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Flavia Wasserfallen: «Wer behauptet, dass ich immer alles unter einen Hut bekomme?»

Politik

Flavia Wasserfallen: «Wer behauptet, dass ich immer alles unter einen Hut bekomme?»

Flavia Wasserfallen kandidiert als Ständerätin – und nicht für den Bundesrat, auch wegen der mangelnden Vereinbarkeit von Führungsposition und Familie. Ihre Forderung: Männer müssen die Strukturen für mehr Vereinbarkeit schaffen.

«Ich bin nach sorgfältiger Abwägung zum Schluss gekommen, dass der Schritt zu einer Bundesratskandidatur zum jetzigen Zeitpunkt für mich nicht stimmt», erklärte SP-Politikerin Flavia Wasserfallen kürzlich auf ihrem Instagram-Account. Sie führe aktuell ein Familien- und Arbeitsleben, das ihren persönlichen Vorstellungen entspreche «und ich entscheide mich daher auch gegen erhebliche Veränderungen im Gleichgewicht».

Flavia Wasserfallen lebt mit ihrer Familie, drei Kindern und einem Mann, in Bern. Zu unserem Gespräch treffen wir uns digital, Wasserfallen arbeitet in einer Bürogemeinschaft.

Gerade, als wir beginnen wollen, klingelt das Handy von Flavia Wasserfallen, ihre Tochter ist dran, es geht um einen Zahnarzttermin. «Ich bin gerade in einem Call», sagt Wasserfallen, sie verabreden sich für später.

annabelle: Der Anruf Ihrer Tochter ist ja der passende Einstieg. Eigentlich hätte ich Sie gern persönlich getroffen. Nun musste ich unser Interview bereits ein Mal verschieben und im Nebenzimmer sitzt mein erkältetes Kind. Wie ist das bei Ihnen, wenn ein Kind krank ist? 
Flavia Wasserfallen: Jeder Tag ist anders, es gibt Phasen wie die Sessionen des Parlaments, da muss mein Mann übernehmen. Seit wir Kinder haben, versuchen mein Mann und ich, alles 50:50 aufzuteilen. Wenn ein Kind krank ist, besprechen wir: Wer kann sich einfacher «loseisen», um heute zu Hause zu bleiben? Es ist ein stetiges Aushandeln. Wir haben dabei grosses Glück, dass wir alles sehr nah beieinander haben. Die Arbeit, die externe Betreuung, die Schule. Wir verlieren nicht noch ein oder zwei Stunden, um irgendwohin zu fahren.

Wir sprechen heute über Vereinbarkeit. Eigentlich müssten solche Interviews viel öfter mit Politikern geführt werden, die Kinder haben. Doch thematisiert wird es vor allem bei Müttern.
Frauen sollen alles sein: Wenn sie sich für die Karriere entscheidet, ist sie eine schlechte Mutter, wenn sie zu Hause bleibt und sich um Haushalt und Kinder kümmert, ist sie schwach und ordnet sich unter. Ein Mann ist in genau der gleichen Situation entweder ein Macher und ein erfolgreicher Berufsmann oder ein moderner Held als Hausmann. Wir Frauen werden noch immer anders beurteilt und schneller gebrandmarkt. Das führt zur Erschöpfung, weil man all dem nicht entsprechen kann. Im schlimmsten Fall führt es dazu, dass Frauen sich zurückziehen. Auch aus der Politik oder der Öffentlichkeit. Exponierten Frauen schlägt viel Hass entgegen. Dieser ist oft sexualisiert und vulgär.

Haben Sie das auch schon erlebt?
Ja, natürlich. Ich glaube, dass das wohl jede Frau in der Öffentlichkeit erlebt. Vor allem Frauen, die sich für feministische Themen einsetzen.

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«Wenn man viel verdient, kann man sich jedes Modell leisten»

Welche Reaktionen haben Sie jetzt rund um Ihre Entscheidung, nicht für den Bundesrat zu kandidieren, bekommen?
Die meisten Reaktionen gingen in diese Richtung: Du kannst das, du schaffst das, du musst das unbedingt machen, sei die erste Politikerin mit kleinen Kindern! Fünf bis zehn Prozent der Kommentare waren: Machen Sie das auf keinen Fall, die Kinder werden Ihnen ewig dankbar sein. Geniessen Sie die Zeit mit den Kindern, die kommt nicht zurück. Ob ein Mann in der gleichen Situation auch solche Reaktionen erhalten hätte?

Empfinden Sie diese Reaktionen teils auch als Grenzüberschreitungen?
Die meisten waren schön und gut gemeint.  Trotzdem: Wie Familie und Beruf vereinbart werden, sollte jedem und jeder selbst überlassen sein. Wir sollten akzeptieren, dass es verschiedene Lebensmodelle gibt. Es geht doch darum, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Frauen und Männer sich frei entscheiden können. Dass man nicht gezwungen ist, das Kind selbst zu betreuen, weil die Betreuungskosten so hoch sind. Dass die Löhne nicht so tief sind, dass man die unbezahlte Arbeit schlechter vereinbaren kann. Es ist nicht die Frage, ob eine junge Mutter Politik machen sollte. Das Problem ist viel breiter: Wie unsere Rahmenbedingungen aussehen, das ist die entscheidende Frage. Wenn man viel verdient, kann man sich jedes Modell leisten, egal welches Geschlecht man hat. Aber das Problem in unserem Land, das ist viel grösser.

