in Länder Europas.
Dass Aktivisten wie Geflüchtete ihre Stimmen erheben, ist wichtig und notwendig. Aber es macht keinen Sinn, diese Totalforderungen zu stellen – Forderungen, die keiner umsetzen wird. In Griechenland befinden sich – abgesehen von vielen undokumentierten Migranten – derzeit 50 000 Flüchtlinge. Wie gesagt, sich jetzt ausschliesslich über jene auf Lesbos Gedanken zu machen, greift zu kurz. Im Moment gilt es, für die 13 000 Frauen, Kinder und Männer, die durch den Brand obdachlos geworden sind, vernünftige Unterkünfte zu schaffen, so dass sie geschützt sind, medizinisch versorgt werden, zu essen haben, schlafen und auf die Toilette gehen können. Dass dieses Zeltlager in dieser Form keine Lösung sein kann und darf, ist klar und wird auch von den Verantwortlichen der griechischen Regierung so gesehen, mit denen ich auf Lesbos gesprochen habe.

Das neue Zeltlager soll jedoch gravierende Mängel haben. Die Zelte stehen nicht auf Paletten, sondern direkt auf dem Boden, der beim nächsten starken Regen zu Schlamm wird. Ausserdem ist die Covid-19-Sektion mit Stacheldraht umzäunt, die Menschen dahinter fühlen sich kriminalisiert wie in einem Gefängnis. 
Innerhalb acht Tagen dieses Lager auf Lesbos zu errichten, war erst einmal eine Leistung. Und ehrlich gesagt, sehen solche Notlager auf der ganzen Welt oft genauso aus. Und es gibt immer die gleichen Probleme: zu wenig Wasser, zu wenige Toiletten, unzureichende Unterkünfte. Diese Mängel behebt man dann schrittweise, bis die notwendigen Grundstandards erfüllt sind.

Das heisst?
In dem neuen Lager geht es nun vor allem darum, die sanitäre Anlagen und die Wasserversorgung zu verbessern, das Problem der Ernährung und des Kochens zu lösen, so schnell wie möglich die Anzahl der Bewohner zu verringern und die Sicherheitsabstände zwischen den Zelten zu vergrössern, um allfällige Brände unter Kontrolle bringen zu können. Zudem müssen Schutzbedürftigen sichere Unterkünfte bereitgestellt und innerhalb des Lagers Koordinierungs- und Managementsysteme entwickelt werden.

Trotzdem: Schon jetzt wird das Lager als «eine Architektur der Gewalt» bezeichnet. Hätte es nicht anders gebaut werden können?
Sehen Sie, dass Menschen in Zelten leben – auch ohne Bodenpaletten – ist die Realität für Millionen von Menschen auf dieser Welt. Keiner in Europa stört sich daran, dass in Bangladesch, Pakistan, im Nordirak oder im Kongo geflüchtete und von Armut betroffene Menschen in Slums, irgendwo an Stadträndern in maroden Unterkünften oder eben in Zelten hausen. Ein Zeltlager ist ja grundsätzlich nichts Schlechtes, vorausgesetzt natürlich, es erlaubt ein Leben unter menschenwürdigen Bedingungen. Dass es hier in Europa möglich sein muss, die Unterkünfte noch vor dem Winter zu ersetzen, ist auch klar. Und die beschriebenen Mängel müssen beseitigt werden, sonst wiederholt sich Moria.

Sie leiteten im Auftrag des UNHCR von 2013 bis 2014 das Zaatari-Camp in Jordanien, jetzt mit knapp 77 000 Menschen eines der grossen Flüchtlingslager der Welt. Innerhalb eines Jahres ist es Ihnen gelungen, das Camp in eine De-facto Kleinstadt zu verwandeln, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern Perspektiven und ein Leben in Würde bietet. Wie haben Sie das geschafft?
Zunächst war es wichtig, die Bewohner als Menschen zu begreifen, nicht bloss als logistische Aufgabe. Es galt, Identität, Selbstbewusstsein und Vertrauen wiederherzustellen und damit auch Würde wiederaufzubauen. Das war der Schlüssel dafür, Gewalt zu verringern sowie Aktivitäten zu beginnen, die ein Leben nach dem unmittelbaren Überleben ermöglichen (Anm. d. Red.: So mussten etwa keine Hilfsgüter mehr verteilt werden, sobald die Menschen mit Guthaben auf Chipkarten in Läden einkaufen konnten, die von anderen Bewohnern geführt wurden.). Zaatari nicht als «Abstellkammer», sondern als Lebensraum, der sich entwickelt, mehr noch, als Stadt zu begreifen, erforderte für alle ein totales Umdenken, auch für die Hilfsorganisationen.

