«Es gibt keinen Fünfpunkteplan gegen dieses Chaos»
- Interview: Miriam Suter; Fotos: Filmcoopi (4), Getty Images (1)
Die jüdische Historikerin Deborah Lipstadt wurde 1996 vom englischen Holocaust-Leugner David Irving verklagt. Sie zog vor Gericht – und gewann. Nun wurde ihre Geschichte verfilmt. Wir haben mit der Amerikanerin über den Film, alternative Fakten und das Ausbrechen aus der Filterblase gesprochen.
Deborah Lipstadt sitzt in einem Zimmer im Hotel Adler im Zürcher Niederdorf, eine Tasse Schwarztee mit Milch in der Hand. Ich treffe die 70-jährige Historikerin im Rahmen der Yesh-Filmtage in Zürich, um mit ihr über die Hollywoodproduktion «Denial» zu sprechen, die die Filmtage eröffnete. Der Spielfilm dokumentiert den Gerichtsfall aus dem Jahr 1996, der als «David Irving v Penguin Books and Deborah Lipstadt» in die Geschichte einging. Deborah Lipstadt wird dabei gespielt von Rachel Weisz.
In ihrem Buch «Denying the Holocaust», das 1993 erschien, bezeichnete Lipstadt David Irving als Holocaust-Leugner. Der britische Historiker ficht diese Aussage an und klagte gegen Lipstadt und ihren Verlag Penguin Books. Da der Verlag seinen Sitz in England hat, wurde nach britischem Recht geurteilt: Lipstadt musste also beweisen, dass Irwing Unrecht hat – und der Holocaust stattgefunden hat.
Lipstadt zog mit dem englisch-jüdischen Anwalt Anthony Julius und seinem Team vor Gericht – und gewann den Fall. «Es war ein langer und anstrengender Prozess», erzählt Lipstadt. Ganze 33 Prozesstage musste sie schweigend dabei zusehen, wie Irving zu beweisen versuchte, dass es den Holocaust nicht gab. Denn Lipstadts Anwalt entschied, dass sie nicht aussagen dürfe. Damit hätte sie Irwings Aussage als wertig anerkannt. «Das wollten wir nicht. Wir wollten nicht darüber diskutieren, ob der Holocaust geschehen ist oder nicht. Wir wollten Irwings angebliche Beweise, dass er nicht passiert ist, untergraben. Und das haben wir geschafft», erzählt Lipstadt und legt den Löffel neben der Teetasse ab. Mein Interviewtermin ist einer von vielen, sie wird in den nächsten Wochen in Europa und Amerika unterwegs sein, um ihren Film zu bewerben. Ein Film, dessen Thema so aktuell ist wie schon lange nicht mehr.
annabelle.ch: Deborah Lipstadt, im Film treffen Sie zum ersten Mal auf David Irving, als Sie einen Vortrag an einer US-Universität über ihr Buch «Denying the Holocaust» halten. War das wirklich so?
Deborah Lipstadt: Ja, unser erstes Aufeinandertreffen hat sich genau so zugetragen.
Irving griff Sie frontal an und stellte Sie vor den Studierenden als Lügnerin dar. Wie hat sich das angefühlt?
Schrecklich! Ich fühlte mich wie ein Reh, das in die Scheinwerfer eines Autos sieht, kurz bevor es angefahren wird. Wie in Schockstarre.
Was ging Ihnen durch den Kopf?
Ich war total frustriert. Falls ich ihm antworte, würden die Studenten denken, es gebe zwei Meinungen, die beide als gleichwertig akzeptiert werden. Falls ich nicht antworte, stehe ich vor den Studierenden schwach da.
Später zogen Sie gegen Irving vor Gericht. Gab es Leute, die Sie davon abhalten wollten?
Oh ja. Viele versuchten, mich davon zu überzeugen, mich aussergerichtlich mit ihm zu einigen. Es sei reine Zeitverschwendung.
Wer zum Beispiel?
Akademische Gelehrte, Historikerinnen und Historiker, die sich ebenfalls mit dem Holocaust beschäftigen – also Kolleginnen und Kollegen von mir. Sie sagten: «Dieser Mann ist verrückt, niemand glaubt ihm. Verschwende nicht deine Zeit mit ihm.»
Warum haben Sie sich trotzdem dafür entschieden?
Für mich war es nie eine Frage, ob ich vor Gericht gehe oder nicht. Der Fall hatte eine ganz klare Dringlichkeit: Würde ich seine Klage nicht anfechten, würde er gewinnen. Die Konsequenz daraus wäre gewesen, dass er hätte sagen können: «Deborah Lipstadt hat mich zu Unrecht als Holocaust-Leugner bezeichnet. Ich bin keiner. Also ist meine Version des Holocaust die richtige.» Das haben die Leute, die mich vom Prozess abbringen wollten, nicht verstanden.
