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«Es ist ja nicht so, dass wir Erwachsenen es im Griff hätten»

«Es ist ja nicht so, dass wir Erwachsenen es im Griff hätten»

  • Interview: Stephanie Hess

Die Psychologin Sandra Cortesi erforscht in Harvard, wie sich Jugendliche im Internet bewegen. Und versucht Antwort auf eine der grössten Fragen unserer Gesellschaft zu finden: Wie gelingt die Balance zwischen off- und online?

annabelle: Ich kontaktiere Sie per Skype in Ihrem Büro der amerikanischen Universität Harvard. Wären wir Teenager, welchen Kommunikationskanal würden wir für dieses Interview wählen?
Sandra Cortesi: Puh, gute Frage. Auf der Privatheitsskala von Jugendlichen steht das persönliche Gespräch am Telefon oder über Skype eigentlich zuoberst, ist demnach die intimste Form der Kommunikation und für ein Gespräch mit jemandem, den man noch nicht kennt, nicht die erste Wahl. Vermutlich würden wir also eher Whatsapp-Nachrichten hin- und herschicken.

Läuft Kommunikation heute generell stärker über das geschriebene als über das gesprochene Wort?
Es ist schon etwas komplizierter. Es werden in der Tat mehr Nachrichten verschickt, als Anrufe getätigt, darunter befinden sich aber ebenso Bilder, Videos, Memes (mit Text versehene Motive, Anm. d. Red.) oder Sprachnachrichten. Letzteres wäre vielleicht auch ein Weg, den wir als Teenager für ein Interview wählen würden.

Wie muss man sich das digitale Leben eines jungen Menschen heute vorstellen?
Vor einem Jahr habe ich für einen Vortrag in Luzern eine 16-jährige Schweizerin gefragt, ob sie mir ihr Mediennutzungsverhalten eines beliebigen Tages beschreiben kann. Sie sagte: «Ein ganzer Tag? Ich gebe dir mal eine Stunde.»

Und wie sieht diese aus?
Sie wacht auf, blickt aufs Handy, um den Wecker auszuschalten. Sie liest die sieben Messages, die auf Snapchat eingegangen sind, und die 146 neuen Whatsapp-Nachrichten. Sie sieht, dass sie 69 Likes für einen Instagram-Post vom Vorabend erhalten hat. Dann checkt sie online die Abfahrtszeiten des Busses, der sie zur Schule bringt, und klickt die Wetter-App an. Sie geht unter die Dusche, frühstückt, dazwischen öffnet sie nochmals Whatsapp. Auf dem Weg zur Bushaltestelle checkt sie, was ihre aktuell liebsten Youtube-Stars gepostet haben. Wenn keine Gratis-Zeitung mehr in der Box liegt, öffnet sie eine Zeitungsapp, hört Spotify und beantwortet wiederum Whatsapp-Nachrichten.

Da packt einen als offline aufgewachsene Person das kalte Grauen. Wie schaffen es Jugendliche, nicht zu zerbröseln ob all der Infos, die auf sie einprasseln?
Die Intensität, wie wir sie wohl alle von unseren Teenagerjahren kennen, pulsiert nun mal an allen Treffpunkten, an denen junge Leute zusammenkommen, also heutzutage auch auf den digitalen Plätzen.

Nicht mehr nur am Samstagabend am See, im Jugi oder auf dem Bänkli bei der Post …
… oder in den zwei Stunden, die man nach der Schule noch am Telefon hing, um mit der besten Freundin alles zu besprechen. Das wirklich Neue am Medienverhalten ist, dass Jugendliche gleichzeitig mehrere Platt- formen miteinander nutzen.

Das Parfum, der warme Blick, die Bartstoppeln an den Wangen – geht über die digitale Kommunikation nicht die Sinnlichkeit verloren, die auch zentral für die zwischenmenschliche Kommunikation ist?
Es ist nicht so, dass sich Jugendliche nur in virtuellen Welten aufhalten. Wir beobachten in der Schweiz einen Zurück-zur-Natur-Trend; junge Leute gehen wandern oder gemeinsam zelten. Emotionale Nähe lässt sich im Übrigen auch über Social Media aufbauen.

