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«Fett sein macht mich kreativ»

Leben

«Fett sein macht mich kreativ»

  • Text: Jacqueline Krause-Blouin; Foto: Mary McCarthy/Sony

Fast wäre unser Interviewtermin in Berlin geplatzt. Aber nur fast. Die ikonische US-Sängerin Beth Ditto (36) über ihre Solokarriere, Lesbenhass – und ihr Magenknurren.

Wenn man sich an diesem Abend auf ein Wort, das Beth Ditto beschreibt, beschränken müsste, wäre es: angeknipst. Es muss sich für die 36-jährige Sängerin geradezu historisch anfühlen: ihr erstes Konzert ohne ihre Band Gossip. Nach 16 Jahren Bandgeschichte eine Art Scheidungsparty. Als Austragungsort hat sie sich das Lido in Berlin ausgesucht, einen Kreuzberger Club, obwohl die Sängerin nach ihrer Zeit mit Gossip Stadiongrösse gewohnt sein müsste. Ditto nimmt heute einen Umweg, sie kommt durchs Publikum auf die Bühne. Volksnähe demonstrieren. Der Opening-Song «Oh My God» ist symptomatisch für die neue Platte – Soul-, Disco- und Alternative-Elemente treffen schon mal auf einen Blues-Riff. Thematisch geht es auf «Fake Sugar» um Aufbruch, um die Beschränktheit der US-Südstaaten, aber auch um Leben und Lieben als verheiratete Frau.

«Diese Show wird eine Mischung aus Comedy und Burlesque!», schreit Ditto vergnügt ins Mikrofon, um gleich eine Feststellung auf Deutsch hinterherzuwerfen: «Isch bin eine Clown!» Der Lippenstift ist bereits nach dem ersten Song verschmiert, der Gin Tonic halb leer getrunken, aber der Hüftschwung sitzt. Die neuen Songs stehen ihr gut, die Band – mehrheitlich weiblich besetzt – ist energisch, wenn sie auch die Schlagkraft der alten Gossip-Riffs hie und da vermissen lässt. Das Problem ist nur: Ditto selbst scheint den neuen Songs noch nicht ganz zu trauen. Als sie «Lover» mit einer solchen Inbrunst singt, dass man an die Powerballadenzeit der frühen Neunziger erinnert ist, die Münder offen stehen bleiben und kein Zuschauer mehr daran denkt, sein Handy hochzuhalten, bricht sie abrupt ab und setzt zu einem Witz an: «Wow, das war intensiv! Jetzt weiss ich, wie sich Adele fühlt!» Um sicherzugehen, schickt sie noch einen Rülpser hinterher. «Oops!» Das macht sie öfter, immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet.

Dann wird Beth Ditto leider zu einer Art Gossip-Jukebox, was nach 16 Jahren Bandgeschichte vielleicht unumgänglich ist. «Lasst uns den neuen Song überspringen», weist sie ihre Band an. «Die Leute wollen die Hits hören! Wenn ich zu George Michael gehe, will ich auch nur ‹Careless Whisper› hören.» «Heavy Cross» schreit es da aus allen Richtungen – «Heavy Cross», das ist der Song, der die Band 2009 endgültig in Popstarsphären katapultierte: «Its a cruel, cruel world to face on your own.»

Was bisher geschah: Mary Beth Patterson wurde 1981 in Searcy, einer Kleinstadt in Arkansas, geboren. Es folgte eine Kindheit geprägt von Armut, sexuellem Missbrauch durch ihren Onkel und die anschliessende Flucht in die Punk- und Riot-Grrrl-Jugendkultur. Mit 18 verliess sie mit einigen Freunden ihre Heimat, um in Olympia, Washington, die Band Gossip zu gründen. Erst 2006 gelang der Band mit dem Album «Standing in the Way of Control» der internationale Durchbruch. Beth Ditto wurde zu einer Ikone der Popkultur und spätestens 2009, als sie nackt auf dem Cover der Zeitschrift «Love» zu sehen war, auch zum Darling der Modeszene. Es folgten Kooperationen mit Jean Paul Gaultier, Karl Lagerfeld und Marc Jacobs sowie ihre eigene Plus-Size-Kollektion. Immer wieder machte Ditto auch als Aktivistin und überzeugte Feministin von sich reden. 2013 heiratete sie ihre Partnerin Kristin Ogata auf Hawaii, wo kurz zuvor die gleichgeschlechtliche Ehe legal geworden war.