Was genau meinen Sie?
Die ungleiche Verteilung der unbezahlten Care-Arbeit, die Ausprägung von tieferen Löhnen in Branchen, in denen vor allem Frauen arbeiten. Und die Lohnungleichheit sowie die zu teuren und ungenügenden externen Betreuungsstrukturen. Das sind die wahren Probleme. Und nicht, wie sich eine Person in einem hohen Amt privat organisiert.

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«Als Bundesrätin wäre ich viel exponierter»

Die Balance zwischen Erwerbsarbeit und Care-Arbeit stimmt aktuell für Sie, sagten Sie. Ihre Begründung gegen das neue Amt war, dass das als Bundesrätin nicht mehr so wäre. Was wäre anders?
Als Bundesrätin wäre mir die gleiche Präsenz zu Hause nicht möglich, wie ich sie jetzt habe. Dazu kommt die Öffentlichkeit – ich wäre viel exponierter, eine öffentlichere Person. Das hätte auch Auswirkungen auf meine Familie gehabt.

Wie muss Politik sein, damit man sich auch mit Kindern dafür entscheiden kann?
Dieses Modell der permanenten Erreichbarkeit, dass alles um deine Person herum passieren muss, dass du überall präsent sein musst … das ist weder in der Politik noch in der Privatwirtschaft gut. Das muss ein Auslaufmodell sein, denn das ist nicht gesund. Ich bin auch überzeugt, dass man so nicht die besten Leistungen erbringt.

Hätten Sie die Chance gehabt, in dem neuen Amt solche Strukturen zu ändern?
Es wäre sicher möglich gewesen zu sagen: Ich blockiere mir gewisse Zeiten ganz streng, zum Beispiel einen Abend zu Hause. Man kann seine Amtsdirektor:innen stärker einspannen, damit sie auch mal eine Reise übernehmen. Dann gibt es noch externe Faktoren, die man nicht von heute auf morgen verändern kann, wie etwa die mediale Aufmerksamkeit. Garantiert würden die Medien bei der ersten Gelegenheit urteilen, ob sie jetzt wirklich Bundesrätin ist oder ihr die Kinder wichtiger sind als das Wohlergehen des Landes. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich diese Frage je bei einem Bundesrat gestellt hat. Natürlich kann man jetzt sagen, das muss mal jemand ändern. Aber muss das zwingend  eine Frau sein?

Eigentlich müssten Männer diese Strukturen verändern.
Ja, und zwar nicht nur für die Frauen. Auch Männer struggeln und wollen ein familienfreundlicheres System. Wir schaffen es nur gemeinsam,  neue Rollen zu finden und die Rahmenbedingungen für alle zu verbessern.

Von den Rahmenbedingungen hängt auch die Balance ab. Dabei klingt Balance besser, als es oft in der Realität ist, oder?
Ja, ich finde wichtig, dass wir nicht immer nur diese Powerfrauen als Role Models haben. Erfolgreich im Beruf, glücklich mit den Kindern und dann auch noch wie aus dem Ei gepellt. Wenn ich gefragt werde, wie ich alles unter einen Hut bringe, antworte ich ehrlich: Wer behauptet, dass ich immer alles unter einen Hut bekomme? Es ist ein ständiges Aushandeln. Und auch nicht konfliktfrei. Dauernd gerät der Alltag aus der Balance.

Wie ausbalanciert ist es aktuell bei Ihnen?
Seit wir Eltern geworden sind, haben mein Mann und ich uns alle Arbeiten aufgeteilt. Kinderbetreuung, Haushaltsarbeit. Seit drei Monaten ist mein Mann voll zu Hause. Und ich finde es so gut! (lacht) Früher habe ich solche Modelle vorverurteilt, meistens im umgekehrten Geschlechterverhältnis, und dachte: Ah, sie bleibt jetzt zu Hause. Und jetzt merke ich, dass es durchaus Entspannung in ein System bringen kann, wenn eine Person zu Hause bleibt. Dabei ist natürlich wichtig, dass es auch wirklich freiwillig passiert und kein ökonomischer Zwang dahinter steht.

Mein Kind findet es manchmal nervig, dass ich gern und relativ viel arbeite. Wie ist das bei Ihren Kindern?
Auch so. Sie ärgern mich damit manchmal ein bisschen extra. Sie fänden aber sicher auch einen Grund, es nervig zu finden, wenn ich mehr zu Hause wäre.

Flavia Wasserfallen wurde 1979 in Bern geboren und wuchs in Hinterkappelen auf. Sie studierte Politologie und Volkswirtschaft und trat im Jahr 2001 in die SP ein. Seit März ist sie u.a. Präsidentin des Schweizerischen Fachverbands Mütter- und Väterberatung, seit Mai 2018 Mitglied des Nationalrats.

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