Inwiefern?
Wenn man sich als Teenager anders identifiziert als sein Umfeld, wenn man beispielsweise homosexuell ist oder eine andere politische Haltung vertritt, dann öffnet die digitale Welt eine wichtige Zusatzoption. Dort können sie sich mit Gleichgesinnten austauschen. Es entsteht eine emotionale Nähe, wie sie im physischen Alltag weniger möglich ist. Es gibt Studien im Bereich Virtual Reality, die besagen, dass durch virtuelle Nähe mehr Empathie für andere Menschen ausgelöst werden kann.

Wie werden es junge Menschen schaffen, den Blick auch mal vom Display zu lösen?
Es wird die grosse Herausforderung für uns alle sein, eine Balance zu finden. Es ist ja nicht unbedingt so, dass wir Erwachsenen es im Griff hätten. Darum finde ich es schwierig, wenn wir den Handykonsum Jugendlicher kritisieren. Wenn ich eine App installiere, die zählt, wie oft wir das Handy pro Tag aufnehmen, dann unterscheidet sich mein Verhalten mit 55 Mal pro Tag nicht besonders von dem eines Jugendlichen.

Sind wir alle süchtig nach unserem Handy?
Mir geht der Suchtbegriff zu weit. Es gibt Klassifikationssysteme, die Sucht definieren. Ein Faktor dafür ist, dass man wichtige soziale, schulische oder freizeitliche Aktivitäten aufgibt oder einschränkt. Das Verhalten, das wir landläufig handysüchtig nennen, erfüllt diese Vorgaben meistens nicht. In den USA sprechen wir deshalb eher von «problematic interactive media use», also von problematischer Mediennutzung.

Wie findet man denn einen gesunden Umgang mit dem Smartphone?
Innerhalb der Familie kann man gewisse Praktiken einführen. Beispielsweise legen alle ihr Handy jeden zweiten Abend weg. Und einmal pro Woche gibt es einen Abend, an dem alle einander die Dinge zeigen, die sie übers Handy entdeckt haben. Oder: Alle zwei Wochen geht die ganze Familie in die Natur. Und einmal pro Monat veranstaltet man ein Turnier zuhause an der Spielkonsole. Wichtig ist, dass man aufeinander zugeht und nicht von oben herab Regeln auferlegt, denen man am Ende selber nicht nachkommt.

Wie können wir als Gesellschaft langfristig eine gute Balance zwischen off- und online finden?
Daran müssen wir alle arbeiten – und uns bewusst machen, welche Einflussfaktoren darauf einwirken.

Welche sind das?
Da ist einmal die gesellschaftliche Ebene, vor deren Hintergrund wir uns überlegen müssen: Wollen wir im öffentlichen Raum Offline-Oasen schaffen – Orte der Ruhe und Besinnlichkeit? Oder legen wir Wi-Fi-Pärke an, in denen sich alle Generationen bewegen und voneinander lernen? Auf politischer Ebene existieren Regulierungsmöglichkeiten über Gesetze und Verordnungen. Da stellen sich Fragen wie: Will man Schulen hyperdigitalisieren? In welchem Rahmen will man selbstfahrende Autos erlauben? Und auf der wirtschaftlichen Ebene sind es oft die Tech-Firmen, die mit ihren Produkten die Entwicklung vorantreiben und lenken – und die Designentscheidungen fällen, die ganz konkret beeinflussen, wie schwer oder leicht es uns fällt, eine Balance zwischen off- und online zu finden.

Technologie ist komplex, für Menschen ohne spezifisches Faible fast undurchdringlich. Darf man denn nicht auch sagen: Ich muss da nicht mehr mitmachen?
Ich kann Ihnen versprechen: Die Technologie wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch komplexer werden und noch stärker unseren Alltag durchdringen. Daher fände ich es ziemlich fahrlässig, wenn man bereits als junger bis mittelalterlicher Erwachsener eine total ablehnende Haltung entwickelt.