In einer Szene im Film gesteht Ihr Anwalt Richard Rampton, dass er im Zweiten Weltkrieg wohl einer derjenigen gewesen wäre, die in den Konzentrationslagern «mitgeholfen hätten» – aus Schwäche und Angst davor aufzubegehren.
Es ist auch heute noch eine verbreitete Einstellung: Ich hätte Widerstand geleistet. Aber man weiss nicht, wie man wirklich reagiert hätte. Ich stelle meinen Studierenden in meinen Vorlesungen folgende Frage – unter der Bedingung, dass sie sie nicht beantworten, nicht einmal für sich selbst: Stellen Sie sich vor, Sie sind Jüdin oder Jude in einem Konzentrationslager. Sie sind dort mit ihren Eltern und ihren Geschwistern, sind gut ausgebildet und lebten ein gutes Leben, bevor Sie ins Lager kamen. Und dann haben Sie die Chance zu flüchten. Flüchten Sie nicht, bedeutet das, dass Sie in Kürze nach Auschwitz gebracht werden. Flüchten Sie, bedeutet das, dass Ihre Familie mit dem nächsten Zug in Richtung Tod gefahren wird. Gehen Sie oder nicht? Was ich damit erreichen will, ist etwas, das ich bescheidenes Urteilen nenne. Seien Sie bescheiden mit Ihren Gedanken. Es ist einfach zu sagen, man hätte sich widersetzt. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Richard Ramptons Aussage war sehr ehrlich.
Der Film erhält durch die aktuelle weltpolitische Lage eine traurige Relevanz.
Das stimmt natürlich in gewisser Hinsicht. Niemand vom Filmteam hätte gedacht, dass der Film so relevant sein wird, wenn er in die Kinos kommt. Ich habe den Film kürzlich nochmals gesehen und mir gedacht: Das ist ja genau wie heute.
Schon nur das Thema «alternative Fakten».
Es gibt ein sehr gutes Synonym für diese sogenannten alternative Fakten: Lügen. Es gibt keine alternative Fakten. Die Erde ist nicht flach. Sie ist vielleicht nicht ganz rund, von mir aus können wir auch darüber diskutieren, ob sie oval ist, aber sie ist nicht flach. In unserer Gesellschaft, die sich gern liberal und offen gibt, tendieren wir manchmal zur Haltung, man könne alles diskutieren. Aber das trifft nicht auf alles zu. Bestimmte Dinge sind Fakt: Elvis ist tot, die Sklaverei war falsch, der Holocaust passierte.
Im Film werden auch Ausschnitte aus Irvings Hassreden gezeigt. Mich hat diese Szene extrem an das Auftreten heutiger rechtspopulistischer Politikerinnen und Politiker erinnert. Wie geht es Ihnen, wenn Sie heute eine solche Rede hören?
Es ist äusserst angsteinflössend. Die heute erstarkende Alternative-Right-Bewegung nutzt die gleiche Taktik wie die Holocaust-Leugner: Ein Verhalten, das früher einmal in Ordnung war, wird heute verschleiert und so wieder salonfähig gemacht. Es war einmal in Ordnung, das Wort Neger zu benutzen. Es war auch in Ordnung zu behaupten, Frauen seien weniger wert. Die Alternative-Right-Bewegung nutzt heute einfach andere Ausdrücke, die Haltung dahinter ist aber dieselbe geblieben. So wird etwa eine rassistische, sexistische Haltung plötzlich zu einer Meinung. Und in unserer offenen Gesellschaft darf man Meinungen haben. Als Meinung getarnte falsche Fakten sind aber gefährlich.
Können Sie ein Beispiel geben?
Man könnte zum Beispiel behaupten: «Ach nein, ich bin nicht gegen den Feminismus. Aber ich habe kürzlich eine Studie darüber gelesen, dass Abtreibungen Frauen deprimieren. Und darum bin ich dagegen.» Und das stimmt nicht, das wird nicht in Studien festgehalten. Niemand sagt: «Ich trinke noch kurz meinen Cappuccino und dann lasse ich schnell eine Abtreibung vornehmen.» Natürlich ist das eine unschöne Erfahrung, die deprimieren kann. Aber das wird nicht in Studien festgehalten. Und weil diese Falschinformation als Meinung getarnt wird, ist es plötzlich in Ordnung, darüber zu diskutieren, ob Frauen abtreiben dürfen oder nicht.
Warum scheinen wir uns in der Geschichte rückwärts zu bewegen anstatt nach vorn?
Es kommt immer darauf an, was man diskutiert. Brexit? Die Nato? Die EU? Das sind die grossen Themen. Und dann gibt es die kleinen, leisen Veränderungen. Es gibt viele Leute, die sich vom Wirtschaftswachstum übergangen fühlen. Und diese Leute haben seit Jahren viel Frust und Unzufriedenheit in sich. Und jetzt haben sie plötzlich Anführer. Leute mit Macht, die aussprechen, was diese frustrierten Menschen denken: Marine Le Pen, Donald Trump. Okay, Geert Wilders hat die Wahl in den Niederlanden nicht gewonnen, aber er erzielte besser Ergebnisse als erhofft.
