Eine Begegnung mit dem russischen Opern-Star Evgeny Nikitin
- Text: Frank Heer, Fotos: Tom Haller
Nie mehr wollte der russische Bassbariton Evgeny Nikitin Interviews geben. Bis ihn annabelle in St. Petersburg besuchte – und erneut das Hakenkreuz-Tattoo ansprach, für das ihn Bayreuth vom Opernolymp verbannt hatte.
Evgeny Nikitin ächzt. Lässt seinen schweren Körper ins Kanapee fallen. Legt die Stirn in Falten. Vergräbt den Kopf in den Händen. Das Spinnennetz auf seinem linken Handrücken ist in dicken Linien in die Haut tätowiert. Der Opernsänger sagt von sich selbst: «Im Grossen und Ganzen bin ich ein finsterer Mensch.» Im Salon der elterlichen Wohnung im Zentrum von St. Petersburg bleiben die Vorhänge zugezogen, aus dem Halbdunkel schält sich ein hoher Raum mit rubinroten Tapeten. Polstergruppe, Kaffeetisch, Bücherregal, in der Ecke ein Klavier. Byzantinische Ikonen und Familienfotos hinter den Scheiben einer Wohnwand. Vor drei Jahren starb erst der Vater, dann die Mutter. Seither hat sich in der Wohnung kaum etwas verändert. Sie ist seine Höhle, hier leckt er Wunden, hier verschanzt er sich nach langen Tourneen. Ende März ist er am Opernhaus Zürich im «Parsifal» zu sehen. Die Jungsozialisten haben Proteste angekündigt; Faschismus sei keine Meinung, heisst es im offenen Brief ans Opernhaus, sondern ein Verbrechen.
Evgeny Igorevich Nikitin. Seit vergangenem Sommer ist der 39-jährige Bassbariton, der früher Schlagzeug in rasend schnellen Metalbands spielte, auch Leuten ein Begriff, die sich nichts aus Oper machen. Sein Rauswurf aus dem wagnerschen Olymp, den Bayreuther Festspielen, nur Tage vor der Premiere des «Fliegenden Holländers», sorgte weltweit für Schlagzeilen. Dabei hatte alles so schön angefangen. Evgeny Nikitin wäre der erste Russe in einer Hauptrolle im Bayreuther Opern-Showdown gewesen. Und mit seinen grimmigen Tattoos hätte er einen imposanten «Holländer» abgegeben – jenen unheilvollen Kapitän eines Geisterschiffs, der bis zum Jüngsten Tag verdammt ist, die Meere zu durchkreuzen. Doch ein Videoclip von 2008, in dem Nikitin mit barem Oberkörper und rasiertem Schädel auf sein Schlagzeug drischt, enthüllte ein Detail, von dem seine Fans lieber nichts gewusst hätten: die Fragmente eines Hakenkreuzes über der rechten Brust. Das war kein Rock ’n’ Roll mehr, sondern Finsternis.
«Haben die Leute erst mal einen Stempel aufgedrückt, wird man ihn nicht mehr los»
Dann ging alles sehr schnell: Die Festspielleitung entsorgte eine ihrer spannendsten Stimmen, Evgeny Nikitin entschuldigte sich für die Jugendsünde, die er sich mit 16 Jahren habe stechen lassen, dann rauschte er ab, und ein Sturm fegte durch die Presse. «Versagt hat nicht der russische Sänger, versagt haben, wieder einmal, die Festspiele», schrieb die FAZ. Die «Berliner Zeitung» fragte sich, «ob man dort Nikitins Tattoo für eine Ringelblume gehalten hat?» Zyniker rätselten, seit wann man in Bayreuth allergisch auf Swastikas reagiere, und der Chef der Bayerischen Staatsoper monierte: «Dass die Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet von der Wagner-Familie geahndet wird, finde ich verlogen.» Man zeige mit dem Finger auf andere, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem habe.
