Werbung
«Es ist meine Aufgabe, die Wahrheit zu sagen»

Leben

«Es ist meine Aufgabe, die Wahrheit zu sagen»

  • Interview: Kerstin Hasse; Foto: Filmcoopi

In ihrem neuesten Film «Capharnaüm» zeigt Regisseurin Nadine Labaki das Schicksal von verarmten Kindern im Libanon. Das verstört – und rüttelt auf. Wir haben mit der Regisseurin über ihren bewegenden Film gesprochen.

annabelle: Nadine Labaki, in Ihrem Film verklagt der zwölfjährige Zain seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt brachten. Es gibt eine Szene, in der man hört, wie er – eingesperrt im Jugendgefängnis – am Telefon sagt: «Das Leben ist scheisse». Diese Worte von einem kleinen Bub zu hören, das tut weh.
Nadine Labaki: Es ist meine Aufgabe, die Wahrheit zu sagen. Egal, was das heisst oder wie schmerzhaft diese Wahrheit ist. Ich habe vier Jahre lang für diesen Film recherchiert. Ich habe ein Netzwerk aufgebaut in ganz Libanon, wir hatten Kontakt mit NGOs, die mit Kindern in Haftanstalten zusammenarbeiten, wir besuchten Gefängnisse für Minderjährige und ich verbrachte Stunden in Gerichtssälen. Ich redete mit zahlreichen Kindern, die ein Leben führen wie Zain. Sie leben am Rand der Gesellschaft, verarmt und vernachlässigt. Jede Befragung endete mit der Frage: Bist du glücklich, am Leben zu sein?

Was antworteten die Kinder?
99 Prozent der Kinder antworteten mit einem Nein. Und 99 Prozent der Kinder sagten Dinge wie: Ich bin ein Insekt, ein Tier, ich bin ein Nichts. Ich weiss nicht, warum ich auf dieser Welt bin. Ich wünschte, ich wäre tot. Das Leben ist scheisse. Die Worte, die Zain sagt, sind nicht meine Worte, sondern seine. Wir haben dieses Telefongespräch inszeniert, aber wir liessen ihn reden.

Zain ist kein Schauspieler, sondern ein kleiner Junge, der ein ähnliches Leben wie seine Filmfigur führte.
Ja, Zain ist ein syrischer Flüchtling. Er war noch nie in der Schule, er hat alles, was er kann, auf der Strasse gelernt. Da hat er sehr viele Sachen gesehen: Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigungen … Man sieht in seinen Augen, was er schon alles mit anschauen musste. Er ist kein Kind mehr, ebenso wenig wie all die anderen Kinder und Jugendlichen, die in diesen Slums oder auf der Strasse leben. Diese Kinder wissen nicht einmal, wie alt sie sind.

Wie ist das möglich?
Sie haben keine Ahnung, wann ihr Geburtstag ist, das wusste kein Kind, das ich interviewte. Niemand hat ihnen je gesagt, wann sie auf die Welt gekommen sind. Das Einzige, was sie wissen ist, dass die Mutter mal erwähnte, dass es damals regnete oder sie während des Ramadans geboren wurden. Niemand hat ihnen aber je gesagt, dass sie wichtig sind und es schön ist, dass es sie gibt. Diese Kinder durften nie ihre Existenz feiern.

Das ist eine furchtbare Vorstellung.
Ja. Diese Kinder fühlen sich wie ein Objekt. Sie kommen auf die Welt und das bekommt niemand mit. Sie sind unsichtbar, denn ihre Geburt wird nirgends registriert, niemand weiss, dass sie existieren, niemand bemerkt, wenn sie verschwinden. Sie sterben wegen dummer Zwischenfälle, Unfälle, die die Eltern verhindern sollten: Kinder fallen vom Dach oder halten die Hand an offene, elektrische Leitungen. Sie sterben durch Vernachlässigung. Andere Kinder sind wiederum innerlich komplett taub geworden. Ich habe Kinder beobachtet, die drei Jahre alt sind und vor lauter innerlicher Taubheit nicht wissen, wie man mit einem Spielzeug spielt. Sie wissen nicht, wie man spricht oder lacht oder weint. Und das sind nicht fünf oder zehn Kinder, die betroffen sind, sondern Tausende. Viele davon sind wütend. Also sollten wir nicht überrascht sein, wenn wir sehen, dass es Terrorismus auf dieser Welt gibt. Wenn wir sehen, dass Männer sich selbst in die Luft sprengen. Das sind Menschen, die wütend sind. Wütend auf uns, auf die Gesellschaft, auf das System.

Die Unterdrückung der Frau ist auch ein grosses Thema des Films. So wird etwa Sahar, die Schwester von Zain – eben erst zur Frau geworden –, verheiratet. Haben Sie diese Unterdrückung in Ihrer Kindheit und Jugend gespürt?
Ich habe nie solche Schwierigkeiten erlebt. In solcher Unterdrückung befinden sich nicht alle Frauen im Libanon, es kommt darauf an, woher man kommt, aus welcher Gesellschaftsschicht man stammt, welche Ausbildung man hat und welche Religion. Man fühlt jedoch, sowohl als Mann als auch als Frau, einen gewissen Druck. Druck von der Familie, von der Gemeinde und der Gesellschaft. Ich finde, viele Regeln, Traditionen und Erwartungen müssen überdacht werden, weil sie nicht mehr zeitgemäss sind. Es gibt dieses Sprichwort bei uns: Menschen werden geboren wie Schmetterlinge, aber sie sterben als Raupen, weil die Gesellschaft sie durch all die Regeln wieder klein macht.

