Leben
Ewig lockt das Leben: Freundinnen seit fünfzig Jahren
- Text: Helene Aecherli; Illustration: Jonathan Carlson
Drei Frauen, zwei Flaschen Prosecco und Geschichten, wie sie nur ein langes Leben schreibt: Apéro mit Rosette, Helga und Liliane, Freundinnen seit fünfzig Jahren.
Rosette, Helga und Liliane: drei gestandene Frauen, Freundinnen fürs Leben. Kennen gelernt haben sie sich vor mehr als fünfzig Jahren über ihre Ehemänner, die zusammen ins Gymnasium gingen. Es ist ein verschworenes Trio, jede der drei Frauen mit einem eigenen Chrättli, prall gefüllt vom Leben.
Rose-Marie Umbricht, 81, genannt Rosette, Anwältin, Vizepräsidentin der Schweizerischen Sektion der europäischen Frauenunion, Mutter zweier Kinder, zweifache Grossmutter, Witwe. Sie wird noch immer angetrieben, wie sie sagt, durch ihre fast krankhafte Neugierde; eine Tugend, die ihr als Kind viel Ärger eingebracht hatte.
Hochzeit nach sechs Monaten
Helga Kaufmann, 78, gebürtige Berlinerin, lernte ihren Mann, einen Schweizer, in Bonn kennen. Die beiden verliebten sich derart ineinander, dass sie sechs Monate später heirateten. Helga ist Pharmakauffrau, hat vier Kinder, elf Enkelkinder, einen Urenkel und gerät selbst dann nicht ins Schwitzen, wenn sie im Pfarreizentrum für neunzig Personen einen Apéro vorbereiten soll.
Liliane Hidber, 74, wollte mit zwanzig nach Kanada auswandern, um dort ein Restaurant zu eröffnen. Sie hatte das Visum schon in der Tasche, blieb dann aber in der Schweiz, heiratete und bekam drei Kinder. Inzwischen hat sie sechs Enkelkinder, das Reisefieber aber ist geblieben: Sie führt Gruppen nach Vietnam, China und Ägypten, im Oktober reist sie mit Rosette nach Äthiopien.
Prosecco und Salzgebäck
Seit einem halben Jahrhundert treffen sich die Freundinnen mal öfter, mal weniger oft. Aber immer, wenn sie zusammenkommen, ist es, als wäre das letzte Kränzchen erst gestern gewesen. Und so ist es auch heute, an diesem Spätnachmittag im März: Liliane stellt in ihrer Wohnung den Prosecco kühl. Helga und Rosette sind pünktlich, lebhaft laden sie sich Salzgebäck und Bruschette auf die Sonnenblumenteller. Auf Anhieb werden Erinnerungen an gemeinsame Abenteuer wach. «Wössed er no», sagt Helga, «als wir vor etwa dreissig Jahren in den Winterferien in Verbier waren? Da hatten wir an einem Abend Freunde eingeladen, rote Lämpchen und Räucherstäbchen angezündet, Musik von Bob Marley aufgelegt, wir machten ein Curry. Als unsere Gäste zur Tür hereinkamen, hat es in der Wohnung gerochen wie in einem hinduistischen Tempel. Sie waren total schockiert. Sie dachten, sie wären in einer Opiumhöhle gelandet.» – Rosette lacht schelmisch: «Ja, gefestet haben wir viel zusammen.»
Energisch sind die drei und attraktiv, das muss man neidlos eingestehen: die Gastgeberin in strahlendem Türkis, Rosette im beigen Deuxpièces, Helga in Hose und Fledermauspullover, ihre Gesichter keine Mahnmale des Alters, sondern Spiegel von Schmerz, Freude und Lust. Wie haben sie sich bloss so fit gehalten? Sie hätten alle noch immer eine Beschäftigung, die sie ansporne, sagt Helga. Sie seien noch immer ständig unterwegs, sagt Rosette. Und dabei noch immer aufmüpfig, sagt Liliane.
