Extremer Frauenhass soll als Extremismus eingestuft werden: Ist das sinnvoll?
Die britische Regierung will Frauenhass künftig ähnlich behandeln wie Rechtsextremismus und Islamismus. Brigitte Tag, Rechtsprofessorin an der Universität Zürich, findet das als politisches Zeichen richtig – ortet aber auch ein paar Probleme.
annabelle: In Grossbritannien wird eine neue Strategie entwickelt, die Extremismus bekämpfen soll. Im Rahmen dieser soll extreme Frauenfeindlichkeit gleich eingestuft werden wie etwa islamistischer oder rechter Extremismus. Was halten Sie davon?
Brigitte Tag: Frauenhass ist ein grosses und komplexes Feld. Er lässt sich nicht mit einem Verbot oder Gesetz aus der Welt schaffen. Vielleicht wollte man mit dieser Ankündigung auch ein politisches Zeichen setzen – eine Ansage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Das ist natürlich richtig. Aber wie das alles konkret aussehen soll, muss sich erst zeigen.
Personen sollen etwa neu verpflichtet werden können, mutmassliche Frauenhasser beim staatlichen Terrorpräventionsprogramm «Prevent» zu melden. Eine gute Idee?
Programme zur Prävention von Extremismus sind an sich sehr sinnvoll – aber nur dann, wenn Personen aus eigenem Antrieb teilnehmen. Werden sie gezwungen, bringt das oft wenig. Denn es braucht die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu reflektieren und zu ändern, Wertvorstellungen zu hinterfragen, sich Ängsten und der eigenen Wut zu stellen. Zwang als Ausgangslage sehe ich kritisch. Ebenso eine Meldepflicht.
Warum?
Das ist eine Art allgemeiner Überwachungsmechanismus. Es kann aber gute Gründe geben, jemandem helfen zu wollen, ohne dass man ihn gleich bei einer staatlichen Stelle meldet. Eine Meldung kann ein Vertrauensverhältnis erschüttern. Weiter stellt sich die Frage: Was geschieht, wenn ich jemanden nicht melde, werde ich dann zum Mittäter, zur Mittäterin? Und was passiert mit Falschmeldungen? Man muss auch die Opfer im Blick behalten.
Was meinen Sie damit?
Die ungefragte Meldung eines Vorfalls kann ein Opfer einerseits gefährden, andererseits retraumatisieren. Vor diesem Hintergrund kann ich nicht begrüssen, dass potenziell extrem misogyne Männer pauschal gemeldet werden müssen. Aber es ist sicher gut, wenn man weiss, wohin man sich bei einem Vorfall wenden kann.
«Benennt man Gewalt gegen Frauen und Mädchen als gewalttätigen Extremismus, kann das allenfalls dazu führen, dass sich gewisse Männer erst recht auf einer Mission sehen»
Der Bericht «Sicherheit Schweiz» des Nachrichtendienstes des Bundes von 2023 beleuchtet gewalttätigen Extremismus von links, rechts oder Coronaleugnern. Von extremistischem Frauenhass ist keine Rede. Sollte sich das ändern?
Schwierige Frage. Ich sehe zwei Probleme. Erstens: Wie gewalttätiger Extremismus genau definiert wird, ist nicht immer klar. Natürlich gibt es Eckpunkte. Aber oft wird der Begriff als Schlagwort genutzt, unter dem alle etwas anderes verstehen. Ich würde das Ganze also nicht an einem Begriff festmachen. Stattdessen sollten wir uns fragen: Warum haben wir ein Problem, wie können wir dagegen vorgehen? Zweitens: Benennt man Gewalt gegen Frauen und Mädchen als gewalttätigen Extremismus, kann das allenfalls dazu führen, dass sich gewisse Männer erst recht auf einer Mission sehen, denn Extremismus ist oft konnotiert mit einem Missionsgedanken.
Die Gleichsetzung von extremem Frauenhass mit anderen Extremismusausprägungen mag für manche drastisch klingen. Aber liegt nicht genau da das Problem – dass Gewalt gegen Frauen und misogyne Weltbilder tendenziell verharmlost werden, auch in der Schweiz?
