Die Generation Y will den Sinn einer Sache sehen, schreibt unsere Autorin Yvonne Eisenring. Doch was ist der Sinn dieses Lockdowns? Bananenbrot zu backen, Yoga zu machen und sich selbst zu optimieren – oder vielleicht die Prioritäten neu zu ordnen?
Die Zeit drängt, die Zeit rennt.
Klavier spielen.
Kleider ausmisten.
Reisebuch schreiben.
Roman überarbeiten.
Yoga machen.
Fenster putzen.
Portugiesisch lernen.
Meditieren üben.
Ich lege den Stift nieder und lese alles noch einmal durch. Eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Gruppendruck hat mich diese Liste schreiben lassen. Das müsse man jetzt tun, wurde mir gesagt. Struktur reinbringen. Leben ordnen. Alltag verbessern. Kurz: Die Zeit nutzen. Diese spezielle Zeit des Shutdowns. Denn durch das Homeoffice sparen wir den Arbeitsweg und Weggehen können wir auch nicht. Ich bin schon drei Wochen in Verzug, denke ich. Ich muss Gas geben. Aufholen. Aber nicht jetzt. Gleich.
Ich gehe ins Wohnzimmer, lege mich mit dem Rücken auf den Boden, winkle die Beine an und lege meinen drei Monate alten Neffen auf meine Schienbeine. Ich mache Geräusche wie ein Flugzeug und bewege die Füsse hoch und runter. Sch-sch-wumm-sch-sch. Wir fliegen. Er quietscht vor Freude. Aus seiner Sicht ist die Welt gerade traumhaft schön.
Mein Neffe lebt in der gleichen Wohnung wie ich im Kreis 4. Gewöhnlich bin ich die Hälfte des Monats weg, und wenn ich in Zürich bin, bin ich ebenfalls viel weg. Freunde treffen, Sitzungen, Ausgehen, Arbeiten. Aber jetzt bin ich hier. Bei ihm. Jetzt habe ich Zeit.
Wir haben alle Zeit. Zeit, die wir sonst nicht haben.
In meinem Freundeskreis ist nach der ersten Schockstarre ein regelrechter Zeit-Optimier-Wahn ausgebrochen. Alle wollen wir neue Menschen werden. Bessere. Schönere. Wir sind die Generation Y, ausgesprochen «Generation Why». Wir wollen den Sinn einer Sache sehen. Was soll uns diese Krise zeigen? (In erster Linie, wie unfassbar privilegiert wir sind und wie dankbar wir sein sollten, in einem Land wie der Schweiz zu leben. Aber das geben wir Millennials ungern zu.) Für die Sinnfrage ist es noch früh. Also gehen wir zu unserer zweitliebsten Frage: Wie kann man die Krise nutzen? Viele reden von Prioritäten neu setzen. Freundschaften pflegen. In der Distanz zusammenrücken. Hashtag Bettertogether. Ich werde von Personen angerufen, die sich Monate nicht mehr gemeldet haben. Es schreiben mir gar Ex-Partner, um nach Jahren reinen Tisch zu machen. Zuerst war ich erstaunt, dann irritiert, irgendwann verstand ich: Wenn wir merken, dass wir sterblich sind, wollen wir uns lebendig fühlen. Das Bewusstsein für die eigene Endlichkeit macht deutlich, dass die Zeit abläuft. Wir tun, wofür es irgendwann zu spät sein könnte. Als ich dies eingesehen habe, wollte ich schreien: Die Zeit läuft immer ab! Sie lief davor schon ab! Sie wird es auch danach tun!
Ich schrie nicht. Ich schrieb eine Liste. Weil alle eine Listen machten. Fomo («Fear of missing out») stoppt nicht an der geschlossenen Wohnungstür. Wir können zwar gerade keine Events, aber immer noch Trends verpassen. Also machen wir mit. Mache ich mit. Denn es ist nicht nur die Sterblichkeit, die wir fürchten. Was uns Angst macht, ist die Stille. Die Langeweile. Wir sind uns gewohnt, dass immer etwas passiert. Unser Smartphone piepst und pusht ununterbrochen. Wir sind ständig alarmiert. Immer beschäftigt. Und wenn nichts passiert, schauen wir Netflix. Nichts ist so «demanding» wie «Video on demand».
Jetzt haben wir Zeit – und sind überfordert. Also tun wir, was wir gewohnt sind, zu tun: Wir füllen die Zeit. Wir wollen sie ausnutzen. Das Maximum rausholen.
Aber: Sollten wir diese Zeit nicht eher nutzen, um zu überlegen, wie wir die Zeit danach nutzen wollen? Wir sollten uns fragen, warum wir ständig über Stress klagen, obwohl wir wissen, dass Stress Gift für die Gesundheit ist. Warum wir eher im Büro bleiben, statt an die frische Luft oder zum Sport zu gehen. Warum vertrösten wir Freunde, um die Deadline im Job zu schaffen und nicht umgekehrt? Warum vergessen wir Nachrichten zu beantworten, aber nie, Instagram zu checken? Warum vertagen wir den Besuch bei den Eltern? Und jammern jetzt, dass wir sie nicht sehen können?
Die Antwort ist immer die gleiche: Wir denken, wir haben noch Zeit. Jetzt ist unsere Zeit bedroht, und wir kippen ins Extreme. Es ist nicht falsch, die Zeit während des Shutdowns mit vielen Beschäftigungen zu füllen. Wer will, soll zum Super-Yogi werden, neue Diäten ausprobieren und Sprachen lernen. Es ist nicht verkehrt. Aber sind wir mal ehrlich, es ist auch ein bisschen egal, was und wie viel wir in diesen Wochen tun. Es ist eine Ausnahmesituation. So wie wir jetzt leben, werden wir nicht lang leben. Was danach kommt, dauert länger.
Ich stehe auf, lege meinen Neffen auf seine Spieldecke und gehe zum Schreibtisch zurück. Wie konnte ich mich nur anstecken lassen, denke ich und muss grinsen. Ich nehme den Kugelschreiben, streiche alles durch und schreibe eine neue Liste. Sie hat nur noch eine Zeile.
Flieger spielen.