Das erste Interview nach dem Skandal
Kurz nach seinem Rücktritt stritt Evgeny Nikitin alles ab. Das Kreuz soll keines mit Haken gewesen sein, erzählte er Reportern, die seinen bebilderten Körper wie Insektenforscher unter die Lupe nahmen, sondern die erste Etappe zu einem Stern mit Wappen. Eine «Schutzbehauptung», hielt ihm der «Spiegel» vor, worauf der Sänger schwor: «Dies ist mein letztes Interview.» Evgeny Nikitin sollte sich nicht daran halten. Im Dezember willigte er ein, uns in St. Petersburg zu treffen.
ANNABELLE: Evgeny Nikitin, wie geht es Ihnen?
EVGENY NIKITIN: Müde. Ich bin froh, jetzt ein paar Tage freizuhaben. Ich muss mich entspannen, gesünder leben, Gewichte stemmen.
Können Sie uns aus Ihrer Sicht schildern, was in Bayreuth geschah?
Vor fünf Jahren hatte mich ein russisches Fernsehteam im Proberaum besucht und mich dabei gefilmt, wie ich mit freiem Oberkörper Schlagzeug spielte. Der Beitrag war überall zu sehen, auch im Internet. Zu dieser Zeit hatte ich ein unfertiges Tattoo auf meiner Brust, in dem man die Umrisse einer Swastika erkennen konnte. Während der Proben in Bayreuth strahlte das ZDF ein Porträt über mich aus, darunter Ausschnitte aus dem russischen Beitrag. Kurz darauf bat mich die Festivalleitung zurückzutreten. Es fühlte sich an wie eine Explosion.
Bayreuth kann es sich nicht leisten, Sänger zu engagieren, die eventuell ein Hakenkreuz tätowiert haben.
Das Video, das alles ausgelöst hat, war seit Jahren bekannt. Wer auf Youtube meinen Namen eingibt, kann als Erstes diesen Clip sehen. Trotzdem wurde ich von der Festivalleitung eingeladen. Es war nicht richtig, unsere Zusammenarbeit nach Wochen intensiver Proben auf diese Weise zu beenden.
Die Spekulationen um Ihre Vergangenheit sind noch nicht verklungen. Warum verteidigen Sie sich nicht entschiedener?
Ich bin weder schizophren, noch leide ich an irgendwelchen Phobien, auch nicht an Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit. Aber haben einem die Leute erst einen Stempel aufgedrückt, wird man ihn nicht mehr los.
Hat der Skandal Ihrer Karriere geschadet?
Das wird sich zeigen. Meine Karriere war nie kometenhaft. Ich hatte es nie eilig, nach oben zu kommen. Doch persönlich hat mich die Geschichte mitgenommen. Ich leide noch immer unter Depressionen, wälze dunkle Gedanken und trinke fast täglich.
Sie sagen, das Tattoo war kein Hakenkreuz. Warum haben Sie sich dafür entschuldigt?
Weil man mich in Bayreuth darum gebeten hatte. Ich wollte nur noch weg und tat ihnen den Gefallen.
Sie sind ein Aussenseiter in der Opernwelt …
Überhaupt nicht. Mir ist klar, dass die Oper eine konservative Welt ist. Doch nur weil ich Schlagzeug spiele, heisst das nicht, dass ich mich als Aussenseiter fühle.
Trotzdem haben Sie für einen Opernsänger ziemlich viele Tätowierungen.
Als junger Mann war ich verrückt nach Tattoos. Wenn ich sie morgen entfernen könnte, würde ich es tun. Sie bedeuten mir nichts mehr. Einige bereue ich. Die meisten entstanden in meiner Teenagerzeit.
Locken Sie damit eigentlich Menschen ins Theater, die sonst nichts mit Oper anfangen können?