Wenn man sich am Morgen nach ihrem ersten Solokonzert auf ein Wort beschränken müsste, das Beth Ditto beschreibt, dann wohl auf dieses: ausgeknipst. Unser Interview, angesetzt um 11 Uhr, wird abgesagt. Ein heimtückischer Virus habe die hilflose Sängerin heimgesucht. Später wird sie selber verlauten lassen, dass sie sich einfach nur einen fetten Kater eingefangen hatte. Das Interview soll ersatzlos gestrichen werden. Für uns gibt es nur noch eine Chance: die Echo-Verleihung in Berlin, wo Ditto – falls der Kater-Infekt es zulässt – abends einen neuen Song präsentieren soll. Da müssen wir hin. Viele Telefonate, Flugumbuchungen und diverse nervöse Zigaretten später sitzen wir in einem Van im Backstagebereich der Echo-Verleihung. Campino kommt vorbei, die Beginner, Xavier Naidoo fährt im Bentley vor – nur Beth Ditto fehlt. Uns fehlen Backstagepässe, also wird im Auto gewartet. Stundenlang. Um 19.30 Uhr sichten wir Dittos Ehefrau, und dann kommt auch die, die Miss Piggy ihr grosses Vorbild nennt: Beth Ditto, in einem pinken Jerseykleid. «Sorry! Big fat sorry!», schreit sie uns entgegen. Kann man dieser Frau böse sein?

annabelle: Beth Ditto, wir müssen dieses Interview in einem fahrenden Auto führen.
Beth Ditto: Hilfe, ich bin mit einer bösen Journalistin in einem Auto eingeschlossen! (Hämmert theatralisch an die Fensterscheibe)

Wie haben Sie sich bei Ihrer ersten Soloshow nach 16 Jahren Gossip gefühlt?
Es war wie eine Art Homecoming. Sehr emotional, ich glaube, ich habe mehrmals geweint. Wissen Sie, ich vermisse meine Bandmitglieder.

Warum haben Sie sich dann getrennt? Gibt es vielleicht doch ein bisschen Gossip über die Bandauflösung?
Ha! Das hätten Sie jetzt gern! Es ist gut so, wie es ist. Beim Schreiben der letzten Gossip-Platte hatte ich das Gefühl, dass ich alle nur hinter mir herziehe. Alle waren irgendwie durch damit. Nun ja, irgendwann fand ich mich beim Schreiben neuer Gossip-Songs in Los Angeles wieder. Aber mit komplett anderen Menschen. Diese Lieder fühlten sich falsch an, bis ich gemerkt habe: Na klar, das sind keine Gossip-Songs! Das war nicht mehr Gossip, das war nur noch Beth. Ich musste mich also fragen, warum ich so verkrampft an einer Sache arbeite, die längst nicht mehr funktioniert. Es gab keinen Streit, es war einfach nur vorbei.

Sie haben als 18-Jährige Ihre Familie verlassen, nannten danach Ihre Band die neue Familie. Nun haben Sie zum zweiten Mal Ihre Liebsten hinter sich gelassen.
Es ist wie in jeder Beziehung: Egal, wie sehr man sich liebt, wenn es nicht mehr funktioniert, muss man sich trennen. So ist nun mal der Lauf der Liebe. Man kann entweder bleiben und die gleichen Fehler ständig wiederholen oder aber gehen. Gossip war, wie zu früh zu heiraten – eine junge Ehe, die wir beenden mussten.

