Erzählt eine Frau von ihrer Begegnung mit einem Exhibitionisten, hat sie die Lacher garantiert auf ihrer Seite. Doch zurück bleibt ein mulmiges Gefühl und die Frage: Welche Männer machen eigentlich so was?
Mit dem Velo war ich in Zürich zu einer Party unterwegs und hatte mich verfahren. In einer ruhigen Seitenstrasse hielt ich an. Es war dunkel und kalt, hinter mir stand ein Wohnmobil, dahinter ein Mann, die Kapuze über dem Kopf, und musterte mich. «Entschuldigung, wo geht es hier zur Hardbrücke?», fragte ich ihn. Etwas zu lang nestelte er an sich herum und kam dann sichtlich irritiert zu mir. Erst später begriff ich, wobei ich ihn gerade gestört hatte.
Er war Anfang vierzig und sah ein bisschen aus wie Daniel Craig – sympathisch eigentlich. Unwohl zu fühlen begann ich mich erst, als er anfing, mir sehr umständlich den Weg zu erklären. Gerade als ich beschloss wegzufahren, holte er sein inzwischen schlaffes Glied aus der Hose und fragte, ob ich keine Lust hätte. Ich trat in die Pedale und beschimpfte ihn. Erst nach ein paar Metern merkte ich, wie sehr mein Herz klopfte. Ich beeilte mich, in eine belebtere Gegend zu kommen.
Das alles war nicht lustig, trotzdem musste ich kurz darauf lachen. Vielleicht, weil ich mir blöd vorkam, dass ich nicht schon begriffen hatte, als er sich beim Wohnmobil einen runterholte. Vielleicht, weil Lachen befreit – warum hatte ich ihn auch ausgerechnet nach der Hardbrücke gefragt.
An der Party erzählte ich Freunden davon. «Ja, das ist mir auch schon passiert – beim Zugfahren», sagte Franziska und kicherte, obwohl auch sie das Erlebnis damals alles andere als witzig fand. Die Männer schwankten in ihrer Reaktion zwischen Mitgefühl und Belustigung. Sie hatten so etwas noch nie erlebt. Später in der Nacht fuhr ich mit einem mulmigen Gefühl nachhause. Ich kam mir schutzlos vor. Der Exhibitionist war mir so nahe gekommen, er hätte mich problemlos am Arm packen können. Die Distanz war so klein, ich hätte ihn anhand seines Penis identifizieren können. Ich hatte nicht daran gedacht, die Polizei zu rufen, sondern hatte aus der Geschichte einen Partygag gemacht. Jetzt im Dunkeln war der Witz weg – und die zitternden Knie zurück.
Nach Strafgesetzbuch ist Exhibitionismus zu den Sexualstraftaten zu rechnen. Wer vor anderen blankzieht, um sich zu befriedigen, handelt gegen die sexuelle Integrität. Die Kriminalstatistik weist für 2014 schweizweit 514 exhibitionistische Straftaten aus. Das ist mehr als eine pro Tag, aber doch weniger, als ich erwartet hatte. Die Zahlen sind seit Jahren ziemlich konstant.
In den folgenden Wochen startete ich eine Umfrage in meinem privaten Umfeld. Das Ergebnis stützt die Meinung von Experten, dass die Dunkelziffer bei derlei Übergriffen hoch ist. Zwei Drittel meiner Freundinnen und Bekannten reagierten wie Franziska: Ja, damals im Park/im Bus/im Zug/auf der Strasse/hinterm Baum. Und als gäbe es ein stilles Einverständnis, dass solche Begegnungen zum Leben einer Frau dazugehören, hatte keine von ihnen die Polizei gerufen. «Im Übrigen», so hörte ich immer wieder, seien das doch harmlose Typen, «arme Schweine, die man auslachen sollte».