Ich habe nie versucht, jemanden in die Oper zu locken. Darauf müssen die Leute schon selbst kommen. Ich war bereits über dreissig, als ich mich ernsthaft für Klassik und Oper zu interessieren begann. Als ich jünger war, konnte ich damit nichts anfangen. Ich hörte lieber Black Sabbath und stritt mich mit meinem Vater, einem Chordirigenten, der mir Verdi und Tschaikowsky vorspielte. Ich fand diese Musik grauenhaft. Sie langweilte mich zu Tode. Das war, als hätte man mich mit sechzehn gezwungen, Tolstoi zu lesen. Das kapiert man einfach noch nicht.
Ein Musiker voller Kontraste
Wer Evgeny Nikitin verstehen will, muss seine Widersprüche akzeptieren. Dazu gehören auch renitente Lebensrollen, vom langhaarigen Grungerocker bis hin zum kahlgeschorenen Schwerblüter. Sein Gemüt beschreibt er als schwankend. Er macht sich für die Punk-Aktivistinnen von Pussy Riot stark, die für ihre Putin-kritischen Proteste noch immer in sibirischen Gefängnissen sitzen («benutzt und weggeschmissen wie Toilettenpapier»), gleichzeitig wittert er hinter dem Aufschrei, der darob durch die Presse ging, die Absicht, Russland zu spalten. Noch vor einem Jahr zeigte er seine Tätowierungen Grimassen schneidend jedem Fotografen, der sie sehen wollte, heute hält er sich bedeckt.
Auch wenn Evgeny Nikitin das Gegenteil beteuert: Das einschlägige Video legt nahe, dass da tatsächlich einmal ein Hakenkreuz war, bevor es unter einem wuchtigen Wappen verschwand. Trotzdem wäre es abwegig, den Mann in die braune Ecke zu stellen. Die Moskauer Musikredaktorin Anastassia Boutsko, die Nikitin mehrmals interviewte, sagt: «Niemals war er ein Neonazi. Ein tätowiertes Hakenkreuz in Russland um 1990 ist etwas anderes als in Deutschland im Jahr 2012.» Tatsächlich waren Nazi-Symbole in der Punk- und Subkultur garantierte Mittel zur Provokation, nicht nur in Russland. Vermutlich hätte sich der einstige Death-Metal-Fan Nikitin den grösseren Gefallen getan, an der Version der Jugendsünde festzuhalten: Die Reaktionen der meisten Medien hatten jedenfalls Bereitschaft angedeutet, die Sache als solche durchzuwinken. Bis heute konnte dem Sänger keine antisemitische Vergangenheit oder faschistische Rhetorik nachgewiesen werden. Wer ist dieser Mann, der zu den besten Stimmen seines Fachs gehört und seinen Ruf wie ein Rockstar torpediert?
Man liest, Sie waren kein unproblematischer Teenager.
Als ich mit 18 Jahren nach St. Petersburg zog, um Gesang zu studieren, bewegte ich mich ausserhalb des Radars meiner Eltern. Ich begann, meine Freiheit zu nutzen.
Die «St. Petersburg Times» unterstellte Ihnen ein Heroinproblem während des Studiums.
Hätte ich ein Heroinproblem gehabt, würde ich heute nicht mit Ihnen sprechen. Ich wäre tot. Wir nahmen Drogen, aber andere.
Zum Beispiel?
Cannabis, LSD, Alkohol. Wir waren jung, wer sich nicht für Fussball und Tennis interessierte, nahm eben Drogen, wie viele Künstlertypen. Ich war keine Ausnahme. Ich liess mich treiben, studierte Musik und hatte keinen Schimmer, was ich danach tun würde. Ich träumte nicht davon, eine Operndiva zu werden.
Wer hatte Sie damals in die Rockmusik eingeweiht?
Mein Bruder. Er war neun Jahre älter als ich, er hatte lange Haare und einen enormen Einfluss auf mich. Mit vier Jahren kannte ich die Alben von Pink Floyd, Black Sabbath und Led Zeppelin auswendig. Ich rannte mit einem Stock durch die Wohnung und spielte Luftgitarre zu «Might Just Take Your Life» von Deep Purple. Mein Bruder war ein Rebell, der mich vor der Hirnwäsche des Sowjetsystems bewahrte. Er starb mit 32 Jahren an Blutkrebs. Sein Tod war ein Schock für mich.
Haben Sie selbst Familie?
Ja, ich habe einen 18-jährigen Sohn. Ich spreche darüber nicht mit der Presse. Es ist schwer, eine Familie zu haben, wenn man ständig unterwegs ist.
Evgeny Nikitin wurde 1973 in Murmansk geboren, einer nördlich des Polarkreises gelegenen Hafenstadt, in der sich die Sonne ein halbes Jahr nicht blicken lässt. Auf der rechten Hand prangt das Symbol des russischen Nordens: die Lettern CEBEP über der aufgehenden Sonne, dem Meer, den Möwen. Das Motiv steht für Freiheit. Häftlinge, Matrosen und Dissidenten lassen es sich tätowieren. Und Evgeny Nikitin.
Vom verschlossenen Jungen zum Rockstar der Oper
Vor ein paar Jahren verfasste er für das russische Lifestylemagazin «Sobaka» ein Selbstporträt. «Ich versuche, so beschäftigt wie möglich zu sein», schreibt er darin, «ansonsten würde ich nach der Flasche greifen.» Und er begründet sein Hobby, mit Axt und Schwert an nachgestellten mittelalterlichen Schlachten teilzunehmen: «Wir haben vergessen, woher wir kommen. Dass wir Männer waren und keine Memmen. Heute bechern wir lieber Bier und schnupfen Speed.»
Seine Schwäche für einsame, ritterliche Helden drückt sich in den Songtexten aus, die Evgeny Nikitin in den vergangenen Jahren geschrieben hatte. Die «Süddeutsche Zeitung» übersetzte einige Passagen, sie hören sich an wie der finale Akt einer apokalyptischen Rockoper. «Verzeih mir, mein Leben», singt Nikitin mit grollendem Bass, «ich verbrenne die Brücken hinter mir und gehe für immer hinter den Horizont meines Traums.»
Können Sie uns etwas über Ihre Jugend in Murmansk erzählen?
Ich war ein verschlossener, rothaariger Bub und Mitglied der Jungsozialisten. Wir lebten in einer winzigen Zweizimmerwohnung. Meine Eltern waren beide Lehrer an der lokalen Musikschule. Sie glaubten an den Staat, den Kommunismus, Lenin und ehrliche Arbeit. Ich hatte diese Werte damals nie hinterfragt. Heute kommt man damit nirgends mehr hin, erst recht nicht in Russland. Hier regiert das Geld.
Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an die Sowjetzeit denken?
Es gab Schlangen für alles, vor allem für Toilettenpapier. Wenn es in einem Laden welches gab, dann war es weg, bevor man wusste, dass es da war. Rock- und Popmusik war verboten. Schallplatten konnte man nur auf dem Schwarzmarkt kaufen. Von Matrosen, unten am Hafen.
So kamen Sie zu Ihren Platten?
Nein, mein Bruder und ich hörten alles auf Kassette. Die zwanzigste Kopie von der Kopie. Wer Schallplatten besass, war Gott. Man pilgerte zum stolzen Besitzer und scharte sich um den Plattenspieler. Ich hasse es, wenn ältere Generationen die alten Zeiten beschwören, gleichzeitig ertrage ich es nicht, wenn andere so tun, als seien sie echte Demokraten oder gute Christen, während sie früher glühende Kommunisten waren. Meine ganze Verwandtschaft gehört heute der orthodoxen Kirche an. Nur ich nicht.
Warum?
Religion ist Theater. Sie hat die Menschen nicht besser gemacht. Ich glaube an etwas, das über allem steht, aber nicht an einen bärtigen Mann auf einer Wolke, der mein Leben bestimmt. Ich glaube an Selbstverantwortung.
Was für Musik hören Sie zurzeit?
Orgelmusik von Bach, Buxtehude, Samuel Scheidt, Nicolaus Bruhns.
Gar nichts Zeitgenössisches?
Meiner Meinung nach endete die klassische Musik mit Schostakowitsch. Die Oper mit Strauss und Prokofjew.
Wieso haben es zeitgenössische Komponisten so schwer, Akzeptanz zu finden, während Architekten oder Künstler Superstars werden?
Es gibt interessante zeitgenössische Komponisten, aber Kunst und Architektur haben das grössere Potenzial für Entwicklung. In der Klassik ist alles gesagt worden. Wir können die Tonleiter nicht neu erfinden.
Das heisst, auch die Oper, von der Sie leben, ist ein Fall fürs Museum?
Vielleicht. Wir proben dieselben Titel immer und immer wieder. Die Regisseure wissen schon gar nicht mehr, was sie der Musik hinzufügen sollen. Sie bohren im selben Loch. Dreissig Jahre «Eugen Onegin» in Jeans sind genug. Die Oper braucht eine Renaissance.
Nachdem Evgeny Nikitin die Musikschule von Murmansk mit dem Diplom des Chordirigenten abgeschlossen hatte, schickte ihn sein Vater zum Vorsingen ans Konservatorium in St. Petersburg. Zehn von dreihundert Bewerbern schafften es in die staatlich finanzierte Gesangsklasse, darunter Nikitin. 1998 bot ihm Valery Gergiev, der Intendant des berühmten Mariinsky-Theaters, die Rolle des Ruslan in Glinkas «Ruslan und Ludmila» an. Es sei ein unvorstellbarer Kraftakt gewesen, erinnert sich Nikitin. «150 Kilo Gewichte zu stemmen, war nichts im Vergleich dazu.»
Eine Schattengestalt im Rampenlicht
Gergiev war zufrieden mit seinem Schützling, nahm ihn mit auf Welttournee und verschaffte ihm einen Job im Ensemble. Rollendebüts in Paris, München, Valencia, Leipzig, Berlin. Und plötzlich stand er auf der Bühne der Metropolitan Opera in New York. Er war 29 und spielte noch immer in dröhnenden Rockbands. Daneben komponierte er auf einem alten Synthesizer dunkle Klanggemälde. Im Dokfilm «Sacred Stage» über das Mariinsky-Theater von 2005 gibt er ein Interview: mit schulterlanger Mähne, Holzfällerhemd, Ketten überm Brusthaar, lässig rauchend, wirklich sympathisch, aber mehr der Typ, der vor dem Opernhaus die Edelkarossen zerkratzt, als für die Leute zu singen, die ihnen entsteigen. Sein Repertoire umfasst heute über dreissig Rollen, 2013 ist so gut wie ausgebucht. Geblieben ist die künstlerische Zerrissenheit, die Nikitins Karriere vom Proberaum in Murmansk bis zum Eklat in Bayreuth durchbricht. Sie macht ihn interessanter als andere Klassikstars mit ihren Hochglanz-Biographien – und verfolgt ihn wie ein Fluch: auf ewig verdammt, die Schattengestalt zu sein, die er im «Holländer» so glänzend verkörpert.
Evgeny Nikitin erhebt sich. Ein Hüne von fast 190 Zentimetern. Die Trinkerei der letzten Monate hat ihm zugesetzt, der Bauch spannt sein Hemd auch im Stehen. Er führt uns durch den Korridor in ein anderes Zimmer. Dunkelgrüne Tapete, an der Wand ein Konzertposter von Kiss. Er öffnet den Vorhang zum Fenster, der St. Petersburger Himmel leuchtet lila. In der Ecke des Raums steht sein «Baby», sein Schlagzeug, der Gral seiner Jugend. Evgeny Nikitin streift eines der Becken. Seit zwei Jahren, sagt er, habe er es nicht mehr angerührt. Ein flüchtiges Lächeln huscht über seinen Mund, das erste und letzte an diesem Nachmittag.