Sie sind im Libanon in einem Kriegsumfeld aufgewachsen. Hat das Ihren Blick aufs Frausein geprägt?
Ich denke, im Krieg zu leben und mit dem Tod konfrontiert zu sein, macht einen stärker. Man ist umgeben von Frauen, die Kinder, Brüder und Männer verloren haben. Man beobachtet ihre Resilienz, ihre Stärke und wie sie ihr Leben weiterführen, wie sie jeden Morgen aufwachen und leben. Sie leben vielleicht in Schwarz, weil sie ein Kind verloren haben und nur noch Schwarz tragen, aber sie leben. Sie sind stark, sie haben einen Willen. Das war für mich immer ein grosses Vorbild. Vielleicht bin auch ich deshalb belastbar und stark, denn ich hatte immer starke Frauen um mich herum. Und das geht nicht nur mir so: Jede einzelne Familie im Libanon hat ein Drama, das mit dem Krieg zusammenhängt. Da ist viel Trauer, aber eben auch viel Stärke, denn wir haben überlebt und wir leben weiter – trotz allem. 

Sie zeigen, wie trostlos das Leben dieser Kinder ist und bilden damit leider die Lebensrealität vieler Familien ab. Wie reagierte das Publikum in Ihrem Heimatland auf diesen Film?
Die Leute im Libanon sind schockiert, aber es ist eine positive Art des Schocks. Ich habe erwartet, dass es mehr Diskussionen gibt, weil sich die Leute diese Realität nicht anschauen wollen. Man will ja nicht den Spiegel vorgehalten bekommen. Die Leute sehen diese Kinder ja auf der Strasse, sie wissen, dass es sie gibt. Doch das Schöne ist: Sie wollen nicht mehr alle wegschauen, sondern etwas ändern. So haben sich zum Beispiel der Aussenminister und der Premierminister auf Twitter zum Thema geäussert oder mich kontaktiert. Sie sagten mir: Wir müssen etwas tun. Und genau das haben wir vor. Wir organisieren etwa mit der Unicef eine Filmvorführung für die Entscheidungsträger und wir wollen die NGOs, die mit diesen Kindern zusammenarbeiten, mit diesen Entscheidungsträgern konfrontieren.

Sie haben mal gesagt, dass für Sie ein Kinofilm eine Mission haben muss. Filme zu machen ist also ein politischer Akt für Sie?
Der Schmerz dieser Kinder, Frauen und Männer zu zeigen, das war meine Aufgabe. Ich bin ein Mensch auf dieser Welt, in der nichts so verläuft, wie es sollte. Und als Mensch bin ich mitverantwortlich für das, was auf dieser Welt passiert. Ich will versuchen, einen Einfluss auf die Gesellschaft zu haben, ich muss wissen, dass ich etwas verändern kann. Ich glaube an die Macht der Leute, an die Macht des Einzelnen. Es gibt Menschen, die versuchen, diese Macht zu brechen, die sagen: Du bist naiv, du allein kannst nichts verändern. Ich hoffe sehr, dass dieser Zynismus und dieser Fatalismus mich nie erreichen. Ich will positiv bleiben und glauben, dass jeder von uns einen Einfluss hat und für einen Wandel sorgen kann.

Einen Einfluss auf das Leben des echten Zains hatten Sie auf jeden Fall.
Ja, und das macht mich sehr glücklich. Er lebt nun in Norwegen mit seiner Familie. Er darf zum ersten Mal in seinem Leben zur Schule gehen. Wir versuchen, nun allen betroffenen Familien aus dem Film zu helfen. Keines der Kinder soll mehr auf der Strasse leben.

Ihr Film wurde ins Oscar-Rennen geschickt. Was würde Ihnen diese Auszeichnung bedeuten?
Das würde bedeuten, dass ein noch grösserer Scheinwerfer auf dieses Thema gerichtet wird. Ich könnte noch mehr bewegen, das würde mich sehr glücklich machen.

 

Capharnaüm

Zain ist ein kleiner Junge, der verzweifelt versucht, seine Eltern davon abzubringen, seine jüngere Schwester Sahar an den Hausvermieter zu verkaufen. Als das doch passiert, flüchtet er von zuhause. Wochen und zahllose dramatische Erlebnisse später sitzt er im Jugendgefängnis und entscheidet, dass er seine Eltern verklagen will. Denn, so seine Meinung, er hätte nie auf die Welt kommen dürfen. Die Regisseurin Nadine Labaki arbeitet fast ausschliesslich mit Laien, die vor ähnlichen Problemen im Leben standen wie die Figuren, die sie darstellen. Der Film läuft in den Schweizer Kinos.

 

Werbung

1.

Der Film «Capharnaüm» erzählt die Geschichte von Zain, einem kleinen Jungen, der sein Elternhaus verlässt, nachdem seine Schwester zwangsverheiratet wurde.