Jetzt gehorche ich nicht mehr
Sie sei freier geworden im Alter, fügt sie hinzu, ihr 50. Geburtstag war die Wende gewesen: «Da sagte ich zu meinem Mann: So, jetzt gehorche ich nicht mehr.» Helga: «Ich denke, man wird positiver im Alter. Man muss versuchen, das Leben, das man bekommen hat, so zu leben, dass man sagen kann: Ich habe es gepackt. Wichtig ist auch, sich für Veränderungen zu öffnen. Meine Mutter hat das nicht geschafft. Ich wurde in ihren Augen nie erwachsen. Noch als ich 56 war, sagte sie zu mir: ‹Kind, wir gehen aus dem Haus. Hast du die Zähne geputzt?›»
Rosette: «Es gibt schon Sachen, die mich heute mopsen: Als ich vor kurzem in Brüssel war, habe ich für meine Kinder und Enkel Schokolade und Bücher gepostet, und plötzlich war der Koffer so schwer, dass ich ihn kaum mehr tragen konnte. Ich musste mich nach einem netten jungen Herrn umsehen, der mir helfen konnte. Vor fünf Jahren hätte ich den Koffer noch spielend geschleppt.» Helga: «Ehrlich gesagt, ich war mit vierzig auf meinem Höhepunkt. Mein Vater schrieb mir damals zum Geburtstag: ‹Nach menschlichem Ermessen hast du jetzt den Zenit deines Lebens erreicht.› Ich fand das eine Unverschämtheit. Aber wenn ich jetzt zurückschaue, muss ich sagen: Er hatte recht.»
Chinesisch lernen und Kunstgeschichte studieren
Liliane: «Findest du? Ab 45 ist es für mich vorwärtsgegangen. Da waren die Kinder älter, ich musste nicht mehr ständig zuhause sein bei Babys, die umechosled, so lässig die auch sind. Ich konnte Chinesisch lernen, Kunstgeschichte studieren. Das habe ich genossen. Bei mir ist der Zenit lange geblieben. Ich vergesse, dass ich bald 75 bin.» Helga: «Was mich beschäftigt, ist der Verlust von vielen Freunden. Ich finde, das Leben ist oft wie ein Mosaikbild, das auseinanderbricht, bevor es fertig wird. Das Schlimmste aber ist, die eigenen Kinder zu beerdigen. Unser ältester Enkel starb an Leukämie, unsere älteste Tochter an Brustkrebs. Über einen solchen Verlust kommt man nie hinweg. Man kann nur lernen, damit zu leben.»
Der Wille, stets füreinander da zu sein, gegenseitiges Verständnis, Spontaneität und Offenheit – dies, sagen die Damen, sind die Grundpfeiler ihrer Freundschaft. Fragt man sie, was sie besonders aneinander mögen, hört es sich so an: Liliane schätzt Rosettes berufliche Unabhängigkeit und Helgas Hilfsbereitschaft. Rosette schätzt Lilianes Organisationstalent und Helgas Humor, und Helga wiederum schätzt Lilianes Temperament und Rosettes feministisches Selbstverständnis, das für sie als Deutsche, die damals durch die Heirat mit einem Schweizer das deutsche Wahlrecht verlor, eine wichtige Stütze war.
Jesses, die armen Kinder!
Rosette hatte sich vor der Heirat ausbedungen, trotz Kindern berufstätig zu sein. Später machte sie die Anwaltsprüfung. «Ich weiss noch», sagt sie, «wie meine Schwiegermutter zwei Tage nach dem Examen zum Essen kam und fand: ‹Rosette will arbeiten? Jesses, die armen Kinder!›. Meine Mutter aber hatte mir stets gesagt: ‹Ob man morgen noch Geld hat, weiss man nie. Doch was man gelernt hat, das hat man für immer›.» «Darauf stossen wir an!», ruft Liliane.
Sie holt die zweite Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank, füllt die Gläser. Das Salzgebäck ist längst aufgegessen, in der Bratpfanne liegen dicke St. Galler Bratwürste bereit. «Hab ich euch das schon erzählt?», fragt Helga. «Meine Enkelin hat verkündet, dass sie mit ihrem Freund zusammenzieht. Find ich toll. Zu unserer Zeit wäre das undenkbar gewesen. Ich als Frau hätte an Wert verloren, wenn ich vor der Ehe Sex gehabt hätte.» Liliane: «Ich weiss noch, ich war knapp 18 und hatte einen Freund. Eines Abends wollte ich mit ihm ins Kino, da hat mich mein Vater aus dem Auto gezerrt. Eine anständige Frau macht das nicht, hiess es. Wenn herauskommt, dass du mit einem Mann ins Kino gehst, bekommst du nie mehr einen.»