Was ich beobachte bei Institutionen, in der Politik, bei der Polizei und bei Gesundheitsfachpersonen im Kanton Zürich, aber auch in anderen Kantonen: Der Schutz vor Gewalt gegen Frauen steht weit oben auf der Agenda. Ich nehme nicht wahr, dass das Problem verharmlost wird, auch schweizweit nicht. Es gibt gut funktionierende Opferberatungsstellen, spezialisierte Polizistinnen und Polizisten, Anwältinnen und Anwälte. Die Forensic nurses, also speziell ausgebildete Gesundheitsfachpersonen, die unter anderem bei Betroffenen sexualisierter Gewalt Spuren sichern, ohne dass das Opfer zugleich die Polizei involvieren muss, etablieren sich in etlichen Kantonen. Es werden immer mehr Programme für die Prävention sexualisierter Gewalt durchgeführt. Die Schweiz macht insgesamt sehr viel. Dennoch: Nicht alle Verfahren laufen optimal, nicht immer erhalten Betroffene die Unterstützung, die sie brauchen. Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass der Schutz verbessert werden muss. Gerade auch, was die Thematik der Influencer angeht.
«Einige Männer sind verunsichert im Umgang mit anderen Geschlechtern. Je grösser die Verunsicherung, desto stärker kann die Angst- oder Abwehrreaktion ausfallen»
Sie sprechen von frauenfeindlichen Influencern, die junge Männer übers Internet radikalisieren. In Grossbritannien etwa wird seit einiger Zeit explizit vor solchen gewarnt. Die britische Regierung bezeichnet sogenannte «Incels» – also Männer, die sich als «Involuntary Celibate» bezeichnen und glauben, dass sie aufgrund genetischer Faktoren, evolutionär vorgegebener Prozesse der Partnerwahl sowie gesellschaftlicher Strukturen keinen Zugang zu Sex haben – bereits heute als «besorgniserregende» extremistische Strömung. Für wie gefährlich halten Sie dieses Phänomen?
Wie viele Männer sich allgemein oder in der Schweiz von solchen Influencern angesprochen fühlen, kann ich schwer sagen. Was wir wissen aus Studien: Einige Männer sind verunsichert im Umgang mit anderen Geschlechtern. Je grösser die Verunsicherung, desto stärker kann die Angst- oder Abwehrreaktion ausfallen. Dies, aber auch Ärger, Wut und Misserfolg können dazu führen, dass man an traditionellen Rollenbildern festhält, die so vielleicht gar nie existiert haben. Einigen Influencern bescheren entsprechende Inhalte eine grosse Followerschaft. Aber wie reagieren die Follower? Hören sie sich das Ganze an und lassen es gut sein, radikalisieren sie sich tatsächlich und gehen sie tätlich gegen Frauen und Menschen mit anderen Geschlechtsidentitäten vor? Das ist ein grosses Thema und eines, das man vor allem in der Prävention angehen muss. Man kann und darf nicht warten, bis etwas passiert.
Wie kann die Prävention aussehen?
Man muss verstehen, wie es zu solchen Posts kommt und wie man die darin propagierten Bilder entzaubern kann. Es wird eine bestimmte «glanzvolle Männlichkeit» dargestellt, die nichts mit der Männlichkeitsvorstellung der Mehrheit der Menschen zu tun hat. Hier wird ein Mythos hochstilisiert. Darüber muss man Klartext sprechen. Was bedeuten diese Bilder und Haltungen eigentlich? Zu was führt Gewalt bei betroffenen Frauen, Tätern, nahestehenden Personen?
Wen sehen Sie in der Verantwortung, solche gefährlichen Vorstellungen über Männlichkeit zu demontieren?
Ausbildungsstätten, Universitäten, Arbeitgebende, Vereine – alle möglichen Stellen. Diese können etwa Gegen-Kampagnen lancieren. Idealerweise zusammen mit Betroffenen, mit Opfern, aber auch mit Tätern, die im Nachhinein erkennen und bereuen, was sie getan haben. Sie können ihren Kollegen sagen: «Passt auf, ihr rutscht da in was rein, das ihr gar nicht wollt.» Sie können junge Männer direkt fragen: «Wollt ihr wirklich andere Personen etwa aufgrund des Geschlechts oder der Geschlechtsidentität misshandeln und demütigen, damit ihr euch für einen Moment besser fühlt? Und was kommt dann?» Wichtig ist, dass die Massnahmen massgeschneidert sind. Man muss wissen, wer wen wo erreicht. So könnte man etwa über Provider reagieren und gezielt bestimmte Internetinhalte einschränken.
Ist das nicht auch problematisch?
Ich bin selbstverständlich für Meinungsäusserungsfreiheit. Aber nicht, wenn schwere Straftaten propagiert werden.
Die «Commission on Countering Extremisms» der britischen Regierung hat eine grosse Studie über Incels in Auftrag gegeben, die besagt: Viele junge Männer, die starken Hass gegen Frauen zeigen, haben Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit. Das würde also auch für psychologische Hilfe als eine Art Prävention sprechen.