Warum heisst Ihr Soloalbum «Fake Sugar»?
Künstlicher Zucker ist trügerisch – süss, aber falsch. Er ist ein Ersatz für etwas Echtes, das passt sehr gut zu mir. Ausserdem spielt es natürlich auch auf die aktuelle Obsession von gesundem Essen an. Aber ich will nicht mehr über Zucker sprechen! Hören Sie denn meinen Magen nicht knurren? (Sie springt auf und streckt der Interviewerin ihren Bauch entgegen)

Kann ein Körper ein Politikum sein? Das Plus-Size-Model Ashley Graham löste wochenlang Schlagzeilen aus, nur weil sie abnahm.
Es hat sich viel getan in Sachen Verständnis fürs Dicksein, aber es herrscht trotzdem noch eine seltsame Doppelmoral, die ich, milde gesagt, abartig finde. Jetzt redet man schon davon, was ein «guter» fetter Körper und was ein «schlechter» fetter Körper ist. Wir Menschen werden immer aufgrund unserer eigenen Unsicherheit handeln. Es ist okay, unsicher zu sein, aber andere Leute deswegen zu beleidigen, ist nicht okay. Ist es enttäuschend, dass Ashley Graham abgenommen hat? Nein. Ist es enttäuschend, dass sie Druck verspürte, abnehmen zu müssen? Ja. Ausserdem kennt man ja auch die medizinischen Hintergründe nicht. Als ich eine Weile krank war, habe ich enorm an Gewicht verloren, und die Leute haben es mir übel genommen. Ich wurde beschimpft, ich sei nun kein Vorbild mehr. Dabei bedeutet es, wenn ich mal schlanker bin, einfach, dass mein Körper krank ist. Ich bin am glücklichsten und gesündesten, wenn ich fett bin.

Sie benutzen auffallend oft das Wort «fett». Mir wurde mal beigebracht, dass das ein böses Wort ist.
Meine Mission ist, das Wort «fett» zurückzuerobern und ihm eine positive Bedeutung zurückzugeben. Warum ist das Wort «schlank» nicht negativ besetzt? Ich finde eher Worte wie «übergewichtig» furchtbar. Denn das Wort suggeriert, dass an jemandem, der über einem bestimmten Gewicht liegt, etwas falsch ist. «Übergewichtig» ist ein Begriff für Gepäck, nicht für Menschen. Und «kurvig» ist ein Begriff für Strassen. Ich komme in Teufels Küche, aber ich finde, «kurvig» ist ein Wort, das fette Menschen erfunden haben, um sich selbst besser zu fühlen. Das entspricht mir nicht. Wir alle haben einen Körper, der uns gegeben wurde. Und meiner ist ein Marshmallow.

Also darf ich das Wort «fett» benutzen, auch wenn ich selbst schlank bin?
Natürlich! Solange es nicht beleidigend gemeint ist. Du kannst allen erzählen: Ich habe dieses fette Mädchen getroffen, sie heisst Beth! Was soll daran falsch sein?

Glauben Sie, Ihr Gewicht hatte einen Einfluss auf den Lauf Ihrer Karriere?
Ja, vielleicht. Weil ich mich mit einem durchschnittlichen Körper wohl nicht so auf meine Persönlichkeit hätte verlassen müssen. Ich habe das Anderssein kompensieren müssen und mich so auf meine Stärken konzentriert. Wahrscheinlich bin ich deswegen auch so laut und will immer alle unterhalten. Ich kann wirklich sagen: Fett sein hat mich kreativ gemacht. Wenn dem fetten Mädchen das Kleid nicht passt, näht es sich eben selbst ein noch viel schöneres!