Werden Rassismus und Antisemitismus wieder salonfähig?
Nein, das glaube ich nicht. Aber es wird wieder akzeptablere Versionen davon geben, die nicht ganz so radikal sind wie früher. Heute gibt es Softcore-Antisemitismus, Softcore-Rassismus und so weiter. Das bringt neue Herausforderungen mit sich.
Welche?
Die subtilen Diskriminierungen, die sich mehr und mehr in die Gesellschaft einschleichen, sind viel schwieriger zu bekämpfen. Ein Beispiel: Es ist einfach, den polnischen EU-Abgeordneten Korwin-Mikke, der sich extrem sexistisch über Frauen äusserte, zu demaskieren und zu bestrafen. Schwieriger wird es bei denjenigen, die sagen: «Klar, das geht gar nicht, das ist sexistisch. Aber es ist auch nicht so schlimm, dass es weniger Frauen im Parlament hat. Ich sehe da kein Problem» Weil eine solche Aussage eben als Meinung wahrgenommen wird.
Parallel zur erstarkenden Rechten erhebt sich auch die feministische Bewegung rund um den Globus wieder. Aber sie kommt sehr oft pink und lieblich daher. Ist der Feminismus wütend genug, um Gegensteuer geben zu können?
Es ist eine Frage der Haltung. Der Kampf gegen diese neue rechte Bewegung ist wie ein Krieg: Es geht nicht darum, was dir ein gutes Gefühl gibt. Es geht darum, was funktioniert. Und wenn eine Wohlfühl-Atmosphäre zu einem guten Ergebnis führt, ist das in Ordnung.
Ganz einfach gefragt: Was können wir im Alltag konkret tun?
Ich wünschte, ich hätte eine einfache Antwort auf diese Frage. Aber die gibt es nicht, es gibt keinen Fünfpunkteplan gegen dieses Chaos. Ich denke, es ist wichtig, in seiner eigenen kleinen Welt etwas zu bewegen, wenn man kann. Ich zum Beispiel bin sehr aktiv auf Facebook. Ich teile nie einen Artikel, bevor ich die Fakten und vor allem die Quellen überprüft habe. Vor ein paar Wochen habe ich auf einer Website von einer sexistischen, frauenfeindlichen Äusserung eines Mitarbeiters von Trump gelesen. Mein erster Impuls war, diesen Artikel auf Facebook zu teilen. Aber dann hielt ich kurz inne und überlegte: Wenn jemand aus Trumps Entourage wirklich so etwas gesagt hätte, dann hätte ich schon auf anderen Plattformen davon gelesen. Ich machte eine kurze Recherche und fand keinen einzigen anderen Artikel dazu. Es war also ganz klar ein Fake, und das habe ich innert Minuten herausgefunden. Mein Rat ist also: Prüfe etwas ganz genau – auch, und vor allem, wenn es deiner Meinung entspricht – bevor du es verbreitest. Das funktioniert auch umgekehrt: Wenn jemand sich empört über etwas, verlange Beweise. Ich denke, wenn die Medien schon früher angefangen hätten, von Trump konkrete Beweise für seine hetzerischen Aussagen zu fordern und sie richtigzustellen, sähe seine Situation heute anders aus.
Wie entkommen wir der eigenen Filterblase, auf Social Media zum Beispiel?
Lesen, was die Leute schreiben, die anders denken als man selbst. Zudem: Abwägen, wann es sich lohnt zu diskutieren. Es gibt Leute, die unter meinen Posts kommentieren und behaupten, ich spreche nur über den Antisemitismus von rechter politischer Gesinnung. Aber das stimmt nicht, in meinem neuen Buch geht es um Antisemitismus von linker und rechter politischer Seite. Klar, habe ich im ersten Moment das Bedürfnis, solchen Leuten zu antworten, dass sie nerven und nichts behaupten sollen, von dem sie keine Ahnung haben. Aber das bringt nichts. Ein anderes Beispiel: Es sind nicht nur rechtsextreme, ungebildete Leute, die für den Brexit gestimmt haben. Oder die Trump gewählt haben. Es waren zum Beispiel auch gebildete Frauen. Nun gilt es herauszufinden, warum das passiert ist. Was beschäftigt diese Menschen? Und dafür ist es wichtig, mit Leuten zu sprechen und Artikel zu lesen, mit denen man nicht einverstanden ist. Dann lohnt es sich zu diskutieren.
Aber diese Strategie funktioniert nicht bei allen. Manche Menschen wollen gar keine andere Sichtweise hören.
Klar. Ich diskutiere auch nicht mit den «Hater Haters», also etwa mit jemandem, der Abtreibungen grundsätzlich verbieten will. Diese Linie muss aber jede und jeder für sich ziehen.
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