Wann haben Sie angefangen, Schlagzeug zu spielen?
Mit 14. Ich hatte eine Band, wir spielten wildes Zeugs. Es war, als würde man eine Leinwand mit Farbe bepinseln, ohne zu wissen, was man malen wollte. Wir hatten kein kommerzielles Interesse, es zählte der kreative Prozess. Später, in St. Petersburg, mochte ich schnellen, technischen Metal, Bands wie Slayer und Pantera.
Hören Sie das heute noch?
Nein. Ich mag die Stille. Ich kann Musik in der Erinnerung abrufen. Ich brauche dafür keine CDs. Ich muss auf mein Gehör achtgeben. Deshalb spiele ich nicht mehr Schlagzeug. Es macht mein Trommelfell kaputt.
Glauben Sie, Sie hätten es auch als Rockmusiker schaffen können?
Wer weiss … Früher hätte ich mir eine Karriere in einer guten Band vorstellen können. Ich glaube, ich war ein ziemlich guter Drummer. Doch ich bereue nichts. Die Oper ist mein Stück Brot. Meine Bestimmung.
Wie würden Sie Ihre Stimme beschreiben?
Ich mag sie nicht besonders. Ich habe eine gute Technik, eine gute Artikulation, musikalisches Gespür. Doch ich würde mich nie mit den wirklich grossen Namen vergleichen. Mit Sängern wie Matti Salminen, dessen Stimme wie von allein klingt, sobald er den Mund öffnet. Solche Künstler gibt es heute kaum mehr.
Existieren deshalb nur wenige Tonaufnahmen von Ihnen? Weil Sie sich nicht gerne singen hören?
Ich lege keinen Wert darauf. Ich bin es gewohnt, meine Stimme von innen heraus zu hören. Auf der Bühne, am Konzert. Und wenn man sie dann plötzlich auf CD hört, ist das befremdend und erschreckend. Vor allem wenn man realisiert, dass man nur halb so gut ist, wie man immer dachte.
Einen Tag nach unserem Interview bittet mich Evgeny Nikitin in einem Mail, die Passagen zu Bayreuth so neutral wie möglich zu redigieren. Keine Kraftausdrücke, keine Namen, keine Vorwürfe. Er wolle die Geschichte nicht noch einmal hochkochen lassen. Ein paar Wochen später: Ich maile ihm zusätzliche Fragen. Ich möchte wissen, ob es etwas gebe, das ihn, mit Blick auf das Weltgeschehen, beunruhige. Nikitin antwortet prompt und ausschweifend und zeichnet ein düsteres Szenario voller Krieg, Korruption, Geldgier, Religion und Terror. Tags darauf finde ich seinen Nachtrag in meiner Mailbox: «Hatte einfach drauflosgeschrieben … War in meiner Datscha und hatte Wodka getrunken… Machen Sie damit, was Sie wollen … Habe die Ehre, Evgeny.»
Gewinnen Sie Tickets für das Opernhaus Zürich
Richard Wagners Oper «Parsifal» ist in der Interpretation von Regisseur Claus Guth im Zürcher Opernhaus zu sehen. Für die Vorstellung vom 28. März 2013 verlosen wir 3x 2 Tickets.
1.
«Ich muss auf mein Gehör achtgeben», sagt Evgeny Nikitin, «deshalb spiele ich nicht mehr Schlagzeug».
2.
Kein Kind von Fröhlichkeit: Nach dem Rauswurf aus Bayreuth wälze er «dunkle Gedanken», sagt der Sänger.
3.
Tätowierung aus rebellischer Teenager-Zeit:
Das Spinnennetz auf der linken Hand.
4.
Evgeny Nikitin als Geisterschiff-Kapitän in «Der fliegende Holländer» (1), (2) und als Amfortas in Richard Wagners «Parsifal» (3)