Häufig haben Exhibitionisten ein geringes Selbstwertgefühl. Soziale und sexuelle Beziehungen überfordern sie
Mir bereitet das Unbehagen. Ich bin 34 Jahre alt, habe für gewöhnlich keine Angst im Dunkeln. Abgesehen davon blicke ich auf ein rund zwanzig Jahre währendes Sexualleben zurück und würde mich nicht als besonders verklemmt bezeichnen. Trotzdem fühle ich mich von Männern, die einfach mal so vor mir die Hose runterlassen, nicht einfach belästigt, sondern angegriffen. Bedroht. Bin ich etwa hysterisch?
«Natürlich wurde Ihnen keine sexuelle Gewalt angetan. Doch auch wenn so eine Begegnung nicht traumatisiert, ist sie eine Grenzüberschreitung. Man muss das nicht bagatellisieren», versichert mir Daniela Brühwiler. Seit 16 Jahren arbeitet sie bei der Frauenberatung sexuelle Gewalt in Zürich. Immer wieder trifft sie auf Frauen, die einem Exhibitionisten begegnet sind. Eine Frage stellen sich die meisten: Habe ich mich falsch verhalten?
Ich erinnere mich gut an die Schockstarre, die meiner Flucht vorausging. Mein impulsiver Ausruf «Du Arschloch!» war ein bisschen wenig, um mich auf Augenhöhe mit dem Täter zu fühlen. Er hatte mich zum sexuellen Objekt gemacht. Ich hatte keine Chance, mich dagegen zu entscheiden. Wäre mir wenigstens ein so souveräner Spruch eingefallen wie der Dame, von der mir Daniela Brühwiler erzählt. Die blieb ruhig sitzen, als ihr Gegenüber auspackte und zu onanieren begann. Sie sagte nur: «Zwickts? Ich würde es mal mit Waschen probieren.»
Meine Beschimpfung war weniger originell, ich schämte mich sogar, Daniela Brühwiler davon zu erzählen. Sie lobt mich trotzdem: «Das haben Sie super gemacht!»
Es ist gut, seiner Wut eine Richtung zu geben. Aber noch besser ist es, die Polizei zu rufen. Das tat ich, als ich zum ersten Mal einem Exhibitionisten begegnete. Ich war 18, Schülerin und jobbte nebenbei im Altersheim. Auf dem Weg zum Frühdienst trat ein Mann hinter einem Baum hervor, den Penis in der Hand, den seltsam schüchternen Blick auf mich gerichtet. Er hatte an diesem Tag schon ein paar Arbeitskolleginnen überrascht. Gemeinsam beschlossen wir, die Polizei zu rufen. Wir sahen dann vom Fenster aus, wie er sich davonstahl, und nahmen die Verfolgung auf: fünf Furien in weissen Kitteln. Erwischt hat ihn letztlich die Polizei. Später traf ich ihn wieder, auf dem Polizeiposten, um ihn zu identifizieren. Er war gerade einmal 18 Jahre alt. Und wie er da so vor mir sass und sich schämte, tat er mir fast ein wenig leid.
Exhibitionismus ist ein Antragsdelikt. Nur wenn ich als Opfer Anzeige erstatte, wird ein Strafverfahren eröffnet. Wird der Täter verurteilt, muss er eine Geldstrafe bezahlen. Begibt er sich in Therapie, kann das die Strafe mindern. Das Gericht kann Platzverweise aussprechen und dem Täter etwa verbieten, mit dem Bus zu fahren, wenn er sich dort entblösst hat. Waren Kinder betroffen, verjährt die Tat nicht, und dem Mann wird verboten, sich mit Minderjährigen abzugeben, beruflich oder auch in Jugend- oder Sportvereinen.