Es könnte auch beruflich schwierig werden?
Ja, man muss bedenken, dass die heutigen Jungen in wenigen Jahren zu unseren Konkurrenten, zu unseren Konsumenten, zu unseren Arbeitskollegen werden.

Wie stark wird die Mediennutzung der heutigen Jugendlichen ihr Leben als Erwachsene beeinflussen?
Das ist schwierig zu prophezeien. Aber ich glaube, sie werden einen leichteren Zugang zur Welt und ein grösseres Wissen insgesamt haben. Über Instagram und Youtube kann man sich einfacher ein Bild machen, sich Kenntnisse aneignen, Erkenntnis finden. Man kann sich natürlich fragen, wie tief das am Ende reicht. Aber als ich ein Teenager war, wusste ich nicht, wie viel Plastik im Meer schwimmt oder wie Bangkok aussieht.

Instagram und Snapchat sind die beliebtesten Social- Media-Plattformen bei Jugendlichen, aus deren Interessen oft Trends für die ganze Gesellschaft abgelesen werden können. Was ist das nächste grosse Ding?
Ich kann es leider nicht sagen. Was ich aber beobachte, ist eine Art Grundverschiebung bei US-Jugendlichen. Sie sehen, was im Land politisch abläuft, welchen Einfluss das auf die Gesellschaft hier hat, und das wirkt sich wiederum auf ihre eigene Identität aus. Aktuell ändert sich deshalb an den Plattformen noch nicht viel. Aber es ändert sich, wie die Jugendlichen sie nutzen.

Wie?
Ich merke, dass viele Jugendliche in den USA aktivistischer denken.

Also genau das Gegenteil von dem, was gemeinhin angenommen wird: Dass die Jugend durch den intensiven Medienkonsum abstumpft.
Es ist selbstredend nicht so, dass sich alle in Vollblut- Aktivisten verwandeln. Auf einer tiefen Aktivismusstufe allerdings äussern viele Jugendliche ihre Besorgnis, ihre Ängste. Auffällig ist, dass sie dies oft nicht auf ihrem eher öffentlichen Instagram-Account tun, sondern auf einem zweiten, privateren, dem weniger Freunde angeschlossen sind. Dort drücken sie stärker aus, womit sie sich identifizieren, sie posten intimere Fotos oder einen politischen Lebensspruch.

Sie leben mit Ihrem Mann und dessen zwei Teenagern zusammen. Wie handhaben Sie den Medienkonsum in der Familie?
Mein Partner und ich sind oft am Handy. Wir können also schlecht verlangen – und wollen es auch nicht –, dass die Jungen es nicht sind. Weil aber die Momente, in denen wir uns alle sehen, extrem wichtig für uns sind, versuchen wir alle, die Geräte in dieser Zeit eher wegzulegen oder nur hervorzunehmen, um uns Dinge zu zeigen.

Sie haben eine offene Haltung gegenüber den neuen Technologien. Woher nehmen Sie diese Gelassenheit?
Natürlich betrachte ich in meinem Job auch die GefahrenderneuenMedien: Onlinemobbing, Hassrede, Fake- Information, mangelnde Inklusion. Aber ich sehe mich heute vor allem als Brückenbauerin, weil viele Erwachsene voller Vorurteile gegenüber Jugendlichen sind. Ich möchte neue Aspekte in die Waagschale werfen – um besorgten Erwachsenen einen umfassenden Blickwinkel zu ermöglichen.

Sandra Cortesi (35) wurde als Kind Schweizer Eltern in Venezula geboren, wuchs in Kolumbien auf und zog mit elf Jahren mit ihren Eltern nach Teufen AR. Sie studierte Psychologie an der Universtiät Basel und begann während des Studiums, am Buch «Generation Internet» von John Palfrey und Urs Gasser mitzuarbeiten. Als Gasser nach Harvard berufen wurde, folgte sie ihm. Heute ist sie Direktorin des «Youth and Media»-Projekts am Berkman Klein Center for Internet & Society der Harvard-Universität und leitet die Zusammenarbeit des Centers mit der Unicef.

 

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