Genau. Insgesamt haben wir eine psychisch sehr belastete Jugend, aber auch Gesellschaft insgesamt. Dies gilt auch für die Schweiz. Dazu gibt es viele Studien. Hier kommen wohl viele Faktoren zusammen: die Covid-Situation, technologische Veränderungen, die kriegerische Lage in Teilen der Welt. All das kann verunsichern. Viele fühlen sich auch einsam und unverstanden. Und vielleicht gibt mir dann eine Bubble auf Social Media die Antworten, die ich hören möchte. Das ist sehr heikel.
Was, wenn alle präventiven Massnahmen nicht greifen? Sie meinten vorhin, dass diese ja nur freiwillig eingegangen werden können und man niemanden zwingen sollte. Soll man potenzielle misogyne Gewalttäter also einfach gewähren lassen, weil sie keine Lust auf ein Programm gegen Frauenhass haben?
Das Thema, das Sie hier ansprechen, ist ganz schwierig. Wir können eine Grundrechtsabwägung machen. Auf der einen Seite steht in der Schweiz das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Auf der anderen das Grundrecht auf Privatleben und auf persönliche Freiheit. Diese Grundrechte können im Einzelfall kollidieren. Der Staat kann in diese Grundrechte eingreifen, nach Artikel 36 der Bundesverfassung. Dabei ist unter anderem wichtig, dass der Eingriff verhältnismässig ist.
Können Sie ein konkreteres Beispiel nennen?
Es gibt Möglichkeiten, Leute dazu zu bringen, sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Schauen wir uns den Strafvollzug an. Dort gibt es neben der Freiheitsstrafe auch die Möglichkeit therapeutischer Massnahmen. Verweigert ein Täter etwa eine Gesprächstherapie, kann das bedeuten, dass er seine Strafe voll absitzen muss. Aber Zwang kann auch hier zu einer Gegenreaktion führen. Also muss man solche oder ähnliche Massnahmen abwägen. Wenn man jetzt also sagt: Wir etablieren einen Kurs gegen Misogynie, an dem alle jungen Männer teilnehmen müssen, ist das zu weitgehend. Es würde zudem alle jungen Männer unter den Generalverdacht stellen, misogyn zu sein oder eine entsprechende Neigung zu haben.
Aber der Gedanke dahinter wäre nicht so schlecht …
Es wäre gut gemeint und zum Schutz vieler. Aber wäre es auch der richtige Weg? Das bezweifle ich. Ich würde eher auf Schulen setzen. Am Unterricht nehmen alle Kinder teil, eine Fachperson kann sich altersgerecht mit den Kindern und den entsprechenden Themen beschäftigen, als einem selbstverständlichen Teil der Bildung.
Wo sehen Sie in der Schweiz den grössten Handlungsbedarf gegen Frauenhass?
Das Wichtigste ist der Respekt vor und die Wertschätzung gegenüber der anderen Person. Das fängt früh an – in der Familie, im Freundeskreis, im Kindergarten. Wie bereits gesagt, ich würde viel mehr auf die Schulen setzen. Es gibt viele Möglichkeiten, darüber zu sprechen, wie man miteinander umgehen möchte. In der Strafverteidigung heisst es oft: Der Mandant hatte eine schwere Jugend. Oft stimmt das. Gleichzeitig finde ich es wichtig, zu betonen: Sehr oft können wir zwischen verschiedenen Optionen, wie wir uns verhalten, wählen. Man sollte Menschen darin bestärken, eine gute Wahl zu treffen. Ziel ist es, dass man sagen kann: «Ich bin nicht jemand, der Gewalt gegen andere anwendet, um meine Vorstellungen oder einen Machtanspruch durchzusetzen. Das steht mir nicht zu.» Alle Menschen haben dieselben Grundrechte, Kraft der Bundesverfassung. Das zu vermitteln, gerade in der Schule, ist essenziell. Aber wir müssen diese Auseinandersetzung auch in der Gesellschaft als Ganzes führen.
Brigitte Tag ist seit 2002 ordentliche Professorin für Straf-, Strafprozess- und Medizinrecht an der Universität Zürich (UZH). Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Straf- und Strafverfahrensrecht, Medizinethik, Umgang mit dem menschlichen Körper, Gleichstellung, Diversität, Umgang mit sexuellen Belästigungen. Von 2008 bis 2015 war sie an der UZH Präsidentin der Gleichstellungskommission.
Aktuell präsidiert sie die Kommission «Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung» der UZH und ist im Einsatz als Untersuchende Person bei Verdacht auf sexuelle Belästigung an der UZH. Brigitte Tag nimmt regelmässig an interdisziplinären Fachtagungen zur Prävention sexualisierter Gewalt teil.