Wir tanzten wie die Wilden
Helga: «Ich musste noch mit zwanzig um 22 Uhr zuhause sein. Wurde es später, legte mein Vater den Riegel vor. Ich musste läuten und bekam dann eine rechte Standpauke.» Rosette: «Meine Mutter bestand nur darauf, dass ich sagte, mit wem ich wohin ging.» Liliane «Man ging nicht einfach so miteinander ins Bett. Man musste wissen, ob man den Mann heiraten könnte, bevor man mit ihm ins Bett gehen würde. Sonst: Hände weg.» Helga: «Selbst nachdem Willy mir einen Heiratsantrag gemacht hatte, begnügten wir uns mit Petting.» Liliane: «Dafür passierte alles in der Hochzeitsnacht. Die war sensationell. Wir hatten so viel Energie. Dabei war unsere Hochzeit extrem anstrengend: Die Gäste kamen um neun Uhr früh. Der Champagner floss, wir hatten es sauglatt und vergassen fast, dass wir getraut werden sollten. Mein Mann und ich tanzten wie die Wilden und tranken so viel, dass wir nicht mehr nervös waren. Er hat sich dann sehr geschickt angestellt.»
Helga: «Wir dachten nach der Hochzeit gar nicht so sehr an den Sex, sondern freuten uns darauf, endlich mal allein zu sein.» Rosette: «Ich war an meiner Hochzeit völlig aus dem Konzept. Am Apéro sagten Freunde meiner Schwiegereltern zu mir: ‹Sie haben es gut: Ihr Ehemann hat zuhause mitgeholfen. Der kann alles.› Mir kamen fast die Tränen. Da ich studiert hatte, musste ich nie viel im Haushalt machen. Erst kurz vor der Hochzeit lernte ich, wie man Kaffee kocht und ein Poulet brät. Also dachte ich: Ich kann gar nichts. Ich war so nervös, dass ich fast nur Wasser trank. Nach diesem Riesendämpfer zu sagen, dass ich die Hochzeitsnacht als sehr schön empfand, ist doch etwas zu viel.»
Seit 56 Jahren verheiratet
Rosettes Mann starb im Alter von 71 Jahren an Krebs. Liliane verlor ihren Mann an einer unheilbaren Erkrankung. Helga und Willy haben einander noch. Inzwischen sind sie seit 56 Jahren verheiratet. Und noch immer Turteltäubchen, wie Liliane bemerkt. Wie sie das geschafft haben? «Das war auch Glückssache», sagt Helga. Aber sie sässen abends kaum vor dem Fernseher, sondern kochen jeweils zusammen, «schnätzeln im Teamwork».Gestern gabs Kalbskopfbäggli mit Estragon.
Das Chrättli, das so voll ist mit Leben. Wieviel da wohl noch rein passt? Als diese Frage kommt, tut dies der Heiterkeit der Damen keinen Abbruch. Liliane: «Ich denke viel ans Sterben. Aber nicht der Tod stresst mich, sondern die Vorstellung, dass die Kinder nach meinem Tod aufräumen müssen. Gott sei Dank hat mir meine Schwiegertochter kürzlich gesagt: ‹Liliane, lass alles so, wie es ist. Wir werden uns dann voller Freude ansehen, mit welchen Sachen du gelebt hast.›»
Danach macht ein Riesenfest
Helga: «Unsere elf Enkelkinder streiten sich schon jetzt um unsere beiden Ledersessel. Letzthin verkündete meine fünfte Enkelin: ‹Ich steige aus der Streiterei aus, dafür nehme ich Grannys Kücheneinrichtung.›» Liliane: «Ich will einfach nicht debil sterben. Ich habe eine Patientenverfügung gemacht und auch den Kindern gesagt: Lasst mich nicht an einer Wiederbelebungsmaschine hängen, sondern lasst mich gehen. Dann weint bitte wie verrückt an meinem Grab – und danach macht ein Riesenfest!»