Als Sie mit Modegrössen wie Karl Lagerfeld oder Kate Moss gesichtet wurden, bezeichnete man Sie gleich als die Quoten-Dicke, die von der Modebranche ausgenutzt würde, wie finden Sie das?
Es ist mir scheissegal. Aber gut, dass es diskutiert wird. Es ist schlau, kritisch zu sein, und Menschen sollten einander zur Verantwortung ziehen, ohne Arschlöcher zu sein. Negativ ausgedrückt hat die Modebranche mich vielleicht benutzt, um von ihrer Obsession vom Dünnsein abzulenken, aber es war auch der Beginn einer Bewegung, und so funktioniert nun mal Veränderung. Und es hat sich was verändert, niemand weiss das so gut wie ich. Natürlich muss die Modeindustrie kritisiert werden, und zwar ständig und immer wieder. Ich lasse mich dafür gern benutzen, wenn es Veränderung herbeiführt. Aber ich bin deswegen keine verdammte Märtyrerin.

Waren Sie schon immer so selbstbewusst?
Ich bin eine Optimistin. Aber ich bin auch oft deprimiert, das hätten Sie jetzt nicht gedacht, oder? Ich bin noch dazu absolut abergläubisch. Wenn man aus dem Süden der USA kommt, kann man gar nicht anders. Da wird dir ja ständig gesagt, dass Gott überall ist und du in die Hölle kommst, wenn du was anstellst. Das hat auf mich abgefärbt. Ich sage nie vorher, dass eine Sache toll werden wird, weil ich Angst habe, sie zu verfluchen. New-Orleans-Christentum-Teufel-Kacke halt!

Wie reagiert man in Ihrem Heimatdorf in Arkansas eigentlich auf Ihren Erfolg? Haben Sie da auch eine jährliche Parade wie etwa Dolly Parton in Tennessee?
Ich wünschte es! Eine Parade gäbe es vielleicht, wenn ich heterosexuell wäre. Bin ich aber nicht. Als der Direktor meiner Primarschule Bürgermeister wurde, erzählte ihm meine Mutter, dass ich jetzt berühmt sei. Er meinte nur: «Beth? Die kleine, dicke Beth?» Dann wollte er mich zur Ehrenbürgerin machen, bis er herausfand, dass ich lesbisch bin. Danach hiess es plötzlich: «Sie passt nicht zu unserer Gemeinde.» Ich tauche aber trotzdem wieder total oft in meiner Heimat auf. Nächste Woche wird meine kleine Nichte 18, da darf ich nicht fehlen.

Man ist also nicht toleranter geworden?
Ach, doch nicht im Süden, Lady!

Haben Sie Angst davor, dass die Trump-Regierung Rechte der LGBTQ-Menschen einschränken könnte?
Ich bin wütend, sehr wütend. Meine Nachbarin hat Trump gewählt und spricht auch darüber. Eines seiner Wahlversprechen war, die Homo-Ehe abzuschaffen, und meine Nachbarin sagt mir ins Gesicht, dass sie das gut findet. Dabei waren wir immer gut befreundet und haben auch offen über Homosexualität gesprochen. Ich verstehe diese Zerrissenheit nicht. Trump kann uns zwar die Ehe wegnehmen, aber wir werden immer noch schwul und lesbisch sein und uns offen lieben. Wir LGBTQ-Menschen sind hart im Nehmen. Ich mache mir weitaus grössere Sorgen um die Kunstförderung und die freie Meinungsäusserung. Ich mache mir Sorgen um arme Leute, junge Leute, schwarze Leute und Muslime. Es ist schon manchmal absurd: Als Aktivistin kämpft man auch für Rechte von Menschen, die diese Rechte gar nicht wollen. Ich zum Beispiel bin davon überzeugt, dass jeder das Recht auf eine Krankenversicherung haben sollte. Aber die ganzen Trump-Wähler finden dieses Recht absolut unnötig. Werde ich deswegen aufhören zu kämpfen? Nein. Ich kämpfe sogar für Menschen, die der Meinung sind, dass eine fette Lesbe wie ich nicht einmal das Recht hat, überhaupt zu leben.

  • Release «Fake Sugar»: 16. Juni 2017 (Sony), am 1. Oktober spielt Beth Ditto im Volkshaus Zürich, Tickets gibts auf starticket.ch