Exhibitionisten nehmen sich selber meist nicht als Täter wahr. Entsprechend wenige begeben sich freiwillig in Therapie. Sie anzuzeigen, kann deshalb ein Gewinn für Opfer wie Täter sein. Doch nur wenige Frauen tun dies. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Aus Scham, vielleicht. Oder weil sie sich die Konsequenzen einer Strafanzeige ersparen wollen. Oder weil sie aus dem Vorfall – wohl auch aus Selbstschutz – kein Drama machen wollen.
Ein weiterer Grund, warum nur ein Bruchteil der Täter je zur Rechenschaft gezogen wird, ist die niedrige Aufklärungsrate im Bereich exhibitionistischer Delikte. Sie lag 2014 bei unter fünfzig Prozent und damit mit Abstand am tiefsten von allen Straftaten gegen die sexuelle Integrität. Exhibitionisten sind unter den Sexualstraftätern denn auch die flüchtigsten. Sie bleiben anonym, meist auf Distanz, sind vom Opfer entsprechend schwer zu beschreiben. Zudem kommen auf einen Täter meist mehrere Opfer.
Den Männern, denen ich von meinen Begegnungen mit Exhibitionisten erzählte, fiel es schwer, die Situation ernsthaft nachzuvollziehen. Und die Vorstellung, vielleicht selber mal in eine ähnliche Situation zu geraten, rief eher erwartungsfrohes Kichern hervor denn Bestürzung. Kein Wunder, meint Daniela Brühwiler von der Zürcher Frauenberatungsstelle: «Wenn Sie ‹Exhibitionistin› bei Google eingeben, kommen Sie gleich auf Pornoseiten.» Entsprechende Männerfantasien muss man jedoch enttäuschen; im Schweizer Strafgesetzbuch werden zwar Männer und Frauen als mögliche Täter angeführt. Die Verzeigten jedoch sind fast ausschliesslich Männer. 2014 waren von 514 Exhibitionisten gerade mal drei weiblich.
Exhibitionismus ist also eine Straftat, doch die eigentliche Triebfeder dahinter ist eine psychische Störung. Also alles einfach nur kranke Typen? Der Impuls liegt nahe, den Täter durch solche Aussagen kleinzumachen. Nur macht das einen als Opfer nicht unbedingt grösser.
Einige haben eine Beziehungsabsicht. Doch allein schon die Vorstellung, mich in einen Penis zu verlieben, ist absurd
Im Internet suche ich nach Leidensgenossinnen – lande letztlich aber bei den Tätern. Bei Männern, die jeden Erfahrungsbericht mit dem Hinweis kommentieren, dass sie eigentlich ganz nette Kerle seien. In Deutschland findet sich eine Selbsthilfegruppe, die sich für die gesellschaftliche Akzeptanz von Exhibitionisten einsetzt. Auf ihrer Internetpräsenz www.zeigen-verboten.de finden sich Aussagen wie diese: «Exhibitionismus sehe ich (…) als eine Bereicherung unserer Sexualität, eine sexuelle Präferenz wie auch Sadomasochismus. Die Probleme liegen im Grunde auf der Seite der Betrachterin. Sie kommt im Umgang mit Exhibitionisten nicht zurecht, weil sie möglicherweise infolge einer tatsächlich stattgefundenen Vergewaltigung (jedoch nie durch einen Exhibitionisten!!!) vorbelastet ist.»
Ernsthaft? Ich soll mich also einfach mal locker machen? – Ich hätte den Typen, der mir damals unter der Brücke so unerwünscht nahe kam, lieber gefragt: «Was denkst du eigentlich, wie ich das finde?» Vielleicht hätte er dann wenigstens begriffen, dass er mir mit seinem nackten Penis nicht gefiel, sondern Angst machte. «Einige Exhibitionisten haben tatsächlich eine Beziehungsabsicht», sagt Ueli Christoffel vom Kompetenzzentrum für forensische Therapie in Zürich. Als Rechtspsychologe behandelt er die Täter. «Sie zeigen den Frauen ihr Geschlechtsteil, mit der Absicht, sie zu beeindrucken. Schau her: Habe ich nicht ein tolles Ding!» Ich muss lachen, als ich das höre. Allein schon die Vorstellung, mich in einen Penis zu verlieben, ist absurd.
Es gibt keine eindeutige Ursache, warum einer zum Exhibitionisten wird. Die Täter können aus allen Gesellschaftsschichten stammen und jeden Alters sein. Aktuelle Studien, die sich dem Thema widmen, gibt es kaum. Ältere Untersuchungen zeichnen das – zuweilen etwas gar klischierte – Bild eines Täters, der keine gute Beziehung zum Vater hatte und von der Mutter verhätschelt wurde. Häufig sind Exhibitionisten früh in ihrem Leben sexuell traumatisiert worden, haben ein geringes Selbstwertgefühl und sind gleichzeitig sehr selbstkritisch. Soziale und sexuelle Beziehungen überfordern sie. Exhibitionisten nehmen die Frauen häufig als stark und überlegen wahr. Mit dem Entblössen ihres Penis wollen sie Gefühle der Scham und der eigenen Unzulänglichkeit überwinden und demonstrieren den Frauen gleichzeitig ihre vermeintliche Potenz, ihre Männlichkeit – und erregen sich dann am Schreck ihrer Opfer.
Exhibitionistisches Verhalten lässt sich so als eine Form passiver Aggressivität verstehen. Und – das zeigt sich auch im Internet – die Exhibitionisten reden sich das gern schön. «Dafür», sagt Ueli Christoffel, «müssen sie in der Therapie ein Bewusstsein entwickeln.» Er erzählt von einem Patienten, der bereits seit einiger Zeit bei ihm in Behandlung war. In der sogenannten Fantasiearbeit konfrontierte Christoffel ihn mit der Vorstellung, die Betroffene wäre eine Kollegin von ihm. Dem Exhibitionisten war diese Vorstellung derart unangenehm, dass die Therapie damit im Wesentlichen beendet war.
Hätte ich den Mann im Kapuzenpulli besser ausgelacht, um ihm unmittelbar vor Augen zu führen, wie lächerlich er sich im Grunde aufführte mit seiner heruntergelassenen Hose? Der Rechtspsychologe rät zur Vorsicht. Zwar kommt eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zum Schluss, dass Exhibitionisten grundsätzlich nicht daran interessiert sind, aktiv Frauen zu schaden. Doch dürfte dies nur für diejenigen Täter gelten, für die der Exhibitionismus eine dauerhafte sexuelle Präferenz darstellt. Für manche ist die Störung jedoch auch eine Art Durchgangsstadium in ihrer sexuellen Entwicklung, die sie später andere, schwerwiegendere Sexualstraftaten begehen lässt. Rechtspsychologe Ueli Christoffel sagt: «Man kann nicht voraussagen, wohin sich die Fantasie eines Täters entwickelt.»
Ich weiss nicht, wer der Mann im schwarzen Kapuzenpulli war, welchem Täterprofil er entsprach und was er genau bezwecken wollte. Hätte er mich geschlagen, wenn ich ihn provoziert hätte? Ich werde und möchte es auch nie erfahren.
Zwei Wochen nach meiner Begegnung mit ihm fuhr ich mit zwei Freundinnen in einem Taxi und erzählte ihnen die Geschichte. Der Fahrer, ein freundlicher Münchner mit grauem Haar, lauschte gebannt. Er war erschüttert, und seine Stirn legte sich in väterliche Sorgenfalten. Er wünschte uns, dass wir das nicht mehr erleben müssten. Doch ganz so ernst wollte er uns nicht in den Abend entlassen, und so schob er noch mahnend hinterher, als wir ausstiegen: «Eines sollten Sie wirklich nicht machen: Fragen Sie einen Mann, der gerade am Onanieren ist, niemals nach dem Weg.»
Sehr witzig, dachte ich. Ich hätte gern gelacht.