Sie prüfen derzeit gemeinsam mit der griechischen Regierung, wie die Flüchtlingssituation in ganz Griechenland zu managen wäre. Welches sind Ihre Vorschläge?
Es gilt dringendst, eine adäquate Infrastruktur von Aufnahmelagern auf den Inseln und auf dem Festland zu bauen und zu managen, um Grundlebensstandards und Versorgung der geflüchteten Menschen sicherzustellen. Menschen mit Asylstatus oder Asylperspektive sollten in langfristigere Siedlungen oder Unterkünfte umsiedeln können. Schutzbedürftige und traumatisierte Menschen müssen schnellstmöglich identifiziert und in sichere Unterkünfte auf dem Festland gebracht werden. Das sind allen voran allein flüchtende Frauen, die Opfer von sexualisierter Gewalt geworden und schwer traumatisiert sind, sowie unbegleitete Minderjährige.

Sind nicht fast alle flüchtenden Menschen traumatisiert, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass?
Doch, natürlich. Flucht und Migration sind per se traumatisierend und entwürdigend. Im Prinzip ist jede und jeder Geflüchtete ein Fall für eine psychologische Behandlung. Aber darauf wird kaum eingegangen. Noch tendieren Regierungen und Hilfsorganisationen dazu, in Massen zu denken, das heisst, es geht eher um die Zahl der Geflüchteten als um die Individuen, die man aufnehmen will. Hier, in Europa, wäre das zu stemmen, regelrecht dramatisch ist es aber in anderen Regionen. Ein Beispiel: In den letzten zwei Jahren kehrten 500 aus Libyen gerettete Migranten nach Sierra Leone zurück. Sie alle brauchen dringend psychologische Hilfe; viele wurden in den libyschen Lagern Opfer von sexualisierter Gewalt und Folter. Aber in Sierra Leone, dessen Bevölkerung noch an den Konsequenzen des Bürgerkrieges leidet, gibt es nur zwei Psychiater.

Hat dies nicht auch damit zu tun, dass psychische Erkrankungen vielerorts noch tabuisiert werden und es aus diesem Grund kaum Personen gibt, die sich überhaupt zum Psychiater oder zur Trauma-Beraterin ausbilden lassen?
Ja, das ist in vielen Kulturen so und wird noch zu wenig beachtet.

Sie setzen bei Ihrer Arbeit stark darauf, geflüchteten Menschen rasch eine Ausbildung zu ermöglichen. Ist es vorstellbar, in Flüchtlingslagern gleich auch Berufsausbildungen anzubieten?
Absolut. Im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien und in vielen anderen Lagern wird dies längst umgesetzt. Denn geflüchtete Menschen haben ein enormes Potenzial und einen starken Willen. So könnte man in Lagern in Griechenland Menschen mit Anspruch auf Asyl in Grundausbildungen, Schnellkurse oder Bootcamps integrieren, noch während sie auf ihren Entscheid warten. Das können zum Beispiel Informatik- oder Englisch-Bootcamps sein. Dies würde sie auch attraktiver machen für europäische Aufnahmeländer, selbst für den sehr wohl existierenden griechischen Arbeitsmarkt.

Was ist mit jenen Menschen, die keine Chance haben auf Asyl?
Für sie gilt dies genauso, ich denke da gerade etwa an Migranten aus Pakistan oder Bangladesch. Denn viele, die unterwegs sind, sind ungelernt, aber fixiert auf Arbeit und Einkommen – auch deshalb, weil sie durch die Kosten der Migration und Zahlungen an Schlepper oft hochverschuldet sind. Als Elektriker oder Mechaniker, zum Beispiel, hätten sie bessere Chancen, wenn sie in ihre Heimatländer zurückkehren oder in Drittländer vermittelt werden.

Nun sind aber gerade diese Rückkehrer in ihren Heimatländern häufig weder willkommen, noch haben sie eine Zukunftschance. So sollen etwa junge Männer, die nach Afghanistan zurückgekehrt sind – oft mit finanzieller Unterstützung der EU – innert weniger Monate wieder auf dem Weg nach Europa sein.
Natürlich geht es um Einkommenschancen im Herkunftsland, Sicherheit ist extrem wichtig, und gerade in Afghanistan oft nicht gewährleistet. Aber viele Menschen sehnen sich nach Lebensqualität, vor allem junge Menschen haben den Wunsch, in einer modernen Welt zu leben. Und wie eben erwähnt: Ein grosses Problem ist, dass solche Rückkehrer meistens hohe Schulden haben, oft 10 000 Euro und mehr, während die Hemmschwelle für die Reise gesunken ist. «Gute» Voraussetzungen, es wieder versuchen (zu müssen).

Sie deuteten vorhin an, dass überall der Bedarf an Arbeitskräften hoch ist, selbst in Griechenland. In welchen Sektoren werden Arbeitskräfte benötigt?
Vor allem in kleineren und mittleren Unternehmen, das fängt mit Spenglern und Elektrikern an, aber auch in der Textilindustrie, im Tourismus und in der Landwirtschaft. Ich will dieses Phänomen gleich auch an Tunesien aufzeigen: Jährlich wandern rund 60 000 Menschen ganz legal mit einem Arbeitsvisum nach Europa oder Kanada ab. Jene, die weniger gut gebildet sind und kein Arbeitsvisum bekommen, steigen auf Gummiboote und fahren nach Italien. In den letzten vier Monaten sind über 7000 Migranten irregulär aus Tunesien nach Italien gekommen – während in Tunesien Fischerei- wie auch Landwirtschaftsbetriebe gerade in abgelegenen Gebieten händeringend nach Arbeitskräften suchen.

Aber diese Menschen verlassen ihre Heimat doch in der Hoffnung, in Europa für dieselbe Arbeit mehr zu verdienen – wodurch sie auch Gefahr laufen, zu Dumpingpreisen angestellt zu werden.
Klar. Die Mafia in Italien ist sehr an Billigarbeitern interessiert. Deshalb sind wir in Tunesien daran, Betriebe vor Ort mittels Business-zu-Business-Kontakten zu stärken, um sie als Arbeitgeber für die Lokalbevölkerung attraktiv zu machen. In Griechenland ist ein anderes Szenario möglich. Dort gilt es, die Bürgermeister der Gemeinden zu unterstützen, damit sie bereit sind, geflüchtete Menschen aufzunehmen, oder besser: dass sie eine wirtschaftliche Perspektive darin sehen, Geflüchteten eine Chance zu geben. Denn noch sind die Gemeinden kaum bereit, den Bau von zusätzlichen Flüchtlingslagen zu genehmigen, die Sorge ist gross, dass es in der Folge mehr neue Flüchtlinge geben wird, die nach Griechenland kommen.

Wie lassen sich diese Bürgermeister unterstützen?
Indem etwa durch Partnerschaften mit anderen europäischen Gemeinden in die Infrastruktur dieser Gemeinden und in Ausbildungsprogramme investiert wird. Wichtig ist es auch, direkte Handelsbeziehungen zugunsten lokaler Unternehmen aufzubauen. Denn es ist essenziell, dass die Lokalbevölkerung direkt profitiert. Die deutsche SPD-Politikerin Gesine Schwan ist daran, einen europäischen Fonds aufzubauen, der Gemeinden und Städten finanziell hilft, wenn sie gewillt sind, mehr Leute aufnehmen und deren Integration zu fördern. Der Erfolg dieser Initiative setzt dann natürlich eine europäische Solidarität voraus – nämlich die Bereitschaft, mit diesen Gemeinden und Städten neue Wirtschaftsbeziehungen und Partnerschaften einzugehen.

Inwiefern müssen diesbezüglich auch Regierungen und Privatwirtschaft in den Herkunftsländern der Geflüchteten und Migranten in die Pflicht genommen werden? Sonst werden bald Stimmen laut, die monieren, dass Europa einspringt, wo sie versagt haben.
Migration ist auch oft Teil des Wirtschaftsmodells – und das ist ja in Ordnung, wenn sie strukturiert funktioniert. Derzeit sind Ausbildungen und Diplome sowie eine reguläre Arbeitsmigration ein Privileg der Eliten und des Mittelstands. Folglich ist es zwingend, mittellosen Jugendlichen den Zugang zu solchen Ausbildungen zu verschaffen, so dass sie – falls erwünscht – auch regulär ins Ausland können. Damit liesse sich die irreguläre Migration reduzieren. Das können Herkunftsländer in Zusammenarbeit mit den Entwicklungsbanken über Garantien für Ausbildungsfinanzierungen erreichen.

Welche Rolle könnte in diesem Rahmen die Schweiz spielen, eines der reichsten Länder der Welt und explizit stolz auf ihre humanitäre Tradition?
Die Schweiz ist ja nun einmal ein Bankenland und hat viele Kompetenzen im Aufbau von Finanzierungen und Finanzierungspartnerschaften. Auch hier ist mein Vorschlag, in den Herkunftsländern bei der Entwicklung von Garantiefonds für Ausbildung und Unternehmensgründung zu helfen und diese auch zu finanzieren.

Sie plädieren also dafür, die gegenwärtige Flüchtlingskrise als Chance neu zu denken.
Unbedingt. Und das bedeutet: analysieren, was die Wirtschaft braucht und dementsprechend in Ausbildungsprogramme für geflüchtete Menschen investieren. Und ganz wichtig: Man muss endlich von den Emotionen wegkommen und Flüchtlinge weder verteufeln noch verniedlichen, sondern als Menschen sehen, die